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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Das russische Agrarproblem

Bauer wirtschaftet gleich dem Staate, dessen Hauptbestandteil er ausmacht,
mit chronischem Defizit. "Die Einschränkung des Trunkes und die Er¬
leichterung der Steuern könnte erst nach langen Jahren erhebliche Ersparnisse
ergeben; die umfassendsten und verzweigtesten Personalkreditorganisationen
einerseits, Absatzorganisationen für das Getreide andrerseits, genossenschaft¬
liche Erziehung des Bauern und alle ähnlichen Mittel würden erst in zwei
bis drei Dezennien wirklich bemerkbare Ergebnisse zeitigen können, und zwar
für eine durch Differenzierung zu gewinnende Elite aus der Bauernschaft.
Inzwischen aber stiege die Not ihrer sich stetig vermehrenden Masse in un¬
erhörtem Maße, zumal da der Bauer überdies durch das nicht zu hindernde
Absterben des alten Hausfleißes in stetig zunehmendem Maße auf geldwirt¬
schaftliche Bedarfsdeckung angewiesen wird, zu der er sich immer weniger
imstande zeigt. Rechnet man nun mit den heute gegebnen geschäftlichen und
ökonomischen Qualitäten des Bauern als mit einer jedenfalls nur sehr all¬
mählich umzugestaltenden gegebnen Größe, dann allerdings erscheint die Ver¬
mehrung ihres Landbesitzes um jeden Preis als die für die Gegenwart
schlechthin nicht zu umgehende Voraussetzung alles weiter", insbesondre auch
der Möglichkeit der Selbsthilfe."

Nun mehrt sich ja der Bauernacker heute schon ohne umstürzlerische
Maßregeln durch legitimen Kauf. Eine Tabelle gibt an, für wieviel Rubel
die verschiednen Bevölkerungsklassen in den Jahren 1863 bis 1892 Land ge¬
kauft und verkauft haben. Um nur die größten Posten anzuführen, so haben
die Adlichen für 638 Millionen Rubel mehr verkauft als gekauft. Dagegen
haben mehr gekauft als verkauft: Geldleute, hohe Beamte und Kaufleute um
133, Bauern (einzelne, Genossenschaften und Dorfschaften) um 242 Millionen.
Allein diese bäuerlichen Käufer zahlen so übertriebne Preise, daß der Rein¬
ertrag keine Ersparnisse ergeben kann; als Arbeiter bei Gutsherrschaften steht
sich der Bauer meistens besser als in der eignen Wirtschaft, zumal in einer
zu hoch bezahlten. Und überdies gehören die Käufer natürlich nicht der be¬
dürftigsten Schicht an, sondern der "Dorfbourgeoisie". (Wie frühere Bearbeiter
des Gegenstands sich ausgedrückt haben: der ehrsamen Zunft der Dorfwucherer,
die die Not der Mehrzahl ihrer Standesgenossen ausbeuten und dadurch
steigern.)

Also diese Art Selbsthilfe führt nicht zum Ziel; der Staat, scheint es,
muß eingreifen. Sollte aber die Regierung nicht bloß eingreifen -- dazu hat
sie schon einen Anfang gemacht --, sondern durchgreifen wollen, so würde sich
eine Reihe von Schwierigkeiten erheben, die imstande wären, die Besetzung
der maßgebenden Ministerien zu verhindern, da sich gerade einsichtige und
gewissenhafte Männer nicht leicht dazu entschließen würden, die Verantwortung
für ein so ungeheures und ungeheuerliches Werk zu übernehmen. Zunächst
entsteht die Frage, ob die Verteilung des zu konfiszierenden Landes nach der
t.mäovajll, norinn, oder "ach der potreditMimja "ormg, vor sich gehn soll.


Das russische Agrarproblem

Bauer wirtschaftet gleich dem Staate, dessen Hauptbestandteil er ausmacht,
mit chronischem Defizit. „Die Einschränkung des Trunkes und die Er¬
leichterung der Steuern könnte erst nach langen Jahren erhebliche Ersparnisse
ergeben; die umfassendsten und verzweigtesten Personalkreditorganisationen
einerseits, Absatzorganisationen für das Getreide andrerseits, genossenschaft¬
liche Erziehung des Bauern und alle ähnlichen Mittel würden erst in zwei
bis drei Dezennien wirklich bemerkbare Ergebnisse zeitigen können, und zwar
für eine durch Differenzierung zu gewinnende Elite aus der Bauernschaft.
Inzwischen aber stiege die Not ihrer sich stetig vermehrenden Masse in un¬
erhörtem Maße, zumal da der Bauer überdies durch das nicht zu hindernde
Absterben des alten Hausfleißes in stetig zunehmendem Maße auf geldwirt¬
schaftliche Bedarfsdeckung angewiesen wird, zu der er sich immer weniger
imstande zeigt. Rechnet man nun mit den heute gegebnen geschäftlichen und
ökonomischen Qualitäten des Bauern als mit einer jedenfalls nur sehr all¬
mählich umzugestaltenden gegebnen Größe, dann allerdings erscheint die Ver¬
mehrung ihres Landbesitzes um jeden Preis als die für die Gegenwart
schlechthin nicht zu umgehende Voraussetzung alles weiter», insbesondre auch
der Möglichkeit der Selbsthilfe."

Nun mehrt sich ja der Bauernacker heute schon ohne umstürzlerische
Maßregeln durch legitimen Kauf. Eine Tabelle gibt an, für wieviel Rubel
die verschiednen Bevölkerungsklassen in den Jahren 1863 bis 1892 Land ge¬
kauft und verkauft haben. Um nur die größten Posten anzuführen, so haben
die Adlichen für 638 Millionen Rubel mehr verkauft als gekauft. Dagegen
haben mehr gekauft als verkauft: Geldleute, hohe Beamte und Kaufleute um
133, Bauern (einzelne, Genossenschaften und Dorfschaften) um 242 Millionen.
Allein diese bäuerlichen Käufer zahlen so übertriebne Preise, daß der Rein¬
ertrag keine Ersparnisse ergeben kann; als Arbeiter bei Gutsherrschaften steht
sich der Bauer meistens besser als in der eignen Wirtschaft, zumal in einer
zu hoch bezahlten. Und überdies gehören die Käufer natürlich nicht der be¬
dürftigsten Schicht an, sondern der „Dorfbourgeoisie". (Wie frühere Bearbeiter
des Gegenstands sich ausgedrückt haben: der ehrsamen Zunft der Dorfwucherer,
die die Not der Mehrzahl ihrer Standesgenossen ausbeuten und dadurch
steigern.)

Also diese Art Selbsthilfe führt nicht zum Ziel; der Staat, scheint es,
muß eingreifen. Sollte aber die Regierung nicht bloß eingreifen — dazu hat
sie schon einen Anfang gemacht —, sondern durchgreifen wollen, so würde sich
eine Reihe von Schwierigkeiten erheben, die imstande wären, die Besetzung
der maßgebenden Ministerien zu verhindern, da sich gerade einsichtige und
gewissenhafte Männer nicht leicht dazu entschließen würden, die Verantwortung
für ein so ungeheures und ungeheuerliches Werk zu übernehmen. Zunächst
entsteht die Frage, ob die Verteilung des zu konfiszierenden Landes nach der
t.mäovajll, norinn, oder »ach der potreditMimja »ormg, vor sich gehn soll.


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[0398] Das russische Agrarproblem Bauer wirtschaftet gleich dem Staate, dessen Hauptbestandteil er ausmacht, mit chronischem Defizit. „Die Einschränkung des Trunkes und die Er¬ leichterung der Steuern könnte erst nach langen Jahren erhebliche Ersparnisse ergeben; die umfassendsten und verzweigtesten Personalkreditorganisationen einerseits, Absatzorganisationen für das Getreide andrerseits, genossenschaft¬ liche Erziehung des Bauern und alle ähnlichen Mittel würden erst in zwei bis drei Dezennien wirklich bemerkbare Ergebnisse zeitigen können, und zwar für eine durch Differenzierung zu gewinnende Elite aus der Bauernschaft. Inzwischen aber stiege die Not ihrer sich stetig vermehrenden Masse in un¬ erhörtem Maße, zumal da der Bauer überdies durch das nicht zu hindernde Absterben des alten Hausfleißes in stetig zunehmendem Maße auf geldwirt¬ schaftliche Bedarfsdeckung angewiesen wird, zu der er sich immer weniger imstande zeigt. Rechnet man nun mit den heute gegebnen geschäftlichen und ökonomischen Qualitäten des Bauern als mit einer jedenfalls nur sehr all¬ mählich umzugestaltenden gegebnen Größe, dann allerdings erscheint die Ver¬ mehrung ihres Landbesitzes um jeden Preis als die für die Gegenwart schlechthin nicht zu umgehende Voraussetzung alles weiter», insbesondre auch der Möglichkeit der Selbsthilfe." Nun mehrt sich ja der Bauernacker heute schon ohne umstürzlerische Maßregeln durch legitimen Kauf. Eine Tabelle gibt an, für wieviel Rubel die verschiednen Bevölkerungsklassen in den Jahren 1863 bis 1892 Land ge¬ kauft und verkauft haben. Um nur die größten Posten anzuführen, so haben die Adlichen für 638 Millionen Rubel mehr verkauft als gekauft. Dagegen haben mehr gekauft als verkauft: Geldleute, hohe Beamte und Kaufleute um 133, Bauern (einzelne, Genossenschaften und Dorfschaften) um 242 Millionen. Allein diese bäuerlichen Käufer zahlen so übertriebne Preise, daß der Rein¬ ertrag keine Ersparnisse ergeben kann; als Arbeiter bei Gutsherrschaften steht sich der Bauer meistens besser als in der eignen Wirtschaft, zumal in einer zu hoch bezahlten. Und überdies gehören die Käufer natürlich nicht der be¬ dürftigsten Schicht an, sondern der „Dorfbourgeoisie". (Wie frühere Bearbeiter des Gegenstands sich ausgedrückt haben: der ehrsamen Zunft der Dorfwucherer, die die Not der Mehrzahl ihrer Standesgenossen ausbeuten und dadurch steigern.) Also diese Art Selbsthilfe führt nicht zum Ziel; der Staat, scheint es, muß eingreifen. Sollte aber die Regierung nicht bloß eingreifen — dazu hat sie schon einen Anfang gemacht —, sondern durchgreifen wollen, so würde sich eine Reihe von Schwierigkeiten erheben, die imstande wären, die Besetzung der maßgebenden Ministerien zu verhindern, da sich gerade einsichtige und gewissenhafte Männer nicht leicht dazu entschließen würden, die Verantwortung für ein so ungeheures und ungeheuerliches Werk zu übernehmen. Zunächst entsteht die Frage, ob die Verteilung des zu konfiszierenden Landes nach der t.mäovajll, norinn, oder »ach der potreditMimja »ormg, vor sich gehn soll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/398>, abgerufen am 06.02.2025.