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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

behaglich in der vvrnehmenAbgeschlossenheit wohlgelüfteter Räume, in gepolsterten
Sessel auf Teppich und Parkett; er fühlt sich nur wohl in der rauchgeschwängerten
Atmosphäre seines Stammtisches, wie sie ehedem war und much in den modernen
Bierpalästen uicht viel besser geworden ist. So kommt es, daß das sogenannte
Berliner Nachtleben, das im Gründe vielleicht nicht viel anders ist als zum
Beispiel das Londoner, infolge unsrer besondern Gewohnheiten in der Öffent¬
lichkeit weit auffälliger in die Erscheinung tritt als irgendwo sonst. Warum es
deshalb aber als unmoralischer verschrien werden dürfte, ist nicht einzusehen.

Freilich, die harmlose Geselligkeit der aufkündigen Restaurants wollen die
Ankläger nicht gemeint haben. Der eigentliche Gegenstand ihrer Kritik sind
die zahlreichen "Lokale" zweifelhafter Natur. Diese sind gewiß keine erfreu¬
liche Erscheinung. Aber eine Spezialität Berlins sind sie nicht, weder der
Qualität noch auch nur der Quantität nach. Man ereifert sich über die
"Tingeltangel". Verhältnismäßig sind ihrer aber schwerlich mehr als vor
einem Menschenalter, und die Lakvs olmutAnts von Montmartre werden ihnen,
was die Leistungen anlangt, wohl auch heute noch "über" sein. Daß die
Polizei wohl daran ente, solche "Darbietungen" ganz zu untersagen, wird kein
Verständiger behaupten wollen; denn der Hang zu witziger Verspottung der
menschlichen Dinge steckt so tief in unsrer Natur, daß seine Ausrottung
schwerlich gelingen würde. Die staatlichen Gewalten haben nur darüber zu
wachen, daß der Sittlichkeit kein ernster Schaden zugefügt wird. Es ist nicht
erwiesen, daß sie in Berlin dieser Pflicht bisher nicht nachgekommen wären.

Eine Neuerung im Nachtleben Berlins sind die Kabaretts. Das ästhetische
Urteil über diese "Kunstform", die der Erfinder des "Überbrettls" in die Welt
gesetzt hat, ist längst gesprochen; sie ist eine Verirrung. Vom moralischen
Standpunkte betrachtet aber sind die Kabaretts sicherlich nicht schlimmer als
die Theater mit anzüglichen Stücken oder die Tingeltangel. Wen es also
gelüstet, sich gegen Erlegung eines nicht gerade geringen Eintrittsgeldes mit
oft recht geistlosen Produktionen langweilen zu lassen, den braucht man nicht
daran zu hindern. Warum es aber nötig ist, daß diese Aufführungen gerade
zwischen elf und vier Uhr nachts stattfinden, ist schwer einzusehen. Vielleicht
hat man dies nur gestattet, weil sich schon vorher gezeigt hatte, daß die Be¬
dingung der polizeilichen Erlaubnis unter der Form der privaten Einladung
leicht zu umgehen war. Vielleicht aber hat man sich auch darauf verlassen, daß
sich die alberne Mode rasch überleben werde. Es mag ja anspruchslosen Ge¬
mütern auf den ersten Blick sehr originell erscheinen, ein Mittel geboten zu
erhalten, mit dem sie in der Nacht, da niemand wirken kann, auf so angenehme
Weise die Zeit totschlagen können. Bald genug aber werden sie innewerden,
daß ein gesunder Schlaf doch mehr wert ist als alle Überbrettelei. Und so
darf man wohl hoffen, daß die Kabaretts von der Bildflüche verschwunden sein
werden, ehe noch ein polizeiliches Einschreiten gegen diesen Mißbrauch der
Nacht zur zwingenden Notwendigkeit wird.


Grenzboten II 1907 ZU
Für die Reichshauptstadt

behaglich in der vvrnehmenAbgeschlossenheit wohlgelüfteter Räume, in gepolsterten
Sessel auf Teppich und Parkett; er fühlt sich nur wohl in der rauchgeschwängerten
Atmosphäre seines Stammtisches, wie sie ehedem war und much in den modernen
Bierpalästen uicht viel besser geworden ist. So kommt es, daß das sogenannte
Berliner Nachtleben, das im Gründe vielleicht nicht viel anders ist als zum
Beispiel das Londoner, infolge unsrer besondern Gewohnheiten in der Öffent¬
lichkeit weit auffälliger in die Erscheinung tritt als irgendwo sonst. Warum es
deshalb aber als unmoralischer verschrien werden dürfte, ist nicht einzusehen.

Freilich, die harmlose Geselligkeit der aufkündigen Restaurants wollen die
Ankläger nicht gemeint haben. Der eigentliche Gegenstand ihrer Kritik sind
die zahlreichen „Lokale" zweifelhafter Natur. Diese sind gewiß keine erfreu¬
liche Erscheinung. Aber eine Spezialität Berlins sind sie nicht, weder der
Qualität noch auch nur der Quantität nach. Man ereifert sich über die
„Tingeltangel". Verhältnismäßig sind ihrer aber schwerlich mehr als vor
einem Menschenalter, und die Lakvs olmutAnts von Montmartre werden ihnen,
was die Leistungen anlangt, wohl auch heute noch „über" sein. Daß die
Polizei wohl daran ente, solche „Darbietungen" ganz zu untersagen, wird kein
Verständiger behaupten wollen; denn der Hang zu witziger Verspottung der
menschlichen Dinge steckt so tief in unsrer Natur, daß seine Ausrottung
schwerlich gelingen würde. Die staatlichen Gewalten haben nur darüber zu
wachen, daß der Sittlichkeit kein ernster Schaden zugefügt wird. Es ist nicht
erwiesen, daß sie in Berlin dieser Pflicht bisher nicht nachgekommen wären.

Eine Neuerung im Nachtleben Berlins sind die Kabaretts. Das ästhetische
Urteil über diese „Kunstform", die der Erfinder des „Überbrettls" in die Welt
gesetzt hat, ist längst gesprochen; sie ist eine Verirrung. Vom moralischen
Standpunkte betrachtet aber sind die Kabaretts sicherlich nicht schlimmer als
die Theater mit anzüglichen Stücken oder die Tingeltangel. Wen es also
gelüstet, sich gegen Erlegung eines nicht gerade geringen Eintrittsgeldes mit
oft recht geistlosen Produktionen langweilen zu lassen, den braucht man nicht
daran zu hindern. Warum es aber nötig ist, daß diese Aufführungen gerade
zwischen elf und vier Uhr nachts stattfinden, ist schwer einzusehen. Vielleicht
hat man dies nur gestattet, weil sich schon vorher gezeigt hatte, daß die Be¬
dingung der polizeilichen Erlaubnis unter der Form der privaten Einladung
leicht zu umgehen war. Vielleicht aber hat man sich auch darauf verlassen, daß
sich die alberne Mode rasch überleben werde. Es mag ja anspruchslosen Ge¬
mütern auf den ersten Blick sehr originell erscheinen, ein Mittel geboten zu
erhalten, mit dem sie in der Nacht, da niemand wirken kann, auf so angenehme
Weise die Zeit totschlagen können. Bald genug aber werden sie innewerden,
daß ein gesunder Schlaf doch mehr wert ist als alle Überbrettelei. Und so
darf man wohl hoffen, daß die Kabaretts von der Bildflüche verschwunden sein
werden, ehe noch ein polizeiliches Einschreiten gegen diesen Mißbrauch der
Nacht zur zwingenden Notwendigkeit wird.


Grenzboten II 1907 ZU
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/233>, abgerufen am 06.02.2025.