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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Der Hauptmangel an dieser Verfassung liegt darin, daß sie ihre Autorität
nicht aus den Bedürfnissen der wesentlichen Kreise der Gesellschaft nimmt, sich
vielmehr in vielen bedeutungslosen Einzelfragen dem Drängen zufällig mächtiger
Cliquen unterworfen hat. Sie trägt darum Stempel aller Strömungen, die
von 1904 bis 1906 durch die politischen Salons Petersburgs geweht haben,
sozialistische ebenso wie feudale. Eine Prinzipienlosigkeit ohne Grenzen hat
große und kleine Fragen nebeneinander geordnet. Infolgedessen kann die Ver¬
fassung weder den liberalen Nationalisten noch den nationalen Monarchisten
noch der Regierung genügen, und die Regierung kann auch nicht mit einer
politischen Strömung als Bundesgenossin rechnen. Von der Gesellschaft in
allen Punkten angegriffen, muß die Regierung auf durchaus verfassungswidrige
Mittel, wie zum Beispiel auf die je nach Bedarf bestellten Senatsentscheidungen
zurückgreifen, um überhaupt von der Hand in den Mund leben zu können.
Alle Maßnahmen, die eine selbst nur scheinbare Solidarität der Regierung mit
der Gesellschaft hervorbringen sollten, wirken durchaus wider die Absichten eben
der Regierung. Das deutlichste Beispiel für das Scheitern der Regierungs¬
politik um Felsen der Wirklichkeit zeigt die Zusammensetzung der zweiten Reichs-
dnina. Was ist nicht alles verflicht worden, um die fortschrittlichen Kreise ihrer
Vertreter zu berauben! Wie viel Professoren, Adelsmarschälle, Angestellte und
Abgeordnete der Semstwo sind nicht auf Grund der Aufruhrparagraphen des
aktiven und passiven Wahlrechts entkleidet worden! Welche Unterstützung
wurde nicht dem Oktoberverbande zuteil! An die 80000 Vertreter des dritten
Elements befinden sich in der Verbannung! Und . . . .? die Regierung hat
von 524 Abgeordneten kaum 40, auf die sie sich verlassen könnte. Das Er¬
gebnis der Dumawahlen ist vom Standpunkte der Regierung noch viel ungünstiger
ausgefallen, als es an dieser Stelle^) vorausgesagt worden ist, und sogar
günstige Möglichkeiten, wie der Einfluß der hohen Geistlichkeit auf die Bauern,
haben sich nicht verwirklicht. Die Bauern, die ihr religiöses Empfinden trotz
der Landfrage auf der Seite der Absolutisten gehalten hatte, stehen heute ge¬
schlossen beim sozialrevolutionären Bauernhunde, wo ihnen klar gemacht worden
ist, es gebe kein andres Mittel, ihre Lage zu verbessern, als die Gewalt.
"Nicht gegen den Zaren richtet sich euer Tun, einzig gegen den Tschinownik
und Großgrundbesitzer, die den Zaren ebenso betrügen wie euch!" Die Re¬
gierung hat während der Wahlen zunächst die gebildeten Kreise des Volks,
die Kadetten und "Friedlichen Erneuerer" bekämpft, in der Hoffnung, an ihre
Stelle die Besitzenden von Stadt und Land setzen zu können. Dabei scheint
sie sich die Psyche der "Besitzenden", der "Bourgeois", wie die Sozialdemokraten
sagen, gar nicht klar gemacht zu haben. Sie hat vielmehr den russischen
Bourgeois nach westeuropäischem Maß gemessen, hat übersehen, daß im "faulen
Westen" die "Besitzenden" seit Jahrzehnten im politischen Kampf durch die


*) Grenzboten 1W7, Heft 11.
Russische Briefe

Der Hauptmangel an dieser Verfassung liegt darin, daß sie ihre Autorität
nicht aus den Bedürfnissen der wesentlichen Kreise der Gesellschaft nimmt, sich
vielmehr in vielen bedeutungslosen Einzelfragen dem Drängen zufällig mächtiger
Cliquen unterworfen hat. Sie trägt darum Stempel aller Strömungen, die
von 1904 bis 1906 durch die politischen Salons Petersburgs geweht haben,
sozialistische ebenso wie feudale. Eine Prinzipienlosigkeit ohne Grenzen hat
große und kleine Fragen nebeneinander geordnet. Infolgedessen kann die Ver¬
fassung weder den liberalen Nationalisten noch den nationalen Monarchisten
noch der Regierung genügen, und die Regierung kann auch nicht mit einer
politischen Strömung als Bundesgenossin rechnen. Von der Gesellschaft in
allen Punkten angegriffen, muß die Regierung auf durchaus verfassungswidrige
Mittel, wie zum Beispiel auf die je nach Bedarf bestellten Senatsentscheidungen
zurückgreifen, um überhaupt von der Hand in den Mund leben zu können.
Alle Maßnahmen, die eine selbst nur scheinbare Solidarität der Regierung mit
der Gesellschaft hervorbringen sollten, wirken durchaus wider die Absichten eben
der Regierung. Das deutlichste Beispiel für das Scheitern der Regierungs¬
politik um Felsen der Wirklichkeit zeigt die Zusammensetzung der zweiten Reichs-
dnina. Was ist nicht alles verflicht worden, um die fortschrittlichen Kreise ihrer
Vertreter zu berauben! Wie viel Professoren, Adelsmarschälle, Angestellte und
Abgeordnete der Semstwo sind nicht auf Grund der Aufruhrparagraphen des
aktiven und passiven Wahlrechts entkleidet worden! Welche Unterstützung
wurde nicht dem Oktoberverbande zuteil! An die 80000 Vertreter des dritten
Elements befinden sich in der Verbannung! Und . . . .? die Regierung hat
von 524 Abgeordneten kaum 40, auf die sie sich verlassen könnte. Das Er¬
gebnis der Dumawahlen ist vom Standpunkte der Regierung noch viel ungünstiger
ausgefallen, als es an dieser Stelle^) vorausgesagt worden ist, und sogar
günstige Möglichkeiten, wie der Einfluß der hohen Geistlichkeit auf die Bauern,
haben sich nicht verwirklicht. Die Bauern, die ihr religiöses Empfinden trotz
der Landfrage auf der Seite der Absolutisten gehalten hatte, stehen heute ge¬
schlossen beim sozialrevolutionären Bauernhunde, wo ihnen klar gemacht worden
ist, es gebe kein andres Mittel, ihre Lage zu verbessern, als die Gewalt.
„Nicht gegen den Zaren richtet sich euer Tun, einzig gegen den Tschinownik
und Großgrundbesitzer, die den Zaren ebenso betrügen wie euch!" Die Re¬
gierung hat während der Wahlen zunächst die gebildeten Kreise des Volks,
die Kadetten und „Friedlichen Erneuerer" bekämpft, in der Hoffnung, an ihre
Stelle die Besitzenden von Stadt und Land setzen zu können. Dabei scheint
sie sich die Psyche der „Besitzenden", der „Bourgeois", wie die Sozialdemokraten
sagen, gar nicht klar gemacht zu haben. Sie hat vielmehr den russischen
Bourgeois nach westeuropäischem Maß gemessen, hat übersehen, daß im „faulen
Westen" die „Besitzenden" seit Jahrzehnten im politischen Kampf durch die


*) Grenzboten 1W7, Heft 11.
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[0278] Russische Briefe Der Hauptmangel an dieser Verfassung liegt darin, daß sie ihre Autorität nicht aus den Bedürfnissen der wesentlichen Kreise der Gesellschaft nimmt, sich vielmehr in vielen bedeutungslosen Einzelfragen dem Drängen zufällig mächtiger Cliquen unterworfen hat. Sie trägt darum Stempel aller Strömungen, die von 1904 bis 1906 durch die politischen Salons Petersburgs geweht haben, sozialistische ebenso wie feudale. Eine Prinzipienlosigkeit ohne Grenzen hat große und kleine Fragen nebeneinander geordnet. Infolgedessen kann die Ver¬ fassung weder den liberalen Nationalisten noch den nationalen Monarchisten noch der Regierung genügen, und die Regierung kann auch nicht mit einer politischen Strömung als Bundesgenossin rechnen. Von der Gesellschaft in allen Punkten angegriffen, muß die Regierung auf durchaus verfassungswidrige Mittel, wie zum Beispiel auf die je nach Bedarf bestellten Senatsentscheidungen zurückgreifen, um überhaupt von der Hand in den Mund leben zu können. Alle Maßnahmen, die eine selbst nur scheinbare Solidarität der Regierung mit der Gesellschaft hervorbringen sollten, wirken durchaus wider die Absichten eben der Regierung. Das deutlichste Beispiel für das Scheitern der Regierungs¬ politik um Felsen der Wirklichkeit zeigt die Zusammensetzung der zweiten Reichs- dnina. Was ist nicht alles verflicht worden, um die fortschrittlichen Kreise ihrer Vertreter zu berauben! Wie viel Professoren, Adelsmarschälle, Angestellte und Abgeordnete der Semstwo sind nicht auf Grund der Aufruhrparagraphen des aktiven und passiven Wahlrechts entkleidet worden! Welche Unterstützung wurde nicht dem Oktoberverbande zuteil! An die 80000 Vertreter des dritten Elements befinden sich in der Verbannung! Und . . . .? die Regierung hat von 524 Abgeordneten kaum 40, auf die sie sich verlassen könnte. Das Er¬ gebnis der Dumawahlen ist vom Standpunkte der Regierung noch viel ungünstiger ausgefallen, als es an dieser Stelle^) vorausgesagt worden ist, und sogar günstige Möglichkeiten, wie der Einfluß der hohen Geistlichkeit auf die Bauern, haben sich nicht verwirklicht. Die Bauern, die ihr religiöses Empfinden trotz der Landfrage auf der Seite der Absolutisten gehalten hatte, stehen heute ge¬ schlossen beim sozialrevolutionären Bauernhunde, wo ihnen klar gemacht worden ist, es gebe kein andres Mittel, ihre Lage zu verbessern, als die Gewalt. „Nicht gegen den Zaren richtet sich euer Tun, einzig gegen den Tschinownik und Großgrundbesitzer, die den Zaren ebenso betrügen wie euch!" Die Re¬ gierung hat während der Wahlen zunächst die gebildeten Kreise des Volks, die Kadetten und „Friedlichen Erneuerer" bekämpft, in der Hoffnung, an ihre Stelle die Besitzenden von Stadt und Land setzen zu können. Dabei scheint sie sich die Psyche der „Besitzenden", der „Bourgeois", wie die Sozialdemokraten sagen, gar nicht klar gemacht zu haben. Sie hat vielmehr den russischen Bourgeois nach westeuropäischem Maß gemessen, hat übersehen, daß im „faulen Westen" die „Besitzenden" seit Jahrzehnten im politischen Kampf durch die *) Grenzboten 1W7, Heft 11.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/278>, abgerufen am 05.02.2025.