Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Oberlehrer und Abiturienten

einst jung gewesen, vor allem viele Lehrer nicht --, der wird sich des halb
beklommnen Gefühls erinnern, das ihn mit der Entlassung aus der Schule
erfaßte. Bei dem einen äußert es sich sanfter, bei dem andern heftiger, und
so entstehn die Festzeitungen aus dem ungestümen Freiheitsdrang und Freiheits¬
bewußtsein heraus, das nicht jedes Wort auf die Wagschale zu legen imstande
ist. Man könnte dabei an eine schließlich doch wieder erlöschende Mode denken.
Aber eine Mode vergeht erst, sowie sie nicht mehr beachtet wird. Die Kneip¬
zeitungen werden aber beachtet, und zwar nicht nur von den nanu, den
übrigen Primanern und dem schadenfrohen Publikum, das gern eine Gelegen¬
heit benutzt, um zu lachen, wenn einmal den Schulmeistern eins ausgewischt
wird -- sie werden beachtet, man solls kaum glauben, in erster Linie von
denen selbst, denen der ganze oft so unzarte und allemal pietätlose Spott
gilt: von den Herren Oberlehrern! Dem ganzen Witz wäre mit einemmal
die Spitze abgebrochen, wenn sich die Lehrer von den Schlußkneipen ihrer
Abiturienten sorgfältig fernhielten; sie würden sich dann alle die Kränkungen
und Beleidigungen ersparen, denen sie sich dabei aussetzen. Aber es ist ein
merkwürdiges psychologisches Rätsel: wie es die Mücke unwiderstehlich nach
dem Licht zieht, wie gar mancher sich dahin getrieben fühlt, wo es Sonntags
die schönsten Hiebe gibt, so zieht es mit magischer Gewalt den Schulmeister
dahin, wo, wie er ganz genau weiß, ihm unter Umständen die ärgerlichsten
Dinge blühen. Niemand ist gern ausgelacht, aber entgegen diesem Grundsatz
gehn die Herren Professoren immer wieder dahin, wo das Hauptvergnügen
des Abends darin besteht, daß man sich in der vollen Öffentlichkeit über ihre
Schwächen belustigt. Es macht auf mich immer einen überaus komischen Ein¬
druck, wenn sich hinterher die Pädagogen über die Undankbarkeit ihrer ge-
wesnen Schüler entrüsten. Aber das ist immer nur unmittelbar nach dem
Erscheinen einer solchen Festschrift der Fall, und wenn übers Jahr die neue
Einladung kommt, so kann der Herr Professor doch nicht widerstehn; das
Geschehene ist in christlicher Langmut vergeben und vergessen. Es ist ja ihm
und dem Direktor feierlich versprochen worden, daß auf dem Kommers keine
Bierzeitung werde vorgelesen werden (sie kommt natürlich beim Frühschoppen
des nächsten Tages); außerdem ist er gebeten worden, die Ansprache an die
Abiturienten zu halten, er hat also eine Rede "zwischen den Nippen", wie
die Jünglinge sagen, endlich: "So eine gute Klasse haben wir noch gar nicht
gehabt", und: "Sie glauben gar nicht, wie dankbar mir meine Schüler sind!"
Der Mann ist dann aufs tiefste gekränkt, wenn auch er beim Frühschoppen
an die Reihe kommt. Anstatt an seine Brust zu schlagen und zu bekennen:
Reg. onlpg, niLÄ niÄxiiriÄ onlx"! schreit er nach der Polizei und macht dadurch
den Schaden noch größer, nicht etwa, weil die Stadt noch mehr darüber lacht,
sondern weil er den unreifen Jungen beweist, daß er etwas auf ihr Urteil
hält. Und das ist die Empfängnisstunde der nächsten Bierzeitung, die dann
übers Jahr mit unfehlbarer Sicherheit das Licht der Welt erblickt.


Oberlehrer und Abiturienten

einst jung gewesen, vor allem viele Lehrer nicht —, der wird sich des halb
beklommnen Gefühls erinnern, das ihn mit der Entlassung aus der Schule
erfaßte. Bei dem einen äußert es sich sanfter, bei dem andern heftiger, und
so entstehn die Festzeitungen aus dem ungestümen Freiheitsdrang und Freiheits¬
bewußtsein heraus, das nicht jedes Wort auf die Wagschale zu legen imstande
ist. Man könnte dabei an eine schließlich doch wieder erlöschende Mode denken.
Aber eine Mode vergeht erst, sowie sie nicht mehr beachtet wird. Die Kneip¬
zeitungen werden aber beachtet, und zwar nicht nur von den nanu, den
übrigen Primanern und dem schadenfrohen Publikum, das gern eine Gelegen¬
heit benutzt, um zu lachen, wenn einmal den Schulmeistern eins ausgewischt
wird — sie werden beachtet, man solls kaum glauben, in erster Linie von
denen selbst, denen der ganze oft so unzarte und allemal pietätlose Spott
gilt: von den Herren Oberlehrern! Dem ganzen Witz wäre mit einemmal
die Spitze abgebrochen, wenn sich die Lehrer von den Schlußkneipen ihrer
Abiturienten sorgfältig fernhielten; sie würden sich dann alle die Kränkungen
und Beleidigungen ersparen, denen sie sich dabei aussetzen. Aber es ist ein
merkwürdiges psychologisches Rätsel: wie es die Mücke unwiderstehlich nach
dem Licht zieht, wie gar mancher sich dahin getrieben fühlt, wo es Sonntags
die schönsten Hiebe gibt, so zieht es mit magischer Gewalt den Schulmeister
dahin, wo, wie er ganz genau weiß, ihm unter Umständen die ärgerlichsten
Dinge blühen. Niemand ist gern ausgelacht, aber entgegen diesem Grundsatz
gehn die Herren Professoren immer wieder dahin, wo das Hauptvergnügen
des Abends darin besteht, daß man sich in der vollen Öffentlichkeit über ihre
Schwächen belustigt. Es macht auf mich immer einen überaus komischen Ein¬
druck, wenn sich hinterher die Pädagogen über die Undankbarkeit ihrer ge-
wesnen Schüler entrüsten. Aber das ist immer nur unmittelbar nach dem
Erscheinen einer solchen Festschrift der Fall, und wenn übers Jahr die neue
Einladung kommt, so kann der Herr Professor doch nicht widerstehn; das
Geschehene ist in christlicher Langmut vergeben und vergessen. Es ist ja ihm
und dem Direktor feierlich versprochen worden, daß auf dem Kommers keine
Bierzeitung werde vorgelesen werden (sie kommt natürlich beim Frühschoppen
des nächsten Tages); außerdem ist er gebeten worden, die Ansprache an die
Abiturienten zu halten, er hat also eine Rede „zwischen den Nippen", wie
die Jünglinge sagen, endlich: „So eine gute Klasse haben wir noch gar nicht
gehabt", und: „Sie glauben gar nicht, wie dankbar mir meine Schüler sind!"
Der Mann ist dann aufs tiefste gekränkt, wenn auch er beim Frühschoppen
an die Reihe kommt. Anstatt an seine Brust zu schlagen und zu bekennen:
Reg. onlpg, niLÄ niÄxiiriÄ onlx»! schreit er nach der Polizei und macht dadurch
den Schaden noch größer, nicht etwa, weil die Stadt noch mehr darüber lacht,
sondern weil er den unreifen Jungen beweist, daß er etwas auf ihr Urteil
hält. Und das ist die Empfängnisstunde der nächsten Bierzeitung, die dann
übers Jahr mit unfehlbarer Sicherheit das Licht der Welt erblickt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0584" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301838"/>
          <fw type="header" place="top"> Oberlehrer und Abiturienten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2164" prev="#ID_2163"> einst jung gewesen, vor allem viele Lehrer nicht &#x2014;, der wird sich des halb<lb/>
beklommnen Gefühls erinnern, das ihn mit der Entlassung aus der Schule<lb/>
erfaßte. Bei dem einen äußert es sich sanfter, bei dem andern heftiger, und<lb/>
so entstehn die Festzeitungen aus dem ungestümen Freiheitsdrang und Freiheits¬<lb/>
bewußtsein heraus, das nicht jedes Wort auf die Wagschale zu legen imstande<lb/>
ist. Man könnte dabei an eine schließlich doch wieder erlöschende Mode denken.<lb/>
Aber eine Mode vergeht erst, sowie sie nicht mehr beachtet wird. Die Kneip¬<lb/>
zeitungen werden aber beachtet, und zwar nicht nur von den nanu, den<lb/>
übrigen Primanern und dem schadenfrohen Publikum, das gern eine Gelegen¬<lb/>
heit benutzt, um zu lachen, wenn einmal den Schulmeistern eins ausgewischt<lb/>
wird &#x2014; sie werden beachtet, man solls kaum glauben, in erster Linie von<lb/>
denen selbst, denen der ganze oft so unzarte und allemal pietätlose Spott<lb/>
gilt: von den Herren Oberlehrern! Dem ganzen Witz wäre mit einemmal<lb/>
die Spitze abgebrochen, wenn sich die Lehrer von den Schlußkneipen ihrer<lb/>
Abiturienten sorgfältig fernhielten; sie würden sich dann alle die Kränkungen<lb/>
und Beleidigungen ersparen, denen sie sich dabei aussetzen. Aber es ist ein<lb/>
merkwürdiges psychologisches Rätsel: wie es die Mücke unwiderstehlich nach<lb/>
dem Licht zieht, wie gar mancher sich dahin getrieben fühlt, wo es Sonntags<lb/>
die schönsten Hiebe gibt, so zieht es mit magischer Gewalt den Schulmeister<lb/>
dahin, wo, wie er ganz genau weiß, ihm unter Umständen die ärgerlichsten<lb/>
Dinge blühen. Niemand ist gern ausgelacht, aber entgegen diesem Grundsatz<lb/>
gehn die Herren Professoren immer wieder dahin, wo das Hauptvergnügen<lb/>
des Abends darin besteht, daß man sich in der vollen Öffentlichkeit über ihre<lb/>
Schwächen belustigt. Es macht auf mich immer einen überaus komischen Ein¬<lb/>
druck, wenn sich hinterher die Pädagogen über die Undankbarkeit ihrer ge-<lb/>
wesnen Schüler entrüsten. Aber das ist immer nur unmittelbar nach dem<lb/>
Erscheinen einer solchen Festschrift der Fall, und wenn übers Jahr die neue<lb/>
Einladung kommt, so kann der Herr Professor doch nicht widerstehn; das<lb/>
Geschehene ist in christlicher Langmut vergeben und vergessen. Es ist ja ihm<lb/>
und dem Direktor feierlich versprochen worden, daß auf dem Kommers keine<lb/>
Bierzeitung werde vorgelesen werden (sie kommt natürlich beim Frühschoppen<lb/>
des nächsten Tages); außerdem ist er gebeten worden, die Ansprache an die<lb/>
Abiturienten zu halten, er hat also eine Rede &#x201E;zwischen den Nippen", wie<lb/>
die Jünglinge sagen, endlich: &#x201E;So eine gute Klasse haben wir noch gar nicht<lb/>
gehabt", und: &#x201E;Sie glauben gar nicht, wie dankbar mir meine Schüler sind!"<lb/>
Der Mann ist dann aufs tiefste gekränkt, wenn auch er beim Frühschoppen<lb/>
an die Reihe kommt. Anstatt an seine Brust zu schlagen und zu bekennen:<lb/>
Reg. onlpg, niLÄ niÄxiiriÄ onlx»! schreit er nach der Polizei und macht dadurch<lb/>
den Schaden noch größer, nicht etwa, weil die Stadt noch mehr darüber lacht,<lb/>
sondern weil er den unreifen Jungen beweist, daß er etwas auf ihr Urteil<lb/>
hält. Und das ist die Empfängnisstunde der nächsten Bierzeitung, die dann<lb/>
übers Jahr mit unfehlbarer Sicherheit das Licht der Welt erblickt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0584] Oberlehrer und Abiturienten einst jung gewesen, vor allem viele Lehrer nicht —, der wird sich des halb beklommnen Gefühls erinnern, das ihn mit der Entlassung aus der Schule erfaßte. Bei dem einen äußert es sich sanfter, bei dem andern heftiger, und so entstehn die Festzeitungen aus dem ungestümen Freiheitsdrang und Freiheits¬ bewußtsein heraus, das nicht jedes Wort auf die Wagschale zu legen imstande ist. Man könnte dabei an eine schließlich doch wieder erlöschende Mode denken. Aber eine Mode vergeht erst, sowie sie nicht mehr beachtet wird. Die Kneip¬ zeitungen werden aber beachtet, und zwar nicht nur von den nanu, den übrigen Primanern und dem schadenfrohen Publikum, das gern eine Gelegen¬ heit benutzt, um zu lachen, wenn einmal den Schulmeistern eins ausgewischt wird — sie werden beachtet, man solls kaum glauben, in erster Linie von denen selbst, denen der ganze oft so unzarte und allemal pietätlose Spott gilt: von den Herren Oberlehrern! Dem ganzen Witz wäre mit einemmal die Spitze abgebrochen, wenn sich die Lehrer von den Schlußkneipen ihrer Abiturienten sorgfältig fernhielten; sie würden sich dann alle die Kränkungen und Beleidigungen ersparen, denen sie sich dabei aussetzen. Aber es ist ein merkwürdiges psychologisches Rätsel: wie es die Mücke unwiderstehlich nach dem Licht zieht, wie gar mancher sich dahin getrieben fühlt, wo es Sonntags die schönsten Hiebe gibt, so zieht es mit magischer Gewalt den Schulmeister dahin, wo, wie er ganz genau weiß, ihm unter Umständen die ärgerlichsten Dinge blühen. Niemand ist gern ausgelacht, aber entgegen diesem Grundsatz gehn die Herren Professoren immer wieder dahin, wo das Hauptvergnügen des Abends darin besteht, daß man sich in der vollen Öffentlichkeit über ihre Schwächen belustigt. Es macht auf mich immer einen überaus komischen Ein¬ druck, wenn sich hinterher die Pädagogen über die Undankbarkeit ihrer ge- wesnen Schüler entrüsten. Aber das ist immer nur unmittelbar nach dem Erscheinen einer solchen Festschrift der Fall, und wenn übers Jahr die neue Einladung kommt, so kann der Herr Professor doch nicht widerstehn; das Geschehene ist in christlicher Langmut vergeben und vergessen. Es ist ja ihm und dem Direktor feierlich versprochen worden, daß auf dem Kommers keine Bierzeitung werde vorgelesen werden (sie kommt natürlich beim Frühschoppen des nächsten Tages); außerdem ist er gebeten worden, die Ansprache an die Abiturienten zu halten, er hat also eine Rede „zwischen den Nippen", wie die Jünglinge sagen, endlich: „So eine gute Klasse haben wir noch gar nicht gehabt", und: „Sie glauben gar nicht, wie dankbar mir meine Schüler sind!" Der Mann ist dann aufs tiefste gekränkt, wenn auch er beim Frühschoppen an die Reihe kommt. Anstatt an seine Brust zu schlagen und zu bekennen: Reg. onlpg, niLÄ niÄxiiriÄ onlx»! schreit er nach der Polizei und macht dadurch den Schaden noch größer, nicht etwa, weil die Stadt noch mehr darüber lacht, sondern weil er den unreifen Jungen beweist, daß er etwas auf ihr Urteil hält. Und das ist die Empfängnisstunde der nächsten Bierzeitung, die dann übers Jahr mit unfehlbarer Sicherheit das Licht der Welt erblickt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/584
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/584>, abgerufen am 30.06.2024.