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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Das höhere Schulwesen in Europa

Oberrealschule irgendeines deutschen Staates erworben hat, in jedem einzelnen
Bundesstaate die Berechtigungen gewährt, die mit dem Reifezeugnis einer dem
letztern Staate angehörenden gleichen Anstalt verbunden sind.

Vorschulen oder Vorbereitungsklassen sind für höhere Lehranstalten im
Deutschen Reiche zugelassen und eingerichtet, außer in Preußen, in Anhalt, Elsaß-
Lothringen, Hamburg (Realgymnasium des Johanneums), Lübeck, Mecklenburg-
Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Reuß ni, L., Sachsen-Weimar und
Württemberg. In den übrigen deutschen Staaten ist beim Eintritt in eine höhere
Lehranstalt eine Aufnahmeprüfung abzulegen; die elementaren Vorkenntnisse sind
also in der Regel auf der allgemeinen Volksschule zu erwerben.

Die außerdeutschen Staaten Europas haben und Ausnahme Englands und
der Schweiz ihr höheres Schulwesen nach allgemeinen Lehrplänen eingerichtet.

In der Schweiz ist die Unterrichtsgesetzgebung nicht Sache des Bundes,
sondern eine kantonale Angelegenheit. Man unterscheidet hier Gymnasien (Lyzeen,
(üollöZes) und Realschulen (Industrie-, Gewerbeschulen). Jene bereiten für das
Universitätsstudium vor, diese für den Besuch des eidgenössischen Polytechnikums,
geben aber auch die Berechtigung zum Universitätsstudium der Mathematik und
der Naturwissenschaft sowie der Medizin, für dieses bei Ablegung einer Er-
günzungsprüfung im Latein.

Österreich und Ungarn haben allgemeine Lehrpläne für ihre achtklassigen
Gymnasien und Realschulen, die aber in beiden Staaten wesentlich voneinander
abweichen. Kroatien und Slawonien weisen Gymnasien und Realgymnasien auf,
es besteht aber nur für jene ein allgemeiner auf acht Stufen berechneter Lehr¬
plan, während sich die Realgymnasien mehr oder weniger voneinander unter¬
scheiden. Bosnien hat nach einem allgemeinen Lehrplan eingerichtete Gymnasien.
Montenegro besitzt ein vierklassiges Untergymnasium, das nach österreichischem
Muster eingerichtet ist und bezeichnenderweise von der ersten Klasse an auch
russischen Unterricht erteilt. Das höhere Schulwesen in Bulgarien setzt auf
einen gemeinsamen dreistufigen Unterbau eine vierstufige Realabteilung und eine
ebensolche klassische Abteilung. In Serbien sind heute die Gymnasien alle als
Realgymnasien eingerichtet, die etwa den preußischen Realgymnasien nach Frank¬
furter System entsprechen. Daneben gibt es Realgymnasien ohne Latein. Beide
Schularten sind achtstusig. Die höhern Schulen in Rumänien sind vierstufige
Gymnasien und achtklassige Lyzeen. Aufnahmebedingung ist das Abgangs¬
zeugnis der vierjährigen Primärschule.

Rußland plant eine Reform seines höhern Schulwesens. Gegenwärtig
gibt es dort achtstufige Gymnasien und siebenstufige Realschulen, neben denen
die alten humanistischen deutschen Kirchenschulen in Petersburg und Moskau
bestehn. Durch das vorbereitete neue Schulgesetz sollen sämtliche höhern
Schulen den Namen Gymnasien erhalten, und alle ihre Abiturienten sollen dann,
wie in Preußen, zum Universitütsstudium zugelassen werden, für gewisse Fächer
mit einer Ergünzungsprüfung im Latein und im Griechischen oder bloß im Latein,


Das höhere Schulwesen in Europa

Oberrealschule irgendeines deutschen Staates erworben hat, in jedem einzelnen
Bundesstaate die Berechtigungen gewährt, die mit dem Reifezeugnis einer dem
letztern Staate angehörenden gleichen Anstalt verbunden sind.

Vorschulen oder Vorbereitungsklassen sind für höhere Lehranstalten im
Deutschen Reiche zugelassen und eingerichtet, außer in Preußen, in Anhalt, Elsaß-
Lothringen, Hamburg (Realgymnasium des Johanneums), Lübeck, Mecklenburg-
Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Reuß ni, L., Sachsen-Weimar und
Württemberg. In den übrigen deutschen Staaten ist beim Eintritt in eine höhere
Lehranstalt eine Aufnahmeprüfung abzulegen; die elementaren Vorkenntnisse sind
also in der Regel auf der allgemeinen Volksschule zu erwerben.

Die außerdeutschen Staaten Europas haben und Ausnahme Englands und
der Schweiz ihr höheres Schulwesen nach allgemeinen Lehrplänen eingerichtet.

In der Schweiz ist die Unterrichtsgesetzgebung nicht Sache des Bundes,
sondern eine kantonale Angelegenheit. Man unterscheidet hier Gymnasien (Lyzeen,
(üollöZes) und Realschulen (Industrie-, Gewerbeschulen). Jene bereiten für das
Universitätsstudium vor, diese für den Besuch des eidgenössischen Polytechnikums,
geben aber auch die Berechtigung zum Universitätsstudium der Mathematik und
der Naturwissenschaft sowie der Medizin, für dieses bei Ablegung einer Er-
günzungsprüfung im Latein.

Österreich und Ungarn haben allgemeine Lehrpläne für ihre achtklassigen
Gymnasien und Realschulen, die aber in beiden Staaten wesentlich voneinander
abweichen. Kroatien und Slawonien weisen Gymnasien und Realgymnasien auf,
es besteht aber nur für jene ein allgemeiner auf acht Stufen berechneter Lehr¬
plan, während sich die Realgymnasien mehr oder weniger voneinander unter¬
scheiden. Bosnien hat nach einem allgemeinen Lehrplan eingerichtete Gymnasien.
Montenegro besitzt ein vierklassiges Untergymnasium, das nach österreichischem
Muster eingerichtet ist und bezeichnenderweise von der ersten Klasse an auch
russischen Unterricht erteilt. Das höhere Schulwesen in Bulgarien setzt auf
einen gemeinsamen dreistufigen Unterbau eine vierstufige Realabteilung und eine
ebensolche klassische Abteilung. In Serbien sind heute die Gymnasien alle als
Realgymnasien eingerichtet, die etwa den preußischen Realgymnasien nach Frank¬
furter System entsprechen. Daneben gibt es Realgymnasien ohne Latein. Beide
Schularten sind achtstusig. Die höhern Schulen in Rumänien sind vierstufige
Gymnasien und achtklassige Lyzeen. Aufnahmebedingung ist das Abgangs¬
zeugnis der vierjährigen Primärschule.

Rußland plant eine Reform seines höhern Schulwesens. Gegenwärtig
gibt es dort achtstufige Gymnasien und siebenstufige Realschulen, neben denen
die alten humanistischen deutschen Kirchenschulen in Petersburg und Moskau
bestehn. Durch das vorbereitete neue Schulgesetz sollen sämtliche höhern
Schulen den Namen Gymnasien erhalten, und alle ihre Abiturienten sollen dann,
wie in Preußen, zum Universitütsstudium zugelassen werden, für gewisse Fächer
mit einer Ergünzungsprüfung im Latein und im Griechischen oder bloß im Latein,


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[0630] Das höhere Schulwesen in Europa Oberrealschule irgendeines deutschen Staates erworben hat, in jedem einzelnen Bundesstaate die Berechtigungen gewährt, die mit dem Reifezeugnis einer dem letztern Staate angehörenden gleichen Anstalt verbunden sind. Vorschulen oder Vorbereitungsklassen sind für höhere Lehranstalten im Deutschen Reiche zugelassen und eingerichtet, außer in Preußen, in Anhalt, Elsaß- Lothringen, Hamburg (Realgymnasium des Johanneums), Lübeck, Mecklenburg- Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Reuß ni, L., Sachsen-Weimar und Württemberg. In den übrigen deutschen Staaten ist beim Eintritt in eine höhere Lehranstalt eine Aufnahmeprüfung abzulegen; die elementaren Vorkenntnisse sind also in der Regel auf der allgemeinen Volksschule zu erwerben. Die außerdeutschen Staaten Europas haben und Ausnahme Englands und der Schweiz ihr höheres Schulwesen nach allgemeinen Lehrplänen eingerichtet. In der Schweiz ist die Unterrichtsgesetzgebung nicht Sache des Bundes, sondern eine kantonale Angelegenheit. Man unterscheidet hier Gymnasien (Lyzeen, (üollöZes) und Realschulen (Industrie-, Gewerbeschulen). Jene bereiten für das Universitätsstudium vor, diese für den Besuch des eidgenössischen Polytechnikums, geben aber auch die Berechtigung zum Universitätsstudium der Mathematik und der Naturwissenschaft sowie der Medizin, für dieses bei Ablegung einer Er- günzungsprüfung im Latein. Österreich und Ungarn haben allgemeine Lehrpläne für ihre achtklassigen Gymnasien und Realschulen, die aber in beiden Staaten wesentlich voneinander abweichen. Kroatien und Slawonien weisen Gymnasien und Realgymnasien auf, es besteht aber nur für jene ein allgemeiner auf acht Stufen berechneter Lehr¬ plan, während sich die Realgymnasien mehr oder weniger voneinander unter¬ scheiden. Bosnien hat nach einem allgemeinen Lehrplan eingerichtete Gymnasien. Montenegro besitzt ein vierklassiges Untergymnasium, das nach österreichischem Muster eingerichtet ist und bezeichnenderweise von der ersten Klasse an auch russischen Unterricht erteilt. Das höhere Schulwesen in Bulgarien setzt auf einen gemeinsamen dreistufigen Unterbau eine vierstufige Realabteilung und eine ebensolche klassische Abteilung. In Serbien sind heute die Gymnasien alle als Realgymnasien eingerichtet, die etwa den preußischen Realgymnasien nach Frank¬ furter System entsprechen. Daneben gibt es Realgymnasien ohne Latein. Beide Schularten sind achtstusig. Die höhern Schulen in Rumänien sind vierstufige Gymnasien und achtklassige Lyzeen. Aufnahmebedingung ist das Abgangs¬ zeugnis der vierjährigen Primärschule. Rußland plant eine Reform seines höhern Schulwesens. Gegenwärtig gibt es dort achtstufige Gymnasien und siebenstufige Realschulen, neben denen die alten humanistischen deutschen Kirchenschulen in Petersburg und Moskau bestehn. Durch das vorbereitete neue Schulgesetz sollen sämtliche höhern Schulen den Namen Gymnasien erhalten, und alle ihre Abiturienten sollen dann, wie in Preußen, zum Universitütsstudium zugelassen werden, für gewisse Fächer mit einer Ergünzungsprüfung im Latein und im Griechischen oder bloß im Latein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/630>, abgerufen am 05.07.2024.