Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Das russische Agrarproblem da sie von einem kritischen und wohlunterrichteten Beobachter geschrieben wird. Weber geht von den Beratungen des am 5. Januar 1906 abgehaltnen Grenzboten II 1907 Ü1
Das russische Agrarproblem da sie von einem kritischen und wohlunterrichteten Beobachter geschrieben wird. Weber geht von den Beratungen des am 5. Januar 1906 abgehaltnen Grenzboten II 1907 Ü1
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302385"/> <fw type="header" place="top"> Das russische Agrarproblem</fw><lb/> <p xml:id="ID_1709" prev="#ID_1708"> da sie von einem kritischen und wohlunterrichteten Beobachter geschrieben wird.<lb/> (Sie hat in: 22. Bande begonnen und wird ohne Zweifel fortgesetzt werden.)<lb/> Für den zukünftigen Geschichtschreiber ist sie eine Quelle von unschätzbarem<lb/> Wert. Aber eben weil der gewissenhafte Chronist keins der zahlreichen Ge¬<lb/> schehnisse und keine der gepflognen Erörterungen, die nur irgend Bedeutung<lb/> hat, übergeht, wird sie außer den Historikern von Beruf wenig Leser finden.<lb/> Und doch ist zu wünschen, daß viele das Wesentliche daraus erfahren, weil<lb/> nur dessen Kenntnis ein begründetes Urteil über den weltgeschichtlichen Vor¬<lb/> gang und einige Voraussicht der Zukunft ermöglicht. Im folgenden soll<lb/> versucht werden, aus der verwirrenden Fülle von Einzelheiten das Wesentliche<lb/> in Beziehung auf die wichtigsten Fragen, die Agrarfragen, herauszuschälen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1710" next="#ID_1711"> Weber geht von den Beratungen des am 5. Januar 1906 abgehaltnen<lb/> zweiten Kongresses der Kadetten aus und dem Agrarprogramm, das sie dann<lb/> im Mai auf dem dritten Kongreß aufgestellt haben. Es traten zwei Richtungen<lb/> hervor. Die Mehrheit wollte die „Nationalisierung" des Grund und Bodens.<lb/> Es sollte durch Enteignungen ein möglichst umfangreicher Landfonds geschaffen<lb/> werden, ans dem der Staat den Bauern gegen mäßigen Pachtzins Acker an¬<lb/> weisen könne. Die Minderheit hielt die Enteignung von Privatgrundstücken<lb/> s"r gefährlich, wollte uur Domänen und Apanageland verwenden und sich im<lb/> übrigen auf unbedenkliche Reformen wie Regelung der Pachtbedingungen nud<lb/> eine progressive Grundsteuer beschränken; diese sollte der Steigerung des Boden-<lb/> Preises Einhalt tun. Eine solche ist nämlich trotz der Armut der Bauern,<lb/> dem sinkenden Getreidepreise und dem gerade im Schwarzerdegebiet sinkenden<lb/> Ertrag eingetreten als Wirkung des Landhungers, der mit dem wirklichen<lb/> Hunger zusammen das UrPhänomen, wie Goethe sagen würde, ausmacht. Die<lb/> durchschnittliche Größe der bäuerlichen Landanteile genügt bei dem herrschenden<lb/> Primitiven und extensiven Betriebe weder zur Ernährung der ganzen Familie<lb/> uoch zur Beschäftigung aller arbeitfähigen Familienmitglieder. Da überdies<lb/> uoch, wie wir schon von Wallcice erfahren haben, die wohlfeile Fabrikware<lb/> den bäuerlichen Hausflciß vernichtet hat, so liegen drei Viertel bis vier Fünftel<lb/> der Arbeitskräfte brach. Vervollkommnung der Technik durch Einführung<lb/> besserer Werkzeuge und besserer Düngung würde, wenn sie unter den heutigen<lb/> Verhältnissen möglich wäre, den Ertrag steigern, aber noch nicht den Bedarf<lb/> an Arbeitskräften erhöhen. Diese zweite Wirkung wäre erst vom Anbau ver-<lb/> schiedner Früchte und Handelsgewächse zu erwarte», die mehr Arbeit fordern<lb/> würden als der jetzt allein herrschende Getreidebau, und die außerdem den<lb/> Fruchtwechsel ermöglichen und die Bräche beseitigen würden. Doch ist es<lb/> leider fraglich, ob der Boden überall die für diese Änderung erforderliche Be¬<lb/> schaffenheit hat. Gar nicht fraglich aber, sondern gewiß ist, daß folgende<lb/> Bedingungen fehlen: ein naher Markt für Handelsgewächse, Gemüse, Obst<lb/> und dergleichen in den meisten bäuerlichen Gebieten, Kapital und als dessen<lb/> Ersatz Kreditwürdigkeit der Bauern überall. Und für die Kapitalbildung<lb/> wiederum fehlt die Grundbedingung: die Möglichkeit zu sparen. Der russische</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1907 Ü1</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0397]
Das russische Agrarproblem
da sie von einem kritischen und wohlunterrichteten Beobachter geschrieben wird.
(Sie hat in: 22. Bande begonnen und wird ohne Zweifel fortgesetzt werden.)
Für den zukünftigen Geschichtschreiber ist sie eine Quelle von unschätzbarem
Wert. Aber eben weil der gewissenhafte Chronist keins der zahlreichen Ge¬
schehnisse und keine der gepflognen Erörterungen, die nur irgend Bedeutung
hat, übergeht, wird sie außer den Historikern von Beruf wenig Leser finden.
Und doch ist zu wünschen, daß viele das Wesentliche daraus erfahren, weil
nur dessen Kenntnis ein begründetes Urteil über den weltgeschichtlichen Vor¬
gang und einige Voraussicht der Zukunft ermöglicht. Im folgenden soll
versucht werden, aus der verwirrenden Fülle von Einzelheiten das Wesentliche
in Beziehung auf die wichtigsten Fragen, die Agrarfragen, herauszuschälen.
Weber geht von den Beratungen des am 5. Januar 1906 abgehaltnen
zweiten Kongresses der Kadetten aus und dem Agrarprogramm, das sie dann
im Mai auf dem dritten Kongreß aufgestellt haben. Es traten zwei Richtungen
hervor. Die Mehrheit wollte die „Nationalisierung" des Grund und Bodens.
Es sollte durch Enteignungen ein möglichst umfangreicher Landfonds geschaffen
werden, ans dem der Staat den Bauern gegen mäßigen Pachtzins Acker an¬
weisen könne. Die Minderheit hielt die Enteignung von Privatgrundstücken
s"r gefährlich, wollte uur Domänen und Apanageland verwenden und sich im
übrigen auf unbedenkliche Reformen wie Regelung der Pachtbedingungen nud
eine progressive Grundsteuer beschränken; diese sollte der Steigerung des Boden-
Preises Einhalt tun. Eine solche ist nämlich trotz der Armut der Bauern,
dem sinkenden Getreidepreise und dem gerade im Schwarzerdegebiet sinkenden
Ertrag eingetreten als Wirkung des Landhungers, der mit dem wirklichen
Hunger zusammen das UrPhänomen, wie Goethe sagen würde, ausmacht. Die
durchschnittliche Größe der bäuerlichen Landanteile genügt bei dem herrschenden
Primitiven und extensiven Betriebe weder zur Ernährung der ganzen Familie
uoch zur Beschäftigung aller arbeitfähigen Familienmitglieder. Da überdies
uoch, wie wir schon von Wallcice erfahren haben, die wohlfeile Fabrikware
den bäuerlichen Hausflciß vernichtet hat, so liegen drei Viertel bis vier Fünftel
der Arbeitskräfte brach. Vervollkommnung der Technik durch Einführung
besserer Werkzeuge und besserer Düngung würde, wenn sie unter den heutigen
Verhältnissen möglich wäre, den Ertrag steigern, aber noch nicht den Bedarf
an Arbeitskräften erhöhen. Diese zweite Wirkung wäre erst vom Anbau ver-
schiedner Früchte und Handelsgewächse zu erwarte», die mehr Arbeit fordern
würden als der jetzt allein herrschende Getreidebau, und die außerdem den
Fruchtwechsel ermöglichen und die Bräche beseitigen würden. Doch ist es
leider fraglich, ob der Boden überall die für diese Änderung erforderliche Be¬
schaffenheit hat. Gar nicht fraglich aber, sondern gewiß ist, daß folgende
Bedingungen fehlen: ein naher Markt für Handelsgewächse, Gemüse, Obst
und dergleichen in den meisten bäuerlichen Gebieten, Kapital und als dessen
Ersatz Kreditwürdigkeit der Bauern überall. Und für die Kapitalbildung
wiederum fehlt die Grundbedingung: die Möglichkeit zu sparen. Der russische
Grenzboten II 1907 Ü1
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