Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sankt Z^vous Gericht

ihrem Bettschrank heraus und legte Alans Münze in ihren linken Schuh. Als sie
fertig gerüstet war, ergriff sie den knotigen Pilgerstab, der an einem Nagel an der
Hüllenwand aufgehängt war, und machte sich auf den Weg. Auf kaum sichtbarem
Pfad, zwischen Ginsterbüschen und Heidekraut, schritt sie über die taufeuchte, ein¬
tönige Heide hin, das Meer im Rücken, vor sich und über sich den leeren, weißen,
stillen bretonischen Himmel. Weit vorn, am Horizont, schritt eine zweite Gestalt
ebenso eilig und dieselbe Richtung einhaltend wie die alte Pilgerin. Aber Rails
Augen waren nicht so jung geblieben wie ihre Füße, und so wurde sie der voran¬
gehenden Erscheinung nicht gewahr.

Rails Gesicht hatte einen in sich gekehrten, sorgenvollen Ausdruck. Sie hinkte
ein wenig, denn die Münze im linken Schuh rieb ihr die Fußsohle wund. In den
Weilern, die sie durchwanderte, blieben die Leute stehen, um ihr neugierig "achzu¬
sehen. Ein paar Frauen, die ihren Weg kreuzten, wollten sie mit einer Frage
anhalten: Nun, Rail, mußt du wieder einmal "dorthin"? Mit einer ablehnenden
Handbewegung antwortete sie, ohne den Schritt anzuhalten: Ja, wenn die Dinge
in Unordnung geraten sind, muß sie wohl einer zurechtrücken!

Durch schattige, grünüberlaubte Hohlwege Pilgerte sie, an Kapellen und
Kalvaricnkreuzen vorüber. Aber an einer Quelle, die tief zwischen granitnen Fels¬
abhängen in enger Schlucht der Erde entquoll, machte sie halt. Sie tauchte ihre
Hand in das kalte Wasser und besprengte damit unter geheimnisvollem Murmel"
die Erde um sich herum. Als sie ihren Weg nun wieder fortsetzte, war ihr gut¬
mütiges, altes Gesicht finster und unheimlich im Ausdruck geworden, sodaß ein paar
ihr begegnender Kinder schreiend vor der "Hexe" davonliefen.

Hoch über dem Meer, auf felsiger Höhe in weltferner Einsamkeit, stand el"
kleines altersgraues Beinhnus im Schatten einiger windzerzauster Ulmen. Die
Kapelle, zu der es einst gehört hatte, war längst zerfallen, und die Heiligenstatuen,
die diese beherbergt hatte, waren von Wind und Regen gezwungen worden, sich i"
das anstoßende Beinhaus, die dauerhafte Gruft eines alten bretonischen Adelsgeschlechts,
SU flüchten. Dieses seltsame Bethaus war das Ziel der Pilgerin. Hier wohnte
Se. Yvon-ar-Wirionez, und nur hier, nicht in seiner schönen Kirche des Minihi
erteilte er Audienz in schwierigen Rechtsfragen, wie die erfahrne Rail wohl wußte.

Altmodische Gebete murmelnd betrat sie das Bethaus. Ein modriger, bläulicher
Dunst lagerte in der einstigen Grabkammer, in die ein schmaler Mauerspalt einen
Streifen fahlen Tageslichts einfallen ließ. Im Hintergrund erhob sich ein steinerner
Mtar. auf dessen nackter Tischplatte eine Anzahl alter, heimatlos gewordner He ligen-
statuen aufgereiht standen. Schulter an Schulter gelehnt und sich so gegenseitig am
Umfallen hindernd. Aber Rail hatte nicht Wort noch Blick übrig für diese kleine"
Leute", die mit ihren großen, gutmütig grinsenden, von krausem Kopf- und Bart¬
haar umrahmten Gesichtern den lebendigen und unheiligen Fischern des Landes
drollig ähnlich sahen. Sie wandte ihr runzliges Hexenantlitz einem lebensgroßen
hölzernen Heiligenbild zu, das einsam in einer Seitennische stand. Es galt als das
^nzig getreue Bildnis des heilig gesprochnen Rechtsgelehrten, der einst in der
benachbarten Stadt Treguier seines schiedsrichterlichen Amtes mit salomoichcher
Weisheit gewaltet hatte. Der hölzerne Leib dieses Bildes war vom Alter zerfressen
und versteckt, und nur das Gesicht wies noch einen verblichnen Rest der ursprüng¬
lichen Bemalung auf. Bleich wie das Gesicht eines Leichnams leuchtete es aus dem
Dunkel heraus

Rail bückte den müden Rücken, holte Alans Münze aus dem Schuh und legte
sie mit sorgfältiger Hand in eine Gewandfalte des Heiligen. Dann schürzte sie ihre
Röcke, und die magern bloßen Knie auf den feuchten Boden gedrückt, begann sie


Grenzboten II 1907
Sankt Z^vous Gericht

ihrem Bettschrank heraus und legte Alans Münze in ihren linken Schuh. Als sie
fertig gerüstet war, ergriff sie den knotigen Pilgerstab, der an einem Nagel an der
Hüllenwand aufgehängt war, und machte sich auf den Weg. Auf kaum sichtbarem
Pfad, zwischen Ginsterbüschen und Heidekraut, schritt sie über die taufeuchte, ein¬
tönige Heide hin, das Meer im Rücken, vor sich und über sich den leeren, weißen,
stillen bretonischen Himmel. Weit vorn, am Horizont, schritt eine zweite Gestalt
ebenso eilig und dieselbe Richtung einhaltend wie die alte Pilgerin. Aber Rails
Augen waren nicht so jung geblieben wie ihre Füße, und so wurde sie der voran¬
gehenden Erscheinung nicht gewahr.

Rails Gesicht hatte einen in sich gekehrten, sorgenvollen Ausdruck. Sie hinkte
ein wenig, denn die Münze im linken Schuh rieb ihr die Fußsohle wund. In den
Weilern, die sie durchwanderte, blieben die Leute stehen, um ihr neugierig «achzu¬
sehen. Ein paar Frauen, die ihren Weg kreuzten, wollten sie mit einer Frage
anhalten: Nun, Rail, mußt du wieder einmal „dorthin"? Mit einer ablehnenden
Handbewegung antwortete sie, ohne den Schritt anzuhalten: Ja, wenn die Dinge
in Unordnung geraten sind, muß sie wohl einer zurechtrücken!

Durch schattige, grünüberlaubte Hohlwege Pilgerte sie, an Kapellen und
Kalvaricnkreuzen vorüber. Aber an einer Quelle, die tief zwischen granitnen Fels¬
abhängen in enger Schlucht der Erde entquoll, machte sie halt. Sie tauchte ihre
Hand in das kalte Wasser und besprengte damit unter geheimnisvollem Murmel«
die Erde um sich herum. Als sie ihren Weg nun wieder fortsetzte, war ihr gut¬
mütiges, altes Gesicht finster und unheimlich im Ausdruck geworden, sodaß ein paar
ihr begegnender Kinder schreiend vor der „Hexe" davonliefen.

Hoch über dem Meer, auf felsiger Höhe in weltferner Einsamkeit, stand el«
kleines altersgraues Beinhnus im Schatten einiger windzerzauster Ulmen. Die
Kapelle, zu der es einst gehört hatte, war längst zerfallen, und die Heiligenstatuen,
die diese beherbergt hatte, waren von Wind und Regen gezwungen worden, sich i«
das anstoßende Beinhaus, die dauerhafte Gruft eines alten bretonischen Adelsgeschlechts,
SU flüchten. Dieses seltsame Bethaus war das Ziel der Pilgerin. Hier wohnte
Se. Yvon-ar-Wirionez, und nur hier, nicht in seiner schönen Kirche des Minihi
erteilte er Audienz in schwierigen Rechtsfragen, wie die erfahrne Rail wohl wußte.

Altmodische Gebete murmelnd betrat sie das Bethaus. Ein modriger, bläulicher
Dunst lagerte in der einstigen Grabkammer, in die ein schmaler Mauerspalt einen
Streifen fahlen Tageslichts einfallen ließ. Im Hintergrund erhob sich ein steinerner
Mtar. auf dessen nackter Tischplatte eine Anzahl alter, heimatlos gewordner He ligen-
statuen aufgereiht standen. Schulter an Schulter gelehnt und sich so gegenseitig am
Umfallen hindernd. Aber Rail hatte nicht Wort noch Blick übrig für diese kleine»
Leute", die mit ihren großen, gutmütig grinsenden, von krausem Kopf- und Bart¬
haar umrahmten Gesichtern den lebendigen und unheiligen Fischern des Landes
drollig ähnlich sahen. Sie wandte ihr runzliges Hexenantlitz einem lebensgroßen
hölzernen Heiligenbild zu, das einsam in einer Seitennische stand. Es galt als das
^nzig getreue Bildnis des heilig gesprochnen Rechtsgelehrten, der einst in der
benachbarten Stadt Treguier seines schiedsrichterlichen Amtes mit salomoichcher
Weisheit gewaltet hatte. Der hölzerne Leib dieses Bildes war vom Alter zerfressen
und versteckt, und nur das Gesicht wies noch einen verblichnen Rest der ursprüng¬
lichen Bemalung auf. Bleich wie das Gesicht eines Leichnams leuchtete es aus dem
Dunkel heraus

Rail bückte den müden Rücken, holte Alans Münze aus dem Schuh und legte
sie mit sorgfältiger Hand in eine Gewandfalte des Heiligen. Dann schürzte sie ihre
Röcke, und die magern bloßen Knie auf den feuchten Boden gedrückt, begann sie


Grenzboten II 1907
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302369"/>
          <fw type="header" place="top"> Sankt Z^vous Gericht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1648" prev="#ID_1647"> ihrem Bettschrank heraus und legte Alans Münze in ihren linken Schuh. Als sie<lb/>
fertig gerüstet war, ergriff sie den knotigen Pilgerstab, der an einem Nagel an der<lb/>
Hüllenwand aufgehängt war, und machte sich auf den Weg. Auf kaum sichtbarem<lb/>
Pfad, zwischen Ginsterbüschen und Heidekraut, schritt sie über die taufeuchte, ein¬<lb/>
tönige Heide hin, das Meer im Rücken, vor sich und über sich den leeren, weißen,<lb/>
stillen bretonischen Himmel. Weit vorn, am Horizont, schritt eine zweite Gestalt<lb/>
ebenso eilig und dieselbe Richtung einhaltend wie die alte Pilgerin. Aber Rails<lb/>
Augen waren nicht so jung geblieben wie ihre Füße, und so wurde sie der voran¬<lb/>
gehenden Erscheinung nicht gewahr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1649"> Rails Gesicht hatte einen in sich gekehrten, sorgenvollen Ausdruck. Sie hinkte<lb/>
ein wenig, denn die Münze im linken Schuh rieb ihr die Fußsohle wund. In den<lb/>
Weilern, die sie durchwanderte, blieben die Leute stehen, um ihr neugierig «achzu¬<lb/>
sehen. Ein paar Frauen, die ihren Weg kreuzten, wollten sie mit einer Frage<lb/>
anhalten: Nun, Rail, mußt du wieder einmal &#x201E;dorthin"? Mit einer ablehnenden<lb/>
Handbewegung antwortete sie, ohne den Schritt anzuhalten: Ja, wenn die Dinge<lb/>
in Unordnung geraten sind, muß sie wohl einer zurechtrücken!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1650"> Durch schattige, grünüberlaubte Hohlwege Pilgerte sie, an Kapellen und<lb/>
Kalvaricnkreuzen vorüber. Aber an einer Quelle, die tief zwischen granitnen Fels¬<lb/>
abhängen in enger Schlucht der Erde entquoll, machte sie halt. Sie tauchte ihre<lb/>
Hand in das kalte Wasser und besprengte damit unter geheimnisvollem Murmel«<lb/>
die Erde um sich herum. Als sie ihren Weg nun wieder fortsetzte, war ihr gut¬<lb/>
mütiges, altes Gesicht finster und unheimlich im Ausdruck geworden, sodaß ein paar<lb/>
ihr begegnender Kinder schreiend vor der &#x201E;Hexe" davonliefen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1651"> Hoch über dem Meer, auf felsiger Höhe in weltferner Einsamkeit, stand el«<lb/>
kleines altersgraues Beinhnus im Schatten einiger windzerzauster Ulmen. Die<lb/>
Kapelle, zu der es einst gehört hatte, war längst zerfallen, und die Heiligenstatuen,<lb/>
die diese beherbergt hatte, waren von Wind und Regen gezwungen worden, sich i«<lb/>
das anstoßende Beinhaus, die dauerhafte Gruft eines alten bretonischen Adelsgeschlechts,<lb/>
SU flüchten. Dieses seltsame Bethaus war das Ziel der Pilgerin. Hier wohnte<lb/>
Se. Yvon-ar-Wirionez, und nur hier, nicht in seiner schönen Kirche des Minihi<lb/>
erteilte er Audienz in schwierigen Rechtsfragen, wie die erfahrne Rail wohl wußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1652"> Altmodische Gebete murmelnd betrat sie das Bethaus. Ein modriger, bläulicher<lb/>
Dunst lagerte in der einstigen Grabkammer, in die ein schmaler Mauerspalt einen<lb/>
Streifen fahlen Tageslichts einfallen ließ. Im Hintergrund erhob sich ein steinerner<lb/>
Mtar. auf dessen nackter Tischplatte eine Anzahl alter, heimatlos gewordner He ligen-<lb/>
statuen aufgereiht standen. Schulter an Schulter gelehnt und sich so gegenseitig am<lb/>
Umfallen hindernd. Aber Rail hatte nicht Wort noch Blick übrig für diese kleine»<lb/>
Leute", die mit ihren großen, gutmütig grinsenden, von krausem Kopf- und Bart¬<lb/>
haar umrahmten Gesichtern den lebendigen und unheiligen Fischern des Landes<lb/>
drollig ähnlich sahen. Sie wandte ihr runzliges Hexenantlitz einem lebensgroßen<lb/>
hölzernen Heiligenbild zu, das einsam in einer Seitennische stand. Es galt als das<lb/>
^nzig getreue Bildnis des heilig gesprochnen Rechtsgelehrten, der einst in der<lb/>
benachbarten Stadt Treguier seines schiedsrichterlichen Amtes mit salomoichcher<lb/>
Weisheit gewaltet hatte. Der hölzerne Leib dieses Bildes war vom Alter zerfressen<lb/>
und versteckt, und nur das Gesicht wies noch einen verblichnen Rest der ursprüng¬<lb/>
lichen Bemalung auf. Bleich wie das Gesicht eines Leichnams leuchtete es aus dem<lb/>
Dunkel heraus</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1653" next="#ID_1654"> Rail bückte den müden Rücken, holte Alans Münze aus dem Schuh und legte<lb/>
sie mit sorgfältiger Hand in eine Gewandfalte des Heiligen. Dann schürzte sie ihre<lb/>
Röcke, und die magern bloßen Knie auf den feuchten Boden gedrückt, begann sie</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1907</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0381] Sankt Z^vous Gericht ihrem Bettschrank heraus und legte Alans Münze in ihren linken Schuh. Als sie fertig gerüstet war, ergriff sie den knotigen Pilgerstab, der an einem Nagel an der Hüllenwand aufgehängt war, und machte sich auf den Weg. Auf kaum sichtbarem Pfad, zwischen Ginsterbüschen und Heidekraut, schritt sie über die taufeuchte, ein¬ tönige Heide hin, das Meer im Rücken, vor sich und über sich den leeren, weißen, stillen bretonischen Himmel. Weit vorn, am Horizont, schritt eine zweite Gestalt ebenso eilig und dieselbe Richtung einhaltend wie die alte Pilgerin. Aber Rails Augen waren nicht so jung geblieben wie ihre Füße, und so wurde sie der voran¬ gehenden Erscheinung nicht gewahr. Rails Gesicht hatte einen in sich gekehrten, sorgenvollen Ausdruck. Sie hinkte ein wenig, denn die Münze im linken Schuh rieb ihr die Fußsohle wund. In den Weilern, die sie durchwanderte, blieben die Leute stehen, um ihr neugierig «achzu¬ sehen. Ein paar Frauen, die ihren Weg kreuzten, wollten sie mit einer Frage anhalten: Nun, Rail, mußt du wieder einmal „dorthin"? Mit einer ablehnenden Handbewegung antwortete sie, ohne den Schritt anzuhalten: Ja, wenn die Dinge in Unordnung geraten sind, muß sie wohl einer zurechtrücken! Durch schattige, grünüberlaubte Hohlwege Pilgerte sie, an Kapellen und Kalvaricnkreuzen vorüber. Aber an einer Quelle, die tief zwischen granitnen Fels¬ abhängen in enger Schlucht der Erde entquoll, machte sie halt. Sie tauchte ihre Hand in das kalte Wasser und besprengte damit unter geheimnisvollem Murmel« die Erde um sich herum. Als sie ihren Weg nun wieder fortsetzte, war ihr gut¬ mütiges, altes Gesicht finster und unheimlich im Ausdruck geworden, sodaß ein paar ihr begegnender Kinder schreiend vor der „Hexe" davonliefen. Hoch über dem Meer, auf felsiger Höhe in weltferner Einsamkeit, stand el« kleines altersgraues Beinhnus im Schatten einiger windzerzauster Ulmen. Die Kapelle, zu der es einst gehört hatte, war längst zerfallen, und die Heiligenstatuen, die diese beherbergt hatte, waren von Wind und Regen gezwungen worden, sich i« das anstoßende Beinhaus, die dauerhafte Gruft eines alten bretonischen Adelsgeschlechts, SU flüchten. Dieses seltsame Bethaus war das Ziel der Pilgerin. Hier wohnte Se. Yvon-ar-Wirionez, und nur hier, nicht in seiner schönen Kirche des Minihi erteilte er Audienz in schwierigen Rechtsfragen, wie die erfahrne Rail wohl wußte. Altmodische Gebete murmelnd betrat sie das Bethaus. Ein modriger, bläulicher Dunst lagerte in der einstigen Grabkammer, in die ein schmaler Mauerspalt einen Streifen fahlen Tageslichts einfallen ließ. Im Hintergrund erhob sich ein steinerner Mtar. auf dessen nackter Tischplatte eine Anzahl alter, heimatlos gewordner He ligen- statuen aufgereiht standen. Schulter an Schulter gelehnt und sich so gegenseitig am Umfallen hindernd. Aber Rail hatte nicht Wort noch Blick übrig für diese kleine» Leute", die mit ihren großen, gutmütig grinsenden, von krausem Kopf- und Bart¬ haar umrahmten Gesichtern den lebendigen und unheiligen Fischern des Landes drollig ähnlich sahen. Sie wandte ihr runzliges Hexenantlitz einem lebensgroßen hölzernen Heiligenbild zu, das einsam in einer Seitennische stand. Es galt als das ^nzig getreue Bildnis des heilig gesprochnen Rechtsgelehrten, der einst in der benachbarten Stadt Treguier seines schiedsrichterlichen Amtes mit salomoichcher Weisheit gewaltet hatte. Der hölzerne Leib dieses Bildes war vom Alter zerfressen und versteckt, und nur das Gesicht wies noch einen verblichnen Rest der ursprüng¬ lichen Bemalung auf. Bleich wie das Gesicht eines Leichnams leuchtete es aus dem Dunkel heraus Rail bückte den müden Rücken, holte Alans Münze aus dem Schuh und legte sie mit sorgfältiger Hand in eine Gewandfalte des Heiligen. Dann schürzte sie ihre Röcke, und die magern bloßen Knie auf den feuchten Boden gedrückt, begann sie Grenzboten II 1907

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/381
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/381>, abgerufen am 06.02.2025.