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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Gott verloren l"it bedauert es offenbar nicht". Die Richtung auf spinozistische
Gedanken ist eben in ihm gegen Ende seines Lebens immer deutlicher geworden.
Aber, sagt Schrempf mit Recht, man sollte es lieber vermeiden, ihn einen
Spinozisten zu nennen; deun diese Bezeichnung wird der ganzen Art, wie er
sich zu allen philosophischen Systemen stellte, nicht gerecht.

Zum Schlüsse fragt der Verfasser: "Was von dem Philosophen Lessing
zu lernen ist." Und die Antwort lautet: Lessing vermag uns zunächst in die
rechte philosophische Stimmung hineinzuziehen, in jene dämonische Wahrheits¬
liebe, gegen die alle andern Interessen eitel erscheinen, gegen die namentlich
kein parteiisches, kein selbstisches Interesse aufkommen kann. Er vermag uns
ferner von dem Aberglauben zu entwöhnen, als ob das Denken eine Kunst
wäre, bei der es aus besondre Kniffe ankäme. Auch weiß er, daß es ohne
Enthusiasmus keine Weltanschauung gibt, daß sich aber der Enthusiast gern
betrügt. So unterdrückt er also -- und zeigt uns damit den richtigen
Weg -- natürliche enthusiastische Regungen nicht, benutzt aber den Enthusiasmus
weder als Wünschelrute noch gar, wie heute so vielfach geschieht, als Beweis.
Nur in wenigen Punkten tritt bei ihm das enthusiastische, intuitive Element
besonders hervor: in seiner Auffassung des Tragischen, in seiner einfachen
Lösung des Freiheitsproblems und bis zu einem gewissen Grade auch in seiner
Gottesvorstellung. "In dem Eindruck des Tragischen verbindet sich das Gefühl
des unendlichen Wertes der Persönlichkeit mit dem Gefühl, daß sie im Welt¬
haushalte nichts gilt." Wie kommt es aber, daß wir durch das Tragische nicht
niedergedrückt, sondern gehoben und belebt werden? Wer das erklären konnte,
behauptet Schrempf mit Recht, der hätte das Rätsel des Menschen gelöst.
Lessing hat die Frage nicht beantwortet, aber er hat uns wenigstens auf einen
guten Weg gebracht, sie als Frage zu versteh", und leistet uns dadurch zugleich
den großen Dienst, daß er uns die Bedeutung des Ästhetischen für die religiöse
und die philosophische Erkenntnis zeigt: "um das Leben als Problem zu ver-
stehn, sollten wir seine höchsten Erregungen erleben, ohne doch unter ihren
besinnungraubenden Druck zu kommen. Das geschieht im ästhetischen Miterleben
des Tragischen." Es ist also keine zufällige Laune, daß Lessings Theorie der
Tragödie in einer religiösen Expektoration gipfelt: "Die ästhetische Empfindung
ist sozusagen ein religiöser Sinn."

Lessings Lösung des Freiheitsproblems ist die einzig mögliche. Wer sich
so weit entwickelt hat, daß er den "freien Willen" zur Erhaltung seines Selbst¬
gefühls nicht mehr braucht, der sieht ihn auch sofort uicht mehr. Den andern
aber, die ihn noch brauchen, läßt sich mit Gründen nicht beikommen, so un-
widerleglich diese auch an sich sein mögen.

Was an Lessings Aussagen über Gott Intuition ist, ist schwer zu ent¬
scheiden. Der sichere Humor, mit dem er Jacobis Glauben an eine verständige,
Persönliche Ursache der Welt an sich abgleiten ließ, scheint darauf hinzudeuten,
daß er seiner Sache durch Intuition sicher geworden war.


Gott verloren l»it bedauert es offenbar nicht". Die Richtung auf spinozistische
Gedanken ist eben in ihm gegen Ende seines Lebens immer deutlicher geworden.
Aber, sagt Schrempf mit Recht, man sollte es lieber vermeiden, ihn einen
Spinozisten zu nennen; deun diese Bezeichnung wird der ganzen Art, wie er
sich zu allen philosophischen Systemen stellte, nicht gerecht.

Zum Schlüsse fragt der Verfasser: „Was von dem Philosophen Lessing
zu lernen ist." Und die Antwort lautet: Lessing vermag uns zunächst in die
rechte philosophische Stimmung hineinzuziehen, in jene dämonische Wahrheits¬
liebe, gegen die alle andern Interessen eitel erscheinen, gegen die namentlich
kein parteiisches, kein selbstisches Interesse aufkommen kann. Er vermag uns
ferner von dem Aberglauben zu entwöhnen, als ob das Denken eine Kunst
wäre, bei der es aus besondre Kniffe ankäme. Auch weiß er, daß es ohne
Enthusiasmus keine Weltanschauung gibt, daß sich aber der Enthusiast gern
betrügt. So unterdrückt er also — und zeigt uns damit den richtigen
Weg — natürliche enthusiastische Regungen nicht, benutzt aber den Enthusiasmus
weder als Wünschelrute noch gar, wie heute so vielfach geschieht, als Beweis.
Nur in wenigen Punkten tritt bei ihm das enthusiastische, intuitive Element
besonders hervor: in seiner Auffassung des Tragischen, in seiner einfachen
Lösung des Freiheitsproblems und bis zu einem gewissen Grade auch in seiner
Gottesvorstellung. „In dem Eindruck des Tragischen verbindet sich das Gefühl
des unendlichen Wertes der Persönlichkeit mit dem Gefühl, daß sie im Welt¬
haushalte nichts gilt." Wie kommt es aber, daß wir durch das Tragische nicht
niedergedrückt, sondern gehoben und belebt werden? Wer das erklären konnte,
behauptet Schrempf mit Recht, der hätte das Rätsel des Menschen gelöst.
Lessing hat die Frage nicht beantwortet, aber er hat uns wenigstens auf einen
guten Weg gebracht, sie als Frage zu versteh», und leistet uns dadurch zugleich
den großen Dienst, daß er uns die Bedeutung des Ästhetischen für die religiöse
und die philosophische Erkenntnis zeigt: „um das Leben als Problem zu ver-
stehn, sollten wir seine höchsten Erregungen erleben, ohne doch unter ihren
besinnungraubenden Druck zu kommen. Das geschieht im ästhetischen Miterleben
des Tragischen." Es ist also keine zufällige Laune, daß Lessings Theorie der
Tragödie in einer religiösen Expektoration gipfelt: „Die ästhetische Empfindung
ist sozusagen ein religiöser Sinn."

Lessings Lösung des Freiheitsproblems ist die einzig mögliche. Wer sich
so weit entwickelt hat, daß er den „freien Willen" zur Erhaltung seines Selbst¬
gefühls nicht mehr braucht, der sieht ihn auch sofort uicht mehr. Den andern
aber, die ihn noch brauchen, läßt sich mit Gründen nicht beikommen, so un-
widerleglich diese auch an sich sein mögen.

Was an Lessings Aussagen über Gott Intuition ist, ist schwer zu ent¬
scheiden. Der sichere Humor, mit dem er Jacobis Glauben an eine verständige,
Persönliche Ursache der Welt an sich abgleiten ließ, scheint darauf hinzudeuten,
daß er seiner Sache durch Intuition sicher geworden war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/361>, abgerufen am 06.02.2025.