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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

von keinem andern Punkte in solchem Maße die entscheidenden Impulse für
das Leben ausgehen wie von hier. Darum hat die gesamte Nation nicht nur
ein hohes Interesse daran, sondern sie ist auch mit verantwortlich dafür, daß
sich die Reichshauptstadt in jeder Hinsicht gesunder Verhältnisse erfreut. Und
wenn auch nur der Schein einer Berechtigung vorliegt, an dieser Gesundheit
zu zweifeln, ist es, schon um das Vertrauen der Nation zu sich selbst nicht zu
gefährden, eine patriotische Pflicht, diesen Zweifeln auf den Grund zu gehen.




Es ist wahr, das Nachtleben Berlins findet in gewisser Beziehung nirgends
seinesgleichen. Ein mitternächtliches Menschengedrünge, wie man es in der
Friedrichstraße beobachten kann, kennt keine andre Weltstadt. Ebensowenig
eine solche Fülle bis in die tiefe Nacht hinein vollbesetzter Restaurants jeder
Art. Zum Teil hängt das mit einem deutschen Nationalfehler, zum Teil mit
einer der besten Tugenden Berlins zusammen. Der Fehler ist unser Hang
zum Kneipenleben, die Tugend liegt in dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit
der Arbeit. In keiner andern europäischen Hauptstadt dauert das schaffende
Tagewerk so lange wie in Berlin, und zwar ein Tagewerk fast ohne Unter¬
brechung. Natürlich fällt die Zeit der Erholung auf den späten Abend. Daher
auch die Sitte, nach dem Theater noch irgendwo speisen zu gehen. In Paris
hat der Bourgeois seine Hauptmahlzeit in aller Behaglichkeit vor dem Theater
eingenommen, für den Rest des Tages hat er kein leibliches Bedürfnis mehr.
Daß diese Einrichtung ihre Vorzüge hat, ist nicht zu bestreiten. Für Berlin
aber paßt sie nicht, weil keine Zeit dazu ist. Desgleichen gibt es für die große
Masse der Berliner weder Früh- noch Dämmerschoppen, noch auch den nach¬
mittäglichen Kaffeehausbesuch, der nicht nur in Frankreich und Italien, sondern
auch in weiten Gegenden Süddeutschlands zu den angebornen Menschenrechten
des braven Bürgers gehört. Da jedoch auch in Berlin der Mensch ein Gesell¬
schaftstier ist und das Bedürfnis hat, mit Seinesgleichen die Gedanken aus¬
zutauschen, so bleibt eben nur der späte Abend für ein gemütliches Zusammen¬
kommen.

Was Wunder, daß es sich in den Bier- und Weinhäusern zu keiner andern
Zeit des Tages drängt wie in den Stunden um Mitternacht? Klubs, mit
denen London so reich gesegnet ist, sind in Berlin so gut wie unbekannt. Es
gibt ihrer einige, aber von so exklusiver Natur, daß sie nicht einmal der ganzen
Schicht der obersten Zehntausend zugänglich sind; das große Publikum erfährt
von ihnen nur, wenn die Zeitungen aus ihnen eine besondre Veranstaltung
oder einen Skandal zu berichten haben, was übrigens äußerst selten vorkommt.
An Versuchen, die englische Einrichtung nach der deutschen Reichshauptstadt
zu verpflanzen, hat es nicht gefehlt; wer lange genug in Berlin gelebt hat,
wird mehr als einmal Gelegenheit gehabt haben, das Scheitern solcher Gründungen
aus nächster Nähe zu beobachten. Dem echten Deutschen ist es beim Bier nicht


Für die Reichshauptstadt

von keinem andern Punkte in solchem Maße die entscheidenden Impulse für
das Leben ausgehen wie von hier. Darum hat die gesamte Nation nicht nur
ein hohes Interesse daran, sondern sie ist auch mit verantwortlich dafür, daß
sich die Reichshauptstadt in jeder Hinsicht gesunder Verhältnisse erfreut. Und
wenn auch nur der Schein einer Berechtigung vorliegt, an dieser Gesundheit
zu zweifeln, ist es, schon um das Vertrauen der Nation zu sich selbst nicht zu
gefährden, eine patriotische Pflicht, diesen Zweifeln auf den Grund zu gehen.




Es ist wahr, das Nachtleben Berlins findet in gewisser Beziehung nirgends
seinesgleichen. Ein mitternächtliches Menschengedrünge, wie man es in der
Friedrichstraße beobachten kann, kennt keine andre Weltstadt. Ebensowenig
eine solche Fülle bis in die tiefe Nacht hinein vollbesetzter Restaurants jeder
Art. Zum Teil hängt das mit einem deutschen Nationalfehler, zum Teil mit
einer der besten Tugenden Berlins zusammen. Der Fehler ist unser Hang
zum Kneipenleben, die Tugend liegt in dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit
der Arbeit. In keiner andern europäischen Hauptstadt dauert das schaffende
Tagewerk so lange wie in Berlin, und zwar ein Tagewerk fast ohne Unter¬
brechung. Natürlich fällt die Zeit der Erholung auf den späten Abend. Daher
auch die Sitte, nach dem Theater noch irgendwo speisen zu gehen. In Paris
hat der Bourgeois seine Hauptmahlzeit in aller Behaglichkeit vor dem Theater
eingenommen, für den Rest des Tages hat er kein leibliches Bedürfnis mehr.
Daß diese Einrichtung ihre Vorzüge hat, ist nicht zu bestreiten. Für Berlin
aber paßt sie nicht, weil keine Zeit dazu ist. Desgleichen gibt es für die große
Masse der Berliner weder Früh- noch Dämmerschoppen, noch auch den nach¬
mittäglichen Kaffeehausbesuch, der nicht nur in Frankreich und Italien, sondern
auch in weiten Gegenden Süddeutschlands zu den angebornen Menschenrechten
des braven Bürgers gehört. Da jedoch auch in Berlin der Mensch ein Gesell¬
schaftstier ist und das Bedürfnis hat, mit Seinesgleichen die Gedanken aus¬
zutauschen, so bleibt eben nur der späte Abend für ein gemütliches Zusammen¬
kommen.

Was Wunder, daß es sich in den Bier- und Weinhäusern zu keiner andern
Zeit des Tages drängt wie in den Stunden um Mitternacht? Klubs, mit
denen London so reich gesegnet ist, sind in Berlin so gut wie unbekannt. Es
gibt ihrer einige, aber von so exklusiver Natur, daß sie nicht einmal der ganzen
Schicht der obersten Zehntausend zugänglich sind; das große Publikum erfährt
von ihnen nur, wenn die Zeitungen aus ihnen eine besondre Veranstaltung
oder einen Skandal zu berichten haben, was übrigens äußerst selten vorkommt.
An Versuchen, die englische Einrichtung nach der deutschen Reichshauptstadt
zu verpflanzen, hat es nicht gefehlt; wer lange genug in Berlin gelebt hat,
wird mehr als einmal Gelegenheit gehabt haben, das Scheitern solcher Gründungen
aus nächster Nähe zu beobachten. Dem echten Deutschen ist es beim Bier nicht


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[0232] Für die Reichshauptstadt von keinem andern Punkte in solchem Maße die entscheidenden Impulse für das Leben ausgehen wie von hier. Darum hat die gesamte Nation nicht nur ein hohes Interesse daran, sondern sie ist auch mit verantwortlich dafür, daß sich die Reichshauptstadt in jeder Hinsicht gesunder Verhältnisse erfreut. Und wenn auch nur der Schein einer Berechtigung vorliegt, an dieser Gesundheit zu zweifeln, ist es, schon um das Vertrauen der Nation zu sich selbst nicht zu gefährden, eine patriotische Pflicht, diesen Zweifeln auf den Grund zu gehen. Es ist wahr, das Nachtleben Berlins findet in gewisser Beziehung nirgends seinesgleichen. Ein mitternächtliches Menschengedrünge, wie man es in der Friedrichstraße beobachten kann, kennt keine andre Weltstadt. Ebensowenig eine solche Fülle bis in die tiefe Nacht hinein vollbesetzter Restaurants jeder Art. Zum Teil hängt das mit einem deutschen Nationalfehler, zum Teil mit einer der besten Tugenden Berlins zusammen. Der Fehler ist unser Hang zum Kneipenleben, die Tugend liegt in dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit der Arbeit. In keiner andern europäischen Hauptstadt dauert das schaffende Tagewerk so lange wie in Berlin, und zwar ein Tagewerk fast ohne Unter¬ brechung. Natürlich fällt die Zeit der Erholung auf den späten Abend. Daher auch die Sitte, nach dem Theater noch irgendwo speisen zu gehen. In Paris hat der Bourgeois seine Hauptmahlzeit in aller Behaglichkeit vor dem Theater eingenommen, für den Rest des Tages hat er kein leibliches Bedürfnis mehr. Daß diese Einrichtung ihre Vorzüge hat, ist nicht zu bestreiten. Für Berlin aber paßt sie nicht, weil keine Zeit dazu ist. Desgleichen gibt es für die große Masse der Berliner weder Früh- noch Dämmerschoppen, noch auch den nach¬ mittäglichen Kaffeehausbesuch, der nicht nur in Frankreich und Italien, sondern auch in weiten Gegenden Süddeutschlands zu den angebornen Menschenrechten des braven Bürgers gehört. Da jedoch auch in Berlin der Mensch ein Gesell¬ schaftstier ist und das Bedürfnis hat, mit Seinesgleichen die Gedanken aus¬ zutauschen, so bleibt eben nur der späte Abend für ein gemütliches Zusammen¬ kommen. Was Wunder, daß es sich in den Bier- und Weinhäusern zu keiner andern Zeit des Tages drängt wie in den Stunden um Mitternacht? Klubs, mit denen London so reich gesegnet ist, sind in Berlin so gut wie unbekannt. Es gibt ihrer einige, aber von so exklusiver Natur, daß sie nicht einmal der ganzen Schicht der obersten Zehntausend zugänglich sind; das große Publikum erfährt von ihnen nur, wenn die Zeitungen aus ihnen eine besondre Veranstaltung oder einen Skandal zu berichten haben, was übrigens äußerst selten vorkommt. An Versuchen, die englische Einrichtung nach der deutschen Reichshauptstadt zu verpflanzen, hat es nicht gefehlt; wer lange genug in Berlin gelebt hat, wird mehr als einmal Gelegenheit gehabt haben, das Scheitern solcher Gründungen aus nächster Nähe zu beobachten. Dem echten Deutschen ist es beim Bier nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/232>, abgerufen am 06.02.2025.