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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

ihre Stadt mit der Zahl der Eheschließungen im ganzen Reiche obenan
marschiert, zu ihren Gunsten ausgelegt zu sehen. Im Jahre 1904 kamen auf
1000 Einwohner Eheschließungen in Berlin 10,6, in ganz Preußen dagegen
nur 8,1. im Reiche 8.

stichhaltige Symptome, die das Vorurteil einer moralischen "Minder¬
wertigkeit" der Berliner Bevölkerung rechtfertigen könnten, gibt es nicht. Die
Kriminalitätsstatistik weiß nichts davon, daß sich die Reichshauptstadt durch
Zahl und Schwere der Verbrechen vor andern Städten oder Gegenden -- selbst¬
verständlich verhältnismäßig betrachtet -- hervortäte. Und dabei ist notorisch,
daß eine solche Riesenstadt von den raffiniertesten Verbrechern der Provinz
vielfach als Zufluchtsort ausgesucht wird, in der Hoffnung, hier untertauchen
und sich dem Auge der Polizei leichter entziehen zu können. Wenn dies be¬
rücksichtigt wird, dürfte sich am Ende aller Enden ergeben, daß der moralische
Gesamtzustcmd der Berliner Bevölkerung zum mindesten nicht niedriger zu be¬
werten ist als der der Nation überhaupt.




Wozu diese Verteidigung? Nicht im Interesse der Berliner ist sie ge¬
schrieben worden; diese haben sie nicht nötig. Sie soll den Deutschen insge¬
samt zum Bewußtsein bringen helfen, wie sie sich ins eigne Fleisch schneiden,
wenn sie in die Verunglimpfung ihrer Reichshauptstadt einstimmen. Noch
heute gibt es freilich viele, die Berlin als solche nicht anerkennen wollen. Es
sei die Hauptstadt vou Preußen, meinen sie, eine "Reichshauptstadt" aber gebe
es in dein föderativem deutschen Staatswesen überhaupt nicht. Was will eine
solche staatsrechtliche Tüftelei besagen gegenüber der Wucht der tatsächlichen
Entwicklung? Berlin ist in weit Höheren Maße Reichshauptstadt geworden, als
sich nach der Verfassung des Reichs Hütte erwarten lassen. Und zwar ohne
jede künstliche Mache, rein durch das Gewicht des natürlichen Bedürfnisses.
Wer veranlaßt zum Beispiel den Bund der Landwirte, zum Sitz seiner jähr¬
lichen Riesenversammlung immer nur Berlin zu wühlen? Liebe zu den
Berlinern doch ganz gewiß nicht, sondern nur die Erwägung, daß diese Ver¬
anstaltung mit allem, was mit ihr zusammenhängt, sonstwo als in dieser
Riesenstadt überhaupt nicht durchführbar wäre. Es ist eben nicht anders: eine
politisch und wirtschaftlich geeinte Nation bedarf eines Zentralpunktes, in dem
alle großen materiellen und geistigen Strömungen ihres Lebens zusammen¬
fließen. Gebe man es zu oder nicht, von Jahr zu Jahr mehr ist es der Herz¬
schlag des deutschen Volks, den wir in Berlin vernehmen. Und weil dem so
ist. darum schmähen wir uns selbst, wenn wir Berlin und die Berliner
schmähen. Haben wir nicht vielmehr reichlich Grund, auf unsre Reichs¬
hauptstadt stolz zu sein? Kaum jemals in der Weltgeschichte ist ein großes
Stadtgebilde auf einem von der Natur so wenig begünstigten Boden so herrlich


Für die Reichshauptstadt

ihre Stadt mit der Zahl der Eheschließungen im ganzen Reiche obenan
marschiert, zu ihren Gunsten ausgelegt zu sehen. Im Jahre 1904 kamen auf
1000 Einwohner Eheschließungen in Berlin 10,6, in ganz Preußen dagegen
nur 8,1. im Reiche 8.

stichhaltige Symptome, die das Vorurteil einer moralischen „Minder¬
wertigkeit" der Berliner Bevölkerung rechtfertigen könnten, gibt es nicht. Die
Kriminalitätsstatistik weiß nichts davon, daß sich die Reichshauptstadt durch
Zahl und Schwere der Verbrechen vor andern Städten oder Gegenden — selbst¬
verständlich verhältnismäßig betrachtet — hervortäte. Und dabei ist notorisch,
daß eine solche Riesenstadt von den raffiniertesten Verbrechern der Provinz
vielfach als Zufluchtsort ausgesucht wird, in der Hoffnung, hier untertauchen
und sich dem Auge der Polizei leichter entziehen zu können. Wenn dies be¬
rücksichtigt wird, dürfte sich am Ende aller Enden ergeben, daß der moralische
Gesamtzustcmd der Berliner Bevölkerung zum mindesten nicht niedriger zu be¬
werten ist als der der Nation überhaupt.




Wozu diese Verteidigung? Nicht im Interesse der Berliner ist sie ge¬
schrieben worden; diese haben sie nicht nötig. Sie soll den Deutschen insge¬
samt zum Bewußtsein bringen helfen, wie sie sich ins eigne Fleisch schneiden,
wenn sie in die Verunglimpfung ihrer Reichshauptstadt einstimmen. Noch
heute gibt es freilich viele, die Berlin als solche nicht anerkennen wollen. Es
sei die Hauptstadt vou Preußen, meinen sie, eine „Reichshauptstadt" aber gebe
es in dein föderativem deutschen Staatswesen überhaupt nicht. Was will eine
solche staatsrechtliche Tüftelei besagen gegenüber der Wucht der tatsächlichen
Entwicklung? Berlin ist in weit Höheren Maße Reichshauptstadt geworden, als
sich nach der Verfassung des Reichs Hütte erwarten lassen. Und zwar ohne
jede künstliche Mache, rein durch das Gewicht des natürlichen Bedürfnisses.
Wer veranlaßt zum Beispiel den Bund der Landwirte, zum Sitz seiner jähr¬
lichen Riesenversammlung immer nur Berlin zu wühlen? Liebe zu den
Berlinern doch ganz gewiß nicht, sondern nur die Erwägung, daß diese Ver¬
anstaltung mit allem, was mit ihr zusammenhängt, sonstwo als in dieser
Riesenstadt überhaupt nicht durchführbar wäre. Es ist eben nicht anders: eine
politisch und wirtschaftlich geeinte Nation bedarf eines Zentralpunktes, in dem
alle großen materiellen und geistigen Strömungen ihres Lebens zusammen¬
fließen. Gebe man es zu oder nicht, von Jahr zu Jahr mehr ist es der Herz¬
schlag des deutschen Volks, den wir in Berlin vernehmen. Und weil dem so
ist. darum schmähen wir uns selbst, wenn wir Berlin und die Berliner
schmähen. Haben wir nicht vielmehr reichlich Grund, auf unsre Reichs¬
hauptstadt stolz zu sein? Kaum jemals in der Weltgeschichte ist ein großes
Stadtgebilde auf einem von der Natur so wenig begünstigten Boden so herrlich


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[0295] Für die Reichshauptstadt ihre Stadt mit der Zahl der Eheschließungen im ganzen Reiche obenan marschiert, zu ihren Gunsten ausgelegt zu sehen. Im Jahre 1904 kamen auf 1000 Einwohner Eheschließungen in Berlin 10,6, in ganz Preußen dagegen nur 8,1. im Reiche 8. stichhaltige Symptome, die das Vorurteil einer moralischen „Minder¬ wertigkeit" der Berliner Bevölkerung rechtfertigen könnten, gibt es nicht. Die Kriminalitätsstatistik weiß nichts davon, daß sich die Reichshauptstadt durch Zahl und Schwere der Verbrechen vor andern Städten oder Gegenden — selbst¬ verständlich verhältnismäßig betrachtet — hervortäte. Und dabei ist notorisch, daß eine solche Riesenstadt von den raffiniertesten Verbrechern der Provinz vielfach als Zufluchtsort ausgesucht wird, in der Hoffnung, hier untertauchen und sich dem Auge der Polizei leichter entziehen zu können. Wenn dies be¬ rücksichtigt wird, dürfte sich am Ende aller Enden ergeben, daß der moralische Gesamtzustcmd der Berliner Bevölkerung zum mindesten nicht niedriger zu be¬ werten ist als der der Nation überhaupt. Wozu diese Verteidigung? Nicht im Interesse der Berliner ist sie ge¬ schrieben worden; diese haben sie nicht nötig. Sie soll den Deutschen insge¬ samt zum Bewußtsein bringen helfen, wie sie sich ins eigne Fleisch schneiden, wenn sie in die Verunglimpfung ihrer Reichshauptstadt einstimmen. Noch heute gibt es freilich viele, die Berlin als solche nicht anerkennen wollen. Es sei die Hauptstadt vou Preußen, meinen sie, eine „Reichshauptstadt" aber gebe es in dein föderativem deutschen Staatswesen überhaupt nicht. Was will eine solche staatsrechtliche Tüftelei besagen gegenüber der Wucht der tatsächlichen Entwicklung? Berlin ist in weit Höheren Maße Reichshauptstadt geworden, als sich nach der Verfassung des Reichs Hütte erwarten lassen. Und zwar ohne jede künstliche Mache, rein durch das Gewicht des natürlichen Bedürfnisses. Wer veranlaßt zum Beispiel den Bund der Landwirte, zum Sitz seiner jähr¬ lichen Riesenversammlung immer nur Berlin zu wühlen? Liebe zu den Berlinern doch ganz gewiß nicht, sondern nur die Erwägung, daß diese Ver¬ anstaltung mit allem, was mit ihr zusammenhängt, sonstwo als in dieser Riesenstadt überhaupt nicht durchführbar wäre. Es ist eben nicht anders: eine politisch und wirtschaftlich geeinte Nation bedarf eines Zentralpunktes, in dem alle großen materiellen und geistigen Strömungen ihres Lebens zusammen¬ fließen. Gebe man es zu oder nicht, von Jahr zu Jahr mehr ist es der Herz¬ schlag des deutschen Volks, den wir in Berlin vernehmen. Und weil dem so ist. darum schmähen wir uns selbst, wenn wir Berlin und die Berliner schmähen. Haben wir nicht vielmehr reichlich Grund, auf unsre Reichs¬ hauptstadt stolz zu sein? Kaum jemals in der Weltgeschichte ist ein großes Stadtgebilde auf einem von der Natur so wenig begünstigten Boden so herrlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/295>, abgerufen am 06.02.2025.