Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Zur Reichssteuerreforin gangs 1904, auseinandergesetzt haben. Man kann jede Unmäßigkeit verab¬ Zur Reichssteuerreforin gangs 1904, auseinandergesetzt haben. Man kann jede Unmäßigkeit verab¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302172"/> <fw type="header" place="top"> Zur Reichssteuerreforin</fw><lb/> <p xml:id="ID_840" prev="#ID_839" next="#ID_841"> gangs 1904, auseinandergesetzt haben. Man kann jede Unmäßigkeit verab¬<lb/> scheuen, kann von der Schädlichkeit des Alkoholgenusses, wie er heute in<lb/> Deutschland noch vielfach Unsitte ist, überzeugt sein, kann den gesellschaftlichen<lb/> und namentlich den studentischen Trinkzwang sowie die Kueipenhockerei der<lb/> Honoratioren verurteilen, kann Mitglied des Vereins für Gasthausrcform und<lb/> ein eifriger Förderer der alkoholfreien Erholungsstätten sein, und man wird<lb/> dennoch über den Satz lachen müssen: „Das Bier ist der wahre deutsche<lb/> Rassenmörder." Ob es wahr ist, daß wir durch dieses Getränk „ganze Armeen<lb/> verlieren, ehe nur ein Schuß gefallen" ist, mögen die bayrischen Militär¬<lb/> behörden entscheiden. Den Weingenuß möchte unser Patriot durch höhere Be¬<lb/> steuerung eindämmen. Ich wünschte dagegen, es wäre möglich, durch Handels¬<lb/> verträge kräftige südliche Weine und namentlich den italienischen Rotwein so<lb/> wohlfeil zu machen, daß er als Volksgetränk den Arbeitern den Schnaps er¬<lb/> setzen könnte. Übermäßiger Weingenuß ist freilich vom Übel, und auch schon<lb/> der mäßige, wenn man ihn nicht bezahlen kann. Aber solche Übel zu heilen,<lb/> ist nicht Aufgabe des Staats, sondern des sündigenden Individuums und seiner<lb/> Angehörigen — eine Angelegenheit der Privatmoral. Für den Ersatz des<lb/> Kaffees durch Zichorie, die der Verfasser schon im Interesse der Landwirtschaft<lb/> empfiehlt, darf ich wohl im Namen aller Grenzbotenleser danken. Wenn ein<lb/> Alkoholfeind, den er anführt, schreibt: „Die Natur erzeugt keinen Wein, es<lb/> ist immer der Mensch, der durch künstliche Mittel, die sogenannte Veredlung,<lb/> die Naturkräfte nach seinen Zwecken lenken und wirken läßt", so müßte er<lb/> folgerichtig fortfahren: die Natur erzeugt auch keinen Kalbsbraten, auch kein<lb/> Apfelmus, ja nicht einmal Wassersuppe. Die Natur erzeugt ferner weder<lb/> Hemden noch Hosen, noch Schuhe, uoch Eisenbahnen, und die deutschen Natur¬<lb/> fanatiker, die sich am Lago Maggiore angesiedelt haben, gehn ja auch wirklich<lb/> nackt, soweit es die Polizei gestattet, und leben von rohen Früchten. Aber<lb/> wenn wir so „zur Natur zurückkehren" und Tiere werden, dann bricht mit<lb/> dem Gebäude unsrer ganzen Kultur auch das Deutsche Reich zusammen, und<lb/> alle Fiiianzwissenschaft hat ein Ende. Nach derselben Seite hin bedenklich er¬<lb/> scheint auch das Argument: „Das deutsche Volk gibt jährlich für schädliche<lb/> Genußmittel 143 Millionen Mark mehr aus als für die Grundlage der mensch¬<lb/> lichen Ernährung (Getreide, Brot, Mehl und Backwaren) und fast doppelt so<lb/> viel als für Fleisch, Wild, Geflügel usw." Wenn ein Arbeiter ein Viertel<lb/> seines Arbeitsverdienstes vertrinkt und verraucht, so ist das freilich gewissenlos,<lb/> und vertrinkt er die Hälfte oder den ganzen oder gar den Arbeitverdienst<lb/> seiner Frau, so ist das eine Ruchlosigkeit, die als Verbrechen behandelt werden<lb/> sollte. Aber an und für sich ist ganz und gar nichts dagegen einzuwenden,<lb/> daß für Genüsse (deren ethische, ästhetische und hygienische Qualität hier nicht<lb/> in Betracht gezogen worden soll) mehr ausgegeben wird als für die notwendigen<lb/> Nahrungsmittel. Bekanntlich verschlingen diese nur bei den Ärmsten den<lb/> größten Teil des Einkommens. Je wohlhabender ein Mensch ist, desto tiefer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0184]
Zur Reichssteuerreforin
gangs 1904, auseinandergesetzt haben. Man kann jede Unmäßigkeit verab¬
scheuen, kann von der Schädlichkeit des Alkoholgenusses, wie er heute in
Deutschland noch vielfach Unsitte ist, überzeugt sein, kann den gesellschaftlichen
und namentlich den studentischen Trinkzwang sowie die Kueipenhockerei der
Honoratioren verurteilen, kann Mitglied des Vereins für Gasthausrcform und
ein eifriger Förderer der alkoholfreien Erholungsstätten sein, und man wird
dennoch über den Satz lachen müssen: „Das Bier ist der wahre deutsche
Rassenmörder." Ob es wahr ist, daß wir durch dieses Getränk „ganze Armeen
verlieren, ehe nur ein Schuß gefallen" ist, mögen die bayrischen Militär¬
behörden entscheiden. Den Weingenuß möchte unser Patriot durch höhere Be¬
steuerung eindämmen. Ich wünschte dagegen, es wäre möglich, durch Handels¬
verträge kräftige südliche Weine und namentlich den italienischen Rotwein so
wohlfeil zu machen, daß er als Volksgetränk den Arbeitern den Schnaps er¬
setzen könnte. Übermäßiger Weingenuß ist freilich vom Übel, und auch schon
der mäßige, wenn man ihn nicht bezahlen kann. Aber solche Übel zu heilen,
ist nicht Aufgabe des Staats, sondern des sündigenden Individuums und seiner
Angehörigen — eine Angelegenheit der Privatmoral. Für den Ersatz des
Kaffees durch Zichorie, die der Verfasser schon im Interesse der Landwirtschaft
empfiehlt, darf ich wohl im Namen aller Grenzbotenleser danken. Wenn ein
Alkoholfeind, den er anführt, schreibt: „Die Natur erzeugt keinen Wein, es
ist immer der Mensch, der durch künstliche Mittel, die sogenannte Veredlung,
die Naturkräfte nach seinen Zwecken lenken und wirken läßt", so müßte er
folgerichtig fortfahren: die Natur erzeugt auch keinen Kalbsbraten, auch kein
Apfelmus, ja nicht einmal Wassersuppe. Die Natur erzeugt ferner weder
Hemden noch Hosen, noch Schuhe, uoch Eisenbahnen, und die deutschen Natur¬
fanatiker, die sich am Lago Maggiore angesiedelt haben, gehn ja auch wirklich
nackt, soweit es die Polizei gestattet, und leben von rohen Früchten. Aber
wenn wir so „zur Natur zurückkehren" und Tiere werden, dann bricht mit
dem Gebäude unsrer ganzen Kultur auch das Deutsche Reich zusammen, und
alle Fiiianzwissenschaft hat ein Ende. Nach derselben Seite hin bedenklich er¬
scheint auch das Argument: „Das deutsche Volk gibt jährlich für schädliche
Genußmittel 143 Millionen Mark mehr aus als für die Grundlage der mensch¬
lichen Ernährung (Getreide, Brot, Mehl und Backwaren) und fast doppelt so
viel als für Fleisch, Wild, Geflügel usw." Wenn ein Arbeiter ein Viertel
seines Arbeitsverdienstes vertrinkt und verraucht, so ist das freilich gewissenlos,
und vertrinkt er die Hälfte oder den ganzen oder gar den Arbeitverdienst
seiner Frau, so ist das eine Ruchlosigkeit, die als Verbrechen behandelt werden
sollte. Aber an und für sich ist ganz und gar nichts dagegen einzuwenden,
daß für Genüsse (deren ethische, ästhetische und hygienische Qualität hier nicht
in Betracht gezogen worden soll) mehr ausgegeben wird als für die notwendigen
Nahrungsmittel. Bekanntlich verschlingen diese nur bei den Ärmsten den
größten Teil des Einkommens. Je wohlhabender ein Mensch ist, desto tiefer
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |