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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lessing als Philosoph

den Nachweis, daß Lessing, so freundlich er den Wahrheitsgehalt aus der christ¬
lichen Offenbarung herausgestellt habe, doch deutlich das Bestreben zeige, die
Enge des kirchlichen Offenbarungsbegriffs zu durchbrechen^ ja Lessings Auffassung
führt schließlich zu der Überzeugung, daß der Mensch tatsächlich zu der Offen¬
barung, die ja gar nicht bloß geglaubt, sondern in Vernunftwahrheit umgewandelt
werden soll, keine andre Stellung habe als zu aller angeblichen, ihm von irgend
woher gebvtnen Wahrheit: er muß sie prüfen und darf sich auch die Freiheit
nehmen, als Irrtum zu verwerfen, was er widerlegen zu können glaubt.

Die Gedanken, die Lessing in der "Erziehung des Menschengeschlechts" in
teilweise verhüllter Form vortrug, hat er offner ausgesprochen, weiter in ihre
Konsequenzen verfolgt in seinen philosophischen Gesprächen mit Jacobi und in
zwei nachgelassenen, sehr flüchtig hingeworfnen Aufsätzen. Aus ihnen erfahren
wir, daß ihn die Lehre von der Seelenpräexistenz und Metempsychose ganz
ernsthaft beschäftigte, und daß er sie nicht nur auf die moralische Vervoll¬
kommnung, sondern auch auf die intellektuelle anwenden wollte: auch die letztere
kann der Mensch um in einer Reihe von Existenzen erlangen. Und wie wir
in einer neuen Existenz zu uusern alten Sinnen neue hinzugewinnen werden,
so wird sich unsre ganze geistige Organisation verfeinern, sodaß wir schließlich
imstande sind, die jetzt scheinbar von Dissonanzen erfüllte Welt in ihrer
harmonischen Einheit zu erfassen. Die Religion aber wäre dann eine Art
enthusiastischer Vorahnung dieser Seligkeit. In diesem Sinne, meint Schrempf,
ist die Religiosität für Lessing offenbar ein Teil der natürlichen Anlage des
Menschen, und die Vollendung der Religiosität liegt in der Erkenntnis, daß
wir mit unsrer Anlage und mit den Wegen, die wir kraft dieser Anlage gehn
müssen, uicht unzufrieden sein können. "Der heilige Geist des Christen ist
kein andrer als der Geist der Natur", müßte dann Lessings notwendiger
Schluß sein.

Schrempf gibt zu, daß er glciubeu würde, damit zu viel in Lessing hineiu-
zulesen, wenn, nicht andre Linien seiner Entwicklung gegen denselben Punkt
konvergierten. Dahin ist besonders auch seine Auffassung von der Freiheit des
Willens zu rechnen. Er hält nichts davon und hat das deutlich ausgesprochen,
unter anderm mit den bekannten Worten: "ich danke meinem Schöpfer, daß ich
muß, das Beste muß" und "ich begehre keinen freien Willen". Auch ist er,
glaubt Schrempf, der Ansicht, daß sogar das nur eine äußerliche Auffassung
sei, wenn man sage, die Vorstellung des Besten bestimme den Menschen mit
Zwang und Notwendigkeit. "Vielmehr ist der ganze Vorgang, daß ich etwas
als das Beste muß, die Auswirkung eines höhern Prinzips, das körperliche
und geistige Bewegung produziert, aber darin sich nicht erschöpft, das weder
Geist noch Materie, noch eine Verbindung beider, sondern ein für uns gänzlich
unvorstellbares Drittes ist. Indem dies Prinzip sich durch uus auswirkt, haben
wir das Gefühl, daß wir das Beste müssen; und "das Beste" ist natürlich nur
eine Bezeichnung dafür, daß wir müssen." Lessing hat so "seine Freiheit an


Lessing als Philosoph

den Nachweis, daß Lessing, so freundlich er den Wahrheitsgehalt aus der christ¬
lichen Offenbarung herausgestellt habe, doch deutlich das Bestreben zeige, die
Enge des kirchlichen Offenbarungsbegriffs zu durchbrechen^ ja Lessings Auffassung
führt schließlich zu der Überzeugung, daß der Mensch tatsächlich zu der Offen¬
barung, die ja gar nicht bloß geglaubt, sondern in Vernunftwahrheit umgewandelt
werden soll, keine andre Stellung habe als zu aller angeblichen, ihm von irgend
woher gebvtnen Wahrheit: er muß sie prüfen und darf sich auch die Freiheit
nehmen, als Irrtum zu verwerfen, was er widerlegen zu können glaubt.

Die Gedanken, die Lessing in der „Erziehung des Menschengeschlechts" in
teilweise verhüllter Form vortrug, hat er offner ausgesprochen, weiter in ihre
Konsequenzen verfolgt in seinen philosophischen Gesprächen mit Jacobi und in
zwei nachgelassenen, sehr flüchtig hingeworfnen Aufsätzen. Aus ihnen erfahren
wir, daß ihn die Lehre von der Seelenpräexistenz und Metempsychose ganz
ernsthaft beschäftigte, und daß er sie nicht nur auf die moralische Vervoll¬
kommnung, sondern auch auf die intellektuelle anwenden wollte: auch die letztere
kann der Mensch um in einer Reihe von Existenzen erlangen. Und wie wir
in einer neuen Existenz zu uusern alten Sinnen neue hinzugewinnen werden,
so wird sich unsre ganze geistige Organisation verfeinern, sodaß wir schließlich
imstande sind, die jetzt scheinbar von Dissonanzen erfüllte Welt in ihrer
harmonischen Einheit zu erfassen. Die Religion aber wäre dann eine Art
enthusiastischer Vorahnung dieser Seligkeit. In diesem Sinne, meint Schrempf,
ist die Religiosität für Lessing offenbar ein Teil der natürlichen Anlage des
Menschen, und die Vollendung der Religiosität liegt in der Erkenntnis, daß
wir mit unsrer Anlage und mit den Wegen, die wir kraft dieser Anlage gehn
müssen, uicht unzufrieden sein können. „Der heilige Geist des Christen ist
kein andrer als der Geist der Natur", müßte dann Lessings notwendiger
Schluß sein.

Schrempf gibt zu, daß er glciubeu würde, damit zu viel in Lessing hineiu-
zulesen, wenn, nicht andre Linien seiner Entwicklung gegen denselben Punkt
konvergierten. Dahin ist besonders auch seine Auffassung von der Freiheit des
Willens zu rechnen. Er hält nichts davon und hat das deutlich ausgesprochen,
unter anderm mit den bekannten Worten: „ich danke meinem Schöpfer, daß ich
muß, das Beste muß" und „ich begehre keinen freien Willen". Auch ist er,
glaubt Schrempf, der Ansicht, daß sogar das nur eine äußerliche Auffassung
sei, wenn man sage, die Vorstellung des Besten bestimme den Menschen mit
Zwang und Notwendigkeit. „Vielmehr ist der ganze Vorgang, daß ich etwas
als das Beste muß, die Auswirkung eines höhern Prinzips, das körperliche
und geistige Bewegung produziert, aber darin sich nicht erschöpft, das weder
Geist noch Materie, noch eine Verbindung beider, sondern ein für uns gänzlich
unvorstellbares Drittes ist. Indem dies Prinzip sich durch uus auswirkt, haben
wir das Gefühl, daß wir das Beste müssen; und »das Beste« ist natürlich nur
eine Bezeichnung dafür, daß wir müssen." Lessing hat so „seine Freiheit an


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[0360] Lessing als Philosoph den Nachweis, daß Lessing, so freundlich er den Wahrheitsgehalt aus der christ¬ lichen Offenbarung herausgestellt habe, doch deutlich das Bestreben zeige, die Enge des kirchlichen Offenbarungsbegriffs zu durchbrechen^ ja Lessings Auffassung führt schließlich zu der Überzeugung, daß der Mensch tatsächlich zu der Offen¬ barung, die ja gar nicht bloß geglaubt, sondern in Vernunftwahrheit umgewandelt werden soll, keine andre Stellung habe als zu aller angeblichen, ihm von irgend woher gebvtnen Wahrheit: er muß sie prüfen und darf sich auch die Freiheit nehmen, als Irrtum zu verwerfen, was er widerlegen zu können glaubt. Die Gedanken, die Lessing in der „Erziehung des Menschengeschlechts" in teilweise verhüllter Form vortrug, hat er offner ausgesprochen, weiter in ihre Konsequenzen verfolgt in seinen philosophischen Gesprächen mit Jacobi und in zwei nachgelassenen, sehr flüchtig hingeworfnen Aufsätzen. Aus ihnen erfahren wir, daß ihn die Lehre von der Seelenpräexistenz und Metempsychose ganz ernsthaft beschäftigte, und daß er sie nicht nur auf die moralische Vervoll¬ kommnung, sondern auch auf die intellektuelle anwenden wollte: auch die letztere kann der Mensch um in einer Reihe von Existenzen erlangen. Und wie wir in einer neuen Existenz zu uusern alten Sinnen neue hinzugewinnen werden, so wird sich unsre ganze geistige Organisation verfeinern, sodaß wir schließlich imstande sind, die jetzt scheinbar von Dissonanzen erfüllte Welt in ihrer harmonischen Einheit zu erfassen. Die Religion aber wäre dann eine Art enthusiastischer Vorahnung dieser Seligkeit. In diesem Sinne, meint Schrempf, ist die Religiosität für Lessing offenbar ein Teil der natürlichen Anlage des Menschen, und die Vollendung der Religiosität liegt in der Erkenntnis, daß wir mit unsrer Anlage und mit den Wegen, die wir kraft dieser Anlage gehn müssen, uicht unzufrieden sein können. „Der heilige Geist des Christen ist kein andrer als der Geist der Natur", müßte dann Lessings notwendiger Schluß sein. Schrempf gibt zu, daß er glciubeu würde, damit zu viel in Lessing hineiu- zulesen, wenn, nicht andre Linien seiner Entwicklung gegen denselben Punkt konvergierten. Dahin ist besonders auch seine Auffassung von der Freiheit des Willens zu rechnen. Er hält nichts davon und hat das deutlich ausgesprochen, unter anderm mit den bekannten Worten: „ich danke meinem Schöpfer, daß ich muß, das Beste muß" und „ich begehre keinen freien Willen". Auch ist er, glaubt Schrempf, der Ansicht, daß sogar das nur eine äußerliche Auffassung sei, wenn man sage, die Vorstellung des Besten bestimme den Menschen mit Zwang und Notwendigkeit. „Vielmehr ist der ganze Vorgang, daß ich etwas als das Beste muß, die Auswirkung eines höhern Prinzips, das körperliche und geistige Bewegung produziert, aber darin sich nicht erschöpft, das weder Geist noch Materie, noch eine Verbindung beider, sondern ein für uns gänzlich unvorstellbares Drittes ist. Indem dies Prinzip sich durch uus auswirkt, haben wir das Gefühl, daß wir das Beste müssen; und »das Beste« ist natürlich nur eine Bezeichnung dafür, daß wir müssen." Lessing hat so „seine Freiheit an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/360>, abgerufen am 06.02.2025.