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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

wunder Punkt der schlimmsten Art berührt. Aber auch hier kann ein gerechtes
Urteil nur mit kühler Erwägung der wirklichen Verhältnisse gefunden werden.
Die Prostitution aus der Welt schassen zu wollen, wäre ein aussichtsloses
Unternehmen. Sie hat bestanden, solange wir eine Geschichte der menschlichen
Kultur kennen, und sie wird wohl weiter bestehn, solange die Menschen Menschen
bleiben. Auf dem Wege wenigstens, aus dem die Verkünder einer auf den
Trümmern der heutigen Zivilisation zu errichtenden neuen Gesellschaft ihre
Abschaffung in Aussicht stellen, würden wir nur aus dem Regen in die Traufe
geraten. Die Frage aber, wie die Prostitution am zweckmäßigsten zu über¬
wache" und einzudämmen sei, um die Gefährdung der moralischen und der
physischen Gesundheit des Volkskörpers wirksam zu verhüten, hat allezeit zu
den umstrittensten Problemen der Polizei gehört. Gegen die in Berlin seit
nahezu einem halben Jahrhundert befolgte Methode läßt sich manches ein¬
wenden. Von Zeit zu Zeit eröffnet ein Strafprozeß erschreckende Einblicke
in das Treiben der Dirnen und ihrer bestialischer Zuhälter, und jedesmal ist
das betrübendste die Wahrnehmung, daß achtbare Leute, Erwcichsne und
Kinder, ohne ihr Zutun, nicht selten ahnungslos mit diesem Auswurf der
Menschheit uuter einem Dache hausen. Ein Schrei der Empörung geht dann
durch die Presse, durchgreifende Änderungen der Praxis werden verheißen,
bis der nächste Fall erkennen läßt, daß alles beim alten geblieben ist. An
der Stelle, die die Verantwortung trägt, bleibt man offenbar der Überzeugung,
daß andre Methoden ihre noch bedenklichem Seiten haben.

Es ist unmöglich, die Streitfrage hier zu entscheiden. Das aber darf mit
Bestimmtheit behauptet werden, daß zum mindesten eine schlimmere Rückwirkung
ans die allgemeine Moralität als in andern Großstädten nicht zu beweisen
ist. Man spricht von der hohen Zahl der unehelichen Geburten. Allerdings,
Berlin steht damit wohl unter allen deutschen Städten um der Spitze. Im
Jahre 1904 waren 16,3 Prozent der Geburten unehelich, während die ent¬
sprechende Zahl für ganz Preußen nur 7,1, für das Deutsche Reich 8,4 Prozent
beträgt. Gerade in Berlin aber hat es mit den unehelichen Geburten eine
eigne Bewandtnis. Es ist ein von Mädchen, die in der Provinz einen Fehl¬
tritt getan haben, überaus häufig angewandter Trick, sich schleunigst nach
Berlin zu vermieten, um hier, unbeobachtet von den Bekannten daheim, ihre
Niederkunft abzuwarten. Die Polizei von Großberlin, die Ärzte und zahllose
Hausfrauen wissen davon zu erzählen. Die Berliner Stadtverwaltung ver¬
fährt mit diesen unglücklichen, in vielen Fällen aufrichtig bedauernswerten
Personen sehr human, unbekümmert darum, daß sie die Geburtenstatistik der
Reichshauptstadt mit einem starken Makel belasten. Der aber, der aus dieser
Statistik allgemeine Schlüsse auf die Sittlichkeit ziehen will, wird diese eigen¬
artige Tatsache nicht übersehen dürfen. Wieviel von den unehelichen Geburten
in Wirklichkeit "den Berlinern" in Rechnung zu stellen ist, läßt sich überhaupt
nicht feststellen. Dagegen dürfen sie verlangen, die erfreuliche Tatsache, daß


Für die Reichshauptstadt

wunder Punkt der schlimmsten Art berührt. Aber auch hier kann ein gerechtes
Urteil nur mit kühler Erwägung der wirklichen Verhältnisse gefunden werden.
Die Prostitution aus der Welt schassen zu wollen, wäre ein aussichtsloses
Unternehmen. Sie hat bestanden, solange wir eine Geschichte der menschlichen
Kultur kennen, und sie wird wohl weiter bestehn, solange die Menschen Menschen
bleiben. Auf dem Wege wenigstens, aus dem die Verkünder einer auf den
Trümmern der heutigen Zivilisation zu errichtenden neuen Gesellschaft ihre
Abschaffung in Aussicht stellen, würden wir nur aus dem Regen in die Traufe
geraten. Die Frage aber, wie die Prostitution am zweckmäßigsten zu über¬
wache» und einzudämmen sei, um die Gefährdung der moralischen und der
physischen Gesundheit des Volkskörpers wirksam zu verhüten, hat allezeit zu
den umstrittensten Problemen der Polizei gehört. Gegen die in Berlin seit
nahezu einem halben Jahrhundert befolgte Methode läßt sich manches ein¬
wenden. Von Zeit zu Zeit eröffnet ein Strafprozeß erschreckende Einblicke
in das Treiben der Dirnen und ihrer bestialischer Zuhälter, und jedesmal ist
das betrübendste die Wahrnehmung, daß achtbare Leute, Erwcichsne und
Kinder, ohne ihr Zutun, nicht selten ahnungslos mit diesem Auswurf der
Menschheit uuter einem Dache hausen. Ein Schrei der Empörung geht dann
durch die Presse, durchgreifende Änderungen der Praxis werden verheißen,
bis der nächste Fall erkennen läßt, daß alles beim alten geblieben ist. An
der Stelle, die die Verantwortung trägt, bleibt man offenbar der Überzeugung,
daß andre Methoden ihre noch bedenklichem Seiten haben.

Es ist unmöglich, die Streitfrage hier zu entscheiden. Das aber darf mit
Bestimmtheit behauptet werden, daß zum mindesten eine schlimmere Rückwirkung
ans die allgemeine Moralität als in andern Großstädten nicht zu beweisen
ist. Man spricht von der hohen Zahl der unehelichen Geburten. Allerdings,
Berlin steht damit wohl unter allen deutschen Städten um der Spitze. Im
Jahre 1904 waren 16,3 Prozent der Geburten unehelich, während die ent¬
sprechende Zahl für ganz Preußen nur 7,1, für das Deutsche Reich 8,4 Prozent
beträgt. Gerade in Berlin aber hat es mit den unehelichen Geburten eine
eigne Bewandtnis. Es ist ein von Mädchen, die in der Provinz einen Fehl¬
tritt getan haben, überaus häufig angewandter Trick, sich schleunigst nach
Berlin zu vermieten, um hier, unbeobachtet von den Bekannten daheim, ihre
Niederkunft abzuwarten. Die Polizei von Großberlin, die Ärzte und zahllose
Hausfrauen wissen davon zu erzählen. Die Berliner Stadtverwaltung ver¬
fährt mit diesen unglücklichen, in vielen Fällen aufrichtig bedauernswerten
Personen sehr human, unbekümmert darum, daß sie die Geburtenstatistik der
Reichshauptstadt mit einem starken Makel belasten. Der aber, der aus dieser
Statistik allgemeine Schlüsse auf die Sittlichkeit ziehen will, wird diese eigen¬
artige Tatsache nicht übersehen dürfen. Wieviel von den unehelichen Geburten
in Wirklichkeit „den Berlinern" in Rechnung zu stellen ist, läßt sich überhaupt
nicht feststellen. Dagegen dürfen sie verlangen, die erfreuliche Tatsache, daß


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[0294] Für die Reichshauptstadt wunder Punkt der schlimmsten Art berührt. Aber auch hier kann ein gerechtes Urteil nur mit kühler Erwägung der wirklichen Verhältnisse gefunden werden. Die Prostitution aus der Welt schassen zu wollen, wäre ein aussichtsloses Unternehmen. Sie hat bestanden, solange wir eine Geschichte der menschlichen Kultur kennen, und sie wird wohl weiter bestehn, solange die Menschen Menschen bleiben. Auf dem Wege wenigstens, aus dem die Verkünder einer auf den Trümmern der heutigen Zivilisation zu errichtenden neuen Gesellschaft ihre Abschaffung in Aussicht stellen, würden wir nur aus dem Regen in die Traufe geraten. Die Frage aber, wie die Prostitution am zweckmäßigsten zu über¬ wache» und einzudämmen sei, um die Gefährdung der moralischen und der physischen Gesundheit des Volkskörpers wirksam zu verhüten, hat allezeit zu den umstrittensten Problemen der Polizei gehört. Gegen die in Berlin seit nahezu einem halben Jahrhundert befolgte Methode läßt sich manches ein¬ wenden. Von Zeit zu Zeit eröffnet ein Strafprozeß erschreckende Einblicke in das Treiben der Dirnen und ihrer bestialischer Zuhälter, und jedesmal ist das betrübendste die Wahrnehmung, daß achtbare Leute, Erwcichsne und Kinder, ohne ihr Zutun, nicht selten ahnungslos mit diesem Auswurf der Menschheit uuter einem Dache hausen. Ein Schrei der Empörung geht dann durch die Presse, durchgreifende Änderungen der Praxis werden verheißen, bis der nächste Fall erkennen läßt, daß alles beim alten geblieben ist. An der Stelle, die die Verantwortung trägt, bleibt man offenbar der Überzeugung, daß andre Methoden ihre noch bedenklichem Seiten haben. Es ist unmöglich, die Streitfrage hier zu entscheiden. Das aber darf mit Bestimmtheit behauptet werden, daß zum mindesten eine schlimmere Rückwirkung ans die allgemeine Moralität als in andern Großstädten nicht zu beweisen ist. Man spricht von der hohen Zahl der unehelichen Geburten. Allerdings, Berlin steht damit wohl unter allen deutschen Städten um der Spitze. Im Jahre 1904 waren 16,3 Prozent der Geburten unehelich, während die ent¬ sprechende Zahl für ganz Preußen nur 7,1, für das Deutsche Reich 8,4 Prozent beträgt. Gerade in Berlin aber hat es mit den unehelichen Geburten eine eigne Bewandtnis. Es ist ein von Mädchen, die in der Provinz einen Fehl¬ tritt getan haben, überaus häufig angewandter Trick, sich schleunigst nach Berlin zu vermieten, um hier, unbeobachtet von den Bekannten daheim, ihre Niederkunft abzuwarten. Die Polizei von Großberlin, die Ärzte und zahllose Hausfrauen wissen davon zu erzählen. Die Berliner Stadtverwaltung ver¬ fährt mit diesen unglücklichen, in vielen Fällen aufrichtig bedauernswerten Personen sehr human, unbekümmert darum, daß sie die Geburtenstatistik der Reichshauptstadt mit einem starken Makel belasten. Der aber, der aus dieser Statistik allgemeine Schlüsse auf die Sittlichkeit ziehen will, wird diese eigen¬ artige Tatsache nicht übersehen dürfen. Wieviel von den unehelichen Geburten in Wirklichkeit „den Berlinern" in Rechnung zu stellen ist, läßt sich überhaupt nicht feststellen. Dagegen dürfen sie verlangen, die erfreuliche Tatsache, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/294>, abgerufen am 06.02.2025.