Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Fntz swvenh^ge"

kommenden, de" Lustigmacher und den Schwächling, den Rechthaber und den
Spieler auseiuanderzuhalteui und da lebt in dem tosenden Wirrwarr, der stellen
weise über die Szene hereinbricht, jeder sein eignes Leben weiter als ein Mensch,
den nur kennen. Ich kann, wie ich es bei einer andern Gelegenheit getan habe,
auch jetzt nur sagen, daß mir eine gleich große Kunst der Individualisierung
von Massen außer in Gerhart Hauptmanns "Webern", die ich an sich natürlich
trotzdem noch weit über den "Dütschen Michel" stelle, in der deutschen Dramatik
der Gegenwart nicht wieder vorgekommen ist. steifer und weniger lebendig
wirken demgegenüber freilich die Personen der sogenannten Gesellschaft. Sie
waren nicht mit Herzblut geschaffen, sie sind mehr Produkte des Kopfes gewesen.
Aber bei ihrer Behandlung im "Dütschen Michel" offenbart Stavenhagen einen
völlig neuen Zug, der, wie mir scheint, erst der Anfang zu einer spätern großen
Entwicklung ist. Der Graf entflieht nämlich nach einem furchtbaren Zwist mit
seinen Bauern, läßt einen toten Bettler in seinen Kleidern zurück und erscheint
den Bauern, die jene Leiche als die seine begraben haben, auf einer Schaubühne,
die fahrende Komödianten im Dorfe aufschlagen. Hier spielt er ihnen den Grafen,
der sie mißhandelt und mißachtet hat, vor; die Dörfler aber prügeln ihn für
diese Verhöhnung ihres Herrn durch und wollen von der Bitte des dargestellten
Gwfeu um Verzeihung nichts wissen. Da liegt der Zug einer echten Tragi¬
komödie, und man kann wohl mit Adolf Bartels hier etwas wie spezifisch nieder¬
deutsche Romantik sehen.

Wie entwicklungsfähig dieses Talent war, das zeigt so recht das Gegen¬
stück zum "Dütschen Michel", die "Mutter Mews". Verlaufe dort alles ins
Weite, trotz der dürftigen Enge, so bleibt hier der Konflikt im Kleinen, ja wenn
mau will im Kleinlichen stecken -- sogar einen Zug des Peinlichen wird man
vor diesem Lebensbilde schwer los. So erweckt denn insbesondre der Schluß
keine reinen Empfindungen in uns. Nicht naturnotwendig erscheint uns der Tod
der jungen Frau durch die Nörgelsucht der Schwiegermutter, durch ihr unleid¬
liches Auftreten gegeben, und die Schwäche des Mannes geht uns zu weit, als
daß sie am Ende' tragisches Mitleiden in uns aufkommen ließe. Aber mit
lebensvoller Echtheit in Tun und Haben sind auch diese und gerade diese
Menschen gegeben, und wer als ein Mann in der Mitte der Zwanzig ein solches
Stück schreiben konnte, der konnte auch auf diesem Gebiete mehr und Größeres.

Er konnte mehr und Größeres insbesondre auch für unser an zeugenden
Kräften wahrlich nicht reiches Theater. In Stavenhagens ganzem Lebenswerk,
""es in dem kleinen Drama "Der Lotse", auch in der nach meinem Gefühl
schwächer" Komödie "De ruge Hoff" ist nicht ein Zug, nicht ein Auftritt, ich
möchte sage": nicht eine Gebärde, die nicht den Gesetzen der Bühne gemäß
wäre. Die Motivierung der Auftritte, das Ineinandergreifen der Gespräche und
der Szenen, der Aufbau der einzelnen Akte, die intimen Gespräche und der
Zusammenprall der Massen - eines ist so bühnengerecht wie das andre, und
ein berufner Kenner, Karl Heine, hat mir bezeugt, daß ihm eine so eingeborne


Fntz swvenh^ge»

kommenden, de» Lustigmacher und den Schwächling, den Rechthaber und den
Spieler auseiuanderzuhalteui und da lebt in dem tosenden Wirrwarr, der stellen
weise über die Szene hereinbricht, jeder sein eignes Leben weiter als ein Mensch,
den nur kennen. Ich kann, wie ich es bei einer andern Gelegenheit getan habe,
auch jetzt nur sagen, daß mir eine gleich große Kunst der Individualisierung
von Massen außer in Gerhart Hauptmanns „Webern", die ich an sich natürlich
trotzdem noch weit über den „Dütschen Michel" stelle, in der deutschen Dramatik
der Gegenwart nicht wieder vorgekommen ist. steifer und weniger lebendig
wirken demgegenüber freilich die Personen der sogenannten Gesellschaft. Sie
waren nicht mit Herzblut geschaffen, sie sind mehr Produkte des Kopfes gewesen.
Aber bei ihrer Behandlung im „Dütschen Michel" offenbart Stavenhagen einen
völlig neuen Zug, der, wie mir scheint, erst der Anfang zu einer spätern großen
Entwicklung ist. Der Graf entflieht nämlich nach einem furchtbaren Zwist mit
seinen Bauern, läßt einen toten Bettler in seinen Kleidern zurück und erscheint
den Bauern, die jene Leiche als die seine begraben haben, auf einer Schaubühne,
die fahrende Komödianten im Dorfe aufschlagen. Hier spielt er ihnen den Grafen,
der sie mißhandelt und mißachtet hat, vor; die Dörfler aber prügeln ihn für
diese Verhöhnung ihres Herrn durch und wollen von der Bitte des dargestellten
Gwfeu um Verzeihung nichts wissen. Da liegt der Zug einer echten Tragi¬
komödie, und man kann wohl mit Adolf Bartels hier etwas wie spezifisch nieder¬
deutsche Romantik sehen.

Wie entwicklungsfähig dieses Talent war, das zeigt so recht das Gegen¬
stück zum „Dütschen Michel", die „Mutter Mews". Verlaufe dort alles ins
Weite, trotz der dürftigen Enge, so bleibt hier der Konflikt im Kleinen, ja wenn
mau will im Kleinlichen stecken — sogar einen Zug des Peinlichen wird man
vor diesem Lebensbilde schwer los. So erweckt denn insbesondre der Schluß
keine reinen Empfindungen in uns. Nicht naturnotwendig erscheint uns der Tod
der jungen Frau durch die Nörgelsucht der Schwiegermutter, durch ihr unleid¬
liches Auftreten gegeben, und die Schwäche des Mannes geht uns zu weit, als
daß sie am Ende' tragisches Mitleiden in uns aufkommen ließe. Aber mit
lebensvoller Echtheit in Tun und Haben sind auch diese und gerade diese
Menschen gegeben, und wer als ein Mann in der Mitte der Zwanzig ein solches
Stück schreiben konnte, der konnte auch auf diesem Gebiete mehr und Größeres.

Er konnte mehr und Größeres insbesondre auch für unser an zeugenden
Kräften wahrlich nicht reiches Theater. In Stavenhagens ganzem Lebenswerk,
""es in dem kleinen Drama „Der Lotse", auch in der nach meinem Gefühl
schwächer» Komödie „De ruge Hoff" ist nicht ein Zug, nicht ein Auftritt, ich
möchte sage«: nicht eine Gebärde, die nicht den Gesetzen der Bühne gemäß
wäre. Die Motivierung der Auftritte, das Ineinandergreifen der Gespräche und
der Szenen, der Aufbau der einzelnen Akte, die intimen Gespräche und der
Zusammenprall der Massen - eines ist so bühnengerecht wie das andre, und
ein berufner Kenner, Karl Heine, hat mir bezeugt, daß ihm eine so eingeborne


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302239"/>
          <fw type="header" place="top"> Fntz swvenh^ge»</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1098" prev="#ID_1097"> kommenden, de» Lustigmacher und den Schwächling, den Rechthaber und den<lb/>
Spieler auseiuanderzuhalteui und da lebt in dem tosenden Wirrwarr, der stellen<lb/>
weise über die Szene hereinbricht, jeder sein eignes Leben weiter als ein Mensch,<lb/>
den nur kennen. Ich kann, wie ich es bei einer andern Gelegenheit getan habe,<lb/>
auch jetzt nur sagen, daß mir eine gleich große Kunst der Individualisierung<lb/>
von Massen außer in Gerhart Hauptmanns &#x201E;Webern", die ich an sich natürlich<lb/>
trotzdem noch weit über den &#x201E;Dütschen Michel" stelle, in der deutschen Dramatik<lb/>
der Gegenwart nicht wieder vorgekommen ist. steifer und weniger lebendig<lb/>
wirken demgegenüber freilich die Personen der sogenannten Gesellschaft. Sie<lb/>
waren nicht mit Herzblut geschaffen, sie sind mehr Produkte des Kopfes gewesen.<lb/>
Aber bei ihrer Behandlung im &#x201E;Dütschen Michel" offenbart Stavenhagen einen<lb/>
völlig neuen Zug, der, wie mir scheint, erst der Anfang zu einer spätern großen<lb/>
Entwicklung ist. Der Graf entflieht nämlich nach einem furchtbaren Zwist mit<lb/>
seinen Bauern, läßt einen toten Bettler in seinen Kleidern zurück und erscheint<lb/>
den Bauern, die jene Leiche als die seine begraben haben, auf einer Schaubühne,<lb/>
die fahrende Komödianten im Dorfe aufschlagen. Hier spielt er ihnen den Grafen,<lb/>
der sie mißhandelt und mißachtet hat, vor; die Dörfler aber prügeln ihn für<lb/>
diese Verhöhnung ihres Herrn durch und wollen von der Bitte des dargestellten<lb/>
Gwfeu um Verzeihung nichts wissen. Da liegt der Zug einer echten Tragi¬<lb/>
komödie, und man kann wohl mit Adolf Bartels hier etwas wie spezifisch nieder¬<lb/>
deutsche Romantik sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1099"> Wie entwicklungsfähig dieses Talent war, das zeigt so recht das Gegen¬<lb/>
stück zum &#x201E;Dütschen Michel", die &#x201E;Mutter Mews". Verlaufe dort alles ins<lb/>
Weite, trotz der dürftigen Enge, so bleibt hier der Konflikt im Kleinen, ja wenn<lb/>
mau will im Kleinlichen stecken &#x2014; sogar einen Zug des Peinlichen wird man<lb/>
vor diesem Lebensbilde schwer los. So erweckt denn insbesondre der Schluß<lb/>
keine reinen Empfindungen in uns. Nicht naturnotwendig erscheint uns der Tod<lb/>
der jungen Frau durch die Nörgelsucht der Schwiegermutter, durch ihr unleid¬<lb/>
liches Auftreten gegeben, und die Schwäche des Mannes geht uns zu weit, als<lb/>
daß sie am Ende' tragisches Mitleiden in uns aufkommen ließe. Aber mit<lb/>
lebensvoller Echtheit in Tun und Haben sind auch diese und gerade diese<lb/>
Menschen gegeben, und wer als ein Mann in der Mitte der Zwanzig ein solches<lb/>
Stück schreiben konnte, der konnte auch auf diesem Gebiete mehr und Größeres.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1100" next="#ID_1101"> Er konnte mehr und Größeres insbesondre auch für unser an zeugenden<lb/>
Kräften wahrlich nicht reiches Theater. In Stavenhagens ganzem Lebenswerk,<lb/>
""es in dem kleinen Drama &#x201E;Der Lotse", auch in der nach meinem Gefühl<lb/>
schwächer» Komödie &#x201E;De ruge Hoff" ist nicht ein Zug, nicht ein Auftritt, ich<lb/>
möchte sage«: nicht eine Gebärde, die nicht den Gesetzen der Bühne gemäß<lb/>
wäre. Die Motivierung der Auftritte, das Ineinandergreifen der Gespräche und<lb/>
der Szenen, der Aufbau der einzelnen Akte, die intimen Gespräche und der<lb/>
Zusammenprall der Massen - eines ist so bühnengerecht wie das andre, und<lb/>
ein berufner Kenner, Karl Heine, hat mir bezeugt, daß ihm eine so eingeborne</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0251] Fntz swvenh^ge» kommenden, de» Lustigmacher und den Schwächling, den Rechthaber und den Spieler auseiuanderzuhalteui und da lebt in dem tosenden Wirrwarr, der stellen weise über die Szene hereinbricht, jeder sein eignes Leben weiter als ein Mensch, den nur kennen. Ich kann, wie ich es bei einer andern Gelegenheit getan habe, auch jetzt nur sagen, daß mir eine gleich große Kunst der Individualisierung von Massen außer in Gerhart Hauptmanns „Webern", die ich an sich natürlich trotzdem noch weit über den „Dütschen Michel" stelle, in der deutschen Dramatik der Gegenwart nicht wieder vorgekommen ist. steifer und weniger lebendig wirken demgegenüber freilich die Personen der sogenannten Gesellschaft. Sie waren nicht mit Herzblut geschaffen, sie sind mehr Produkte des Kopfes gewesen. Aber bei ihrer Behandlung im „Dütschen Michel" offenbart Stavenhagen einen völlig neuen Zug, der, wie mir scheint, erst der Anfang zu einer spätern großen Entwicklung ist. Der Graf entflieht nämlich nach einem furchtbaren Zwist mit seinen Bauern, läßt einen toten Bettler in seinen Kleidern zurück und erscheint den Bauern, die jene Leiche als die seine begraben haben, auf einer Schaubühne, die fahrende Komödianten im Dorfe aufschlagen. Hier spielt er ihnen den Grafen, der sie mißhandelt und mißachtet hat, vor; die Dörfler aber prügeln ihn für diese Verhöhnung ihres Herrn durch und wollen von der Bitte des dargestellten Gwfeu um Verzeihung nichts wissen. Da liegt der Zug einer echten Tragi¬ komödie, und man kann wohl mit Adolf Bartels hier etwas wie spezifisch nieder¬ deutsche Romantik sehen. Wie entwicklungsfähig dieses Talent war, das zeigt so recht das Gegen¬ stück zum „Dütschen Michel", die „Mutter Mews". Verlaufe dort alles ins Weite, trotz der dürftigen Enge, so bleibt hier der Konflikt im Kleinen, ja wenn mau will im Kleinlichen stecken — sogar einen Zug des Peinlichen wird man vor diesem Lebensbilde schwer los. So erweckt denn insbesondre der Schluß keine reinen Empfindungen in uns. Nicht naturnotwendig erscheint uns der Tod der jungen Frau durch die Nörgelsucht der Schwiegermutter, durch ihr unleid¬ liches Auftreten gegeben, und die Schwäche des Mannes geht uns zu weit, als daß sie am Ende' tragisches Mitleiden in uns aufkommen ließe. Aber mit lebensvoller Echtheit in Tun und Haben sind auch diese und gerade diese Menschen gegeben, und wer als ein Mann in der Mitte der Zwanzig ein solches Stück schreiben konnte, der konnte auch auf diesem Gebiete mehr und Größeres. Er konnte mehr und Größeres insbesondre auch für unser an zeugenden Kräften wahrlich nicht reiches Theater. In Stavenhagens ganzem Lebenswerk, ""es in dem kleinen Drama „Der Lotse", auch in der nach meinem Gefühl schwächer» Komödie „De ruge Hoff" ist nicht ein Zug, nicht ein Auftritt, ich möchte sage«: nicht eine Gebärde, die nicht den Gesetzen der Bühne gemäß wäre. Die Motivierung der Auftritte, das Ineinandergreifen der Gespräche und der Szenen, der Aufbau der einzelnen Akte, die intimen Gespräche und der Zusammenprall der Massen - eines ist so bühnengerecht wie das andre, und ein berufner Kenner, Karl Heine, hat mir bezeugt, daß ihm eine so eingeborne

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/251>, abgerufen am 06.02.2025.