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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Ein Aompendium der Rechtswissenschaft für Laien

steht geschrieben: Hier ist das Land der Hoffnung, ist Bahn zur Einporent¬
wicklung für alle Niedern! Gewiß, kein glücklicher Zufall und kein Beschluß
einer gesetzgebenden Versammlung kann von heute auf morgen die Lage ganzer
Schichten der Gesellschaft umgestalten. Zum Aufsteigen gehört das Verdienen
ans eigner Kraft, das Gewinnen von Macht durch Leistungen für das
nationale Leben. Nicht die gleichmäßige, sondern die gerechte Verteilung der
nationalen Güter ist die Aufgabe der Rechtsordnung. Jedem das Seine! Jedem,
was ihm gebührt nach seinen Leistungen für das Volksganze! Danach bestimmt
sich unweigerlich die Rechtslage nicht unmittelbar jedes Einzelnen, wohl aber
der gesellschaftlichen Klassen."

Franz von Liszt eröffnet seinen Essay mit einer sehr klaren Übersicht über
die stufenweise Entwicklung des Strafrechts bis ins neunzehnte Jahrhundert.
Dessen Reformtrieb wandte sich zunächst der Strafvollstreckung zu, indem unter
den verschiednen Zwecken der Strafe die Besserung und Brauchbarmachung des
Häftlings als der wichtigste ins Auge gefaßt wurde. "Jahrzehntelang schien
es, als sollte die Strafrechtswissenschaft aufgehn in der Gefängnisbaukunst.
Das Zellengefängnis zu Philadelphia wurde als der Weisheit letzter Schluß
in allen Kulturspracheu gepriesen." Erst in der Mitte der siebziger Jahre
gewann eine Idee Einfluß, die wirklich neu und wirklich fruchtbar war: die
der Ätiologie des Verbrechens. Bekanntlich haben sich der Erforschung der
Ursachen der Kriminalität zwei Richtungen bemächtigt, die anthropologische und
die soziale, die mehr und mehr miteinander in Wechselwirkung getreten sind.
Die erste hat Lombroso begründet. Der Kampf um dessen Theorie, schreibt
Liszt, "ist noch nicht zu Ende geführt. Dennoch läßt sich schon heute sein
Ausgang mit Bestimmtheit voraussagen und das bleibende Urteil über Lombroso
und seine Schule fällen. Das Verdienst der italienischen Kriminalanthropologen
liegt darin, daß sie die Frage nach der Eigenart des Verbrechers ans breitester
empirischer Grundlage gestellt und reiches, freilich der Überprüfung dringend
bedürftiges Material zu ihrer Lösung zusammengetragen haben. Es steht fest,
daß zwar nicht die einzelnen Verbrecher an sich, wohl aber gewisse Gruppen
von Verbrechern durch die verschiedensten Anomalien von dem Typus des
Menschen, soweit ein solcher festgestellt werden kann, sich unterscheiden. Aber
eben so sicher ist es, daß alle diese Atypieu nicht zur Aufstellung eines be¬
sondern Verbrechertypus berechtigen. Es steht ferner fest, daß es sich in diesen
Fällen meist um erblich belastete und darum degenerierte Individuen handelt,
die durch gewisse, allerdings durchaus uicht konstante Degenerationszeichen
(Stigmata) von den normalen sich abheben und mit ihrem labilen psychischen
Gleichgewicht die Prädisposition zur Entgleisung auf der Bahn des Lebens,
nicht notwendig gerade zum Verbrechen, mitbringen. Damit ist die Bedeutung
der erblichen Belastung als Ursache der Kriminalität anerkannt, zugleich aber
die Lehre vom gebornen Verbrecher als einer besondern Spezies der mensch¬
lichen Gattung überwunden." Genan so ist die Sache in den Grenzboten


Ein Aompendium der Rechtswissenschaft für Laien

steht geschrieben: Hier ist das Land der Hoffnung, ist Bahn zur Einporent¬
wicklung für alle Niedern! Gewiß, kein glücklicher Zufall und kein Beschluß
einer gesetzgebenden Versammlung kann von heute auf morgen die Lage ganzer
Schichten der Gesellschaft umgestalten. Zum Aufsteigen gehört das Verdienen
ans eigner Kraft, das Gewinnen von Macht durch Leistungen für das
nationale Leben. Nicht die gleichmäßige, sondern die gerechte Verteilung der
nationalen Güter ist die Aufgabe der Rechtsordnung. Jedem das Seine! Jedem,
was ihm gebührt nach seinen Leistungen für das Volksganze! Danach bestimmt
sich unweigerlich die Rechtslage nicht unmittelbar jedes Einzelnen, wohl aber
der gesellschaftlichen Klassen."

Franz von Liszt eröffnet seinen Essay mit einer sehr klaren Übersicht über
die stufenweise Entwicklung des Strafrechts bis ins neunzehnte Jahrhundert.
Dessen Reformtrieb wandte sich zunächst der Strafvollstreckung zu, indem unter
den verschiednen Zwecken der Strafe die Besserung und Brauchbarmachung des
Häftlings als der wichtigste ins Auge gefaßt wurde. „Jahrzehntelang schien
es, als sollte die Strafrechtswissenschaft aufgehn in der Gefängnisbaukunst.
Das Zellengefängnis zu Philadelphia wurde als der Weisheit letzter Schluß
in allen Kulturspracheu gepriesen." Erst in der Mitte der siebziger Jahre
gewann eine Idee Einfluß, die wirklich neu und wirklich fruchtbar war: die
der Ätiologie des Verbrechens. Bekanntlich haben sich der Erforschung der
Ursachen der Kriminalität zwei Richtungen bemächtigt, die anthropologische und
die soziale, die mehr und mehr miteinander in Wechselwirkung getreten sind.
Die erste hat Lombroso begründet. Der Kampf um dessen Theorie, schreibt
Liszt, „ist noch nicht zu Ende geführt. Dennoch läßt sich schon heute sein
Ausgang mit Bestimmtheit voraussagen und das bleibende Urteil über Lombroso
und seine Schule fällen. Das Verdienst der italienischen Kriminalanthropologen
liegt darin, daß sie die Frage nach der Eigenart des Verbrechers ans breitester
empirischer Grundlage gestellt und reiches, freilich der Überprüfung dringend
bedürftiges Material zu ihrer Lösung zusammengetragen haben. Es steht fest,
daß zwar nicht die einzelnen Verbrecher an sich, wohl aber gewisse Gruppen
von Verbrechern durch die verschiedensten Anomalien von dem Typus des
Menschen, soweit ein solcher festgestellt werden kann, sich unterscheiden. Aber
eben so sicher ist es, daß alle diese Atypieu nicht zur Aufstellung eines be¬
sondern Verbrechertypus berechtigen. Es steht ferner fest, daß es sich in diesen
Fällen meist um erblich belastete und darum degenerierte Individuen handelt,
die durch gewisse, allerdings durchaus uicht konstante Degenerationszeichen
(Stigmata) von den normalen sich abheben und mit ihrem labilen psychischen
Gleichgewicht die Prädisposition zur Entgleisung auf der Bahn des Lebens,
nicht notwendig gerade zum Verbrechen, mitbringen. Damit ist die Bedeutung
der erblichen Belastung als Ursache der Kriminalität anerkannt, zugleich aber
die Lehre vom gebornen Verbrecher als einer besondern Spezies der mensch¬
lichen Gattung überwunden." Genan so ist die Sache in den Grenzboten


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[0304] Ein Aompendium der Rechtswissenschaft für Laien steht geschrieben: Hier ist das Land der Hoffnung, ist Bahn zur Einporent¬ wicklung für alle Niedern! Gewiß, kein glücklicher Zufall und kein Beschluß einer gesetzgebenden Versammlung kann von heute auf morgen die Lage ganzer Schichten der Gesellschaft umgestalten. Zum Aufsteigen gehört das Verdienen ans eigner Kraft, das Gewinnen von Macht durch Leistungen für das nationale Leben. Nicht die gleichmäßige, sondern die gerechte Verteilung der nationalen Güter ist die Aufgabe der Rechtsordnung. Jedem das Seine! Jedem, was ihm gebührt nach seinen Leistungen für das Volksganze! Danach bestimmt sich unweigerlich die Rechtslage nicht unmittelbar jedes Einzelnen, wohl aber der gesellschaftlichen Klassen." Franz von Liszt eröffnet seinen Essay mit einer sehr klaren Übersicht über die stufenweise Entwicklung des Strafrechts bis ins neunzehnte Jahrhundert. Dessen Reformtrieb wandte sich zunächst der Strafvollstreckung zu, indem unter den verschiednen Zwecken der Strafe die Besserung und Brauchbarmachung des Häftlings als der wichtigste ins Auge gefaßt wurde. „Jahrzehntelang schien es, als sollte die Strafrechtswissenschaft aufgehn in der Gefängnisbaukunst. Das Zellengefängnis zu Philadelphia wurde als der Weisheit letzter Schluß in allen Kulturspracheu gepriesen." Erst in der Mitte der siebziger Jahre gewann eine Idee Einfluß, die wirklich neu und wirklich fruchtbar war: die der Ätiologie des Verbrechens. Bekanntlich haben sich der Erforschung der Ursachen der Kriminalität zwei Richtungen bemächtigt, die anthropologische und die soziale, die mehr und mehr miteinander in Wechselwirkung getreten sind. Die erste hat Lombroso begründet. Der Kampf um dessen Theorie, schreibt Liszt, „ist noch nicht zu Ende geführt. Dennoch läßt sich schon heute sein Ausgang mit Bestimmtheit voraussagen und das bleibende Urteil über Lombroso und seine Schule fällen. Das Verdienst der italienischen Kriminalanthropologen liegt darin, daß sie die Frage nach der Eigenart des Verbrechers ans breitester empirischer Grundlage gestellt und reiches, freilich der Überprüfung dringend bedürftiges Material zu ihrer Lösung zusammengetragen haben. Es steht fest, daß zwar nicht die einzelnen Verbrecher an sich, wohl aber gewisse Gruppen von Verbrechern durch die verschiedensten Anomalien von dem Typus des Menschen, soweit ein solcher festgestellt werden kann, sich unterscheiden. Aber eben so sicher ist es, daß alle diese Atypieu nicht zur Aufstellung eines be¬ sondern Verbrechertypus berechtigen. Es steht ferner fest, daß es sich in diesen Fällen meist um erblich belastete und darum degenerierte Individuen handelt, die durch gewisse, allerdings durchaus uicht konstante Degenerationszeichen (Stigmata) von den normalen sich abheben und mit ihrem labilen psychischen Gleichgewicht die Prädisposition zur Entgleisung auf der Bahn des Lebens, nicht notwendig gerade zum Verbrechen, mitbringen. Damit ist die Bedeutung der erblichen Belastung als Ursache der Kriminalität anerkannt, zugleich aber die Lehre vom gebornen Verbrecher als einer besondern Spezies der mensch¬ lichen Gattung überwunden." Genan so ist die Sache in den Grenzboten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/304>, abgerufen am 06.02.2025.