Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vberlehrer und Abiturienten

engen Gemeinschaft loslöst, der man viele Jahre angehört hat. Das ist nun
freilich anders geworden. In den weitesten Kreisen wird heutzutage von der
Schule nur noch der Zwang empfunden, das alte Pietätsverhältnis zwischen
den Schülern und der Schule mit ihren Vertretern ist längst bedenklich ge¬
lockert, und in den Köpfen der heranwachsenden Jugend haben sich andre
Gefühle festgesetzt. Wie sollte es auch anders sein bei dem fortgesetzten Ge¬
schrei der Tagesblätter über die "Zustände" unsrer höhern Schulen und bei
der Gewohnheit vieler Eltern, in Gegenwart ihrer Kinder über Tisch alle
diese Fragen an der Hand der Zeitungen zu behandeln! So hat man sich
daran gewöhnt, die Abschiedsfeier zu einer Art von Saturnalien werden zu
lassen, bei denen zwar nicht der Sklave von dem Herrn bedient wird, bei
denen aber der Lehrer den ihm jetzt entwachsnen Schülern den Stoff zur
Unterhaltung liefert. Man hat sich ferner daran gewöhnt, die Abiturienten-
kladderadatsche oder Vierzeitungen als die Hauptsache der Abschiedsfeier zu
betrachten, und sie sind es auch; sie sind es aber auch, die das eingangs
erwähnte Ärgernis bieten. Was gewöhnlich drin steht, ist jedem bekannt, der
Fühlung mit der Schule hat; mit wenig Witz und viel Behagen werden die
vielerlei kleinen Schwächen des Lehrerkollegiums vorgenommen und so getan, als
ob nur die Lehrer solche hätten. Dagegen wäre ja an und für sich nicht
viel einzuwenden, wenn das richtige Maß eingehalten würde. Das ist aber
nun fast nie der Fall, und man darf sich wirklich nicht darüber wundern.
Neun lange Jahre mindestens sind die jungen Leute wie Unmündige behandelt
worden; nicht sie hatten das Wort, sondern nur die Lehrer. Jetzt ists
anders! Die Lehrer sind eingeladen zu unserm Fest, sie kommen, sie setzen
sich an unsern Tisch, sie trinken unser Bier und überzeugen sich, daß wir trotz
der Vorschriften in den Schulgesetzen den Komment wohl verstehn -- da
haben die Herren allen Grund, einmal die Augen zuzudrücken, wenn wir ihnen
die Wahrheit sagen! So rechnen die jungen Leute und machen in dieser Ge¬
sinnung ihre Verse, die nun über die wehrlosen Lehrer niedergehn. Was da
nicht nur in den Abschiedsreden der Jünglinge, sondern besonders in den
Kneipzeitungen am guten Ton, ja am einfachsten Taktgefühl gesündigt wird,
das habe ich oft schmerzlich empfunden, wenn mir solche öde und geistlose
Erzeugnisse nicht jugendlichen Humors, sondern frivoler Laune, grober Pietät-
losigkeit und offner Mißachtung in die Hand fielen. Ja es kommt vor, daß
nicht einmal vor körperlichen Gebrechen der Lehrer Halt gemacht wird.

Diese Kladderadatsche sind freilich subjektiv zu beurteilen, und da wird
mancher geneigt sein, auf mildernde Umstände zu plädieren. Neun Jahre
lang haben die Lehrer die jetzigen rnuli angehalten, anhalten müssen, gegen
ihre Natur zu kämpfen. Sie haben sie gequält mit Sprachen und Mathematik,
mit Aufsätzen und Experimenten, und keine Liebesmüh mit Schulausflügen
und dergleichen modernen Veranstaltungen hat das Gefühl stillen Widerstands
beseitigen können. Jeder, der einmal selbst jung war -- es sind nicht alle


Vberlehrer und Abiturienten

engen Gemeinschaft loslöst, der man viele Jahre angehört hat. Das ist nun
freilich anders geworden. In den weitesten Kreisen wird heutzutage von der
Schule nur noch der Zwang empfunden, das alte Pietätsverhältnis zwischen
den Schülern und der Schule mit ihren Vertretern ist längst bedenklich ge¬
lockert, und in den Köpfen der heranwachsenden Jugend haben sich andre
Gefühle festgesetzt. Wie sollte es auch anders sein bei dem fortgesetzten Ge¬
schrei der Tagesblätter über die „Zustände" unsrer höhern Schulen und bei
der Gewohnheit vieler Eltern, in Gegenwart ihrer Kinder über Tisch alle
diese Fragen an der Hand der Zeitungen zu behandeln! So hat man sich
daran gewöhnt, die Abschiedsfeier zu einer Art von Saturnalien werden zu
lassen, bei denen zwar nicht der Sklave von dem Herrn bedient wird, bei
denen aber der Lehrer den ihm jetzt entwachsnen Schülern den Stoff zur
Unterhaltung liefert. Man hat sich ferner daran gewöhnt, die Abiturienten-
kladderadatsche oder Vierzeitungen als die Hauptsache der Abschiedsfeier zu
betrachten, und sie sind es auch; sie sind es aber auch, die das eingangs
erwähnte Ärgernis bieten. Was gewöhnlich drin steht, ist jedem bekannt, der
Fühlung mit der Schule hat; mit wenig Witz und viel Behagen werden die
vielerlei kleinen Schwächen des Lehrerkollegiums vorgenommen und so getan, als
ob nur die Lehrer solche hätten. Dagegen wäre ja an und für sich nicht
viel einzuwenden, wenn das richtige Maß eingehalten würde. Das ist aber
nun fast nie der Fall, und man darf sich wirklich nicht darüber wundern.
Neun lange Jahre mindestens sind die jungen Leute wie Unmündige behandelt
worden; nicht sie hatten das Wort, sondern nur die Lehrer. Jetzt ists
anders! Die Lehrer sind eingeladen zu unserm Fest, sie kommen, sie setzen
sich an unsern Tisch, sie trinken unser Bier und überzeugen sich, daß wir trotz
der Vorschriften in den Schulgesetzen den Komment wohl verstehn — da
haben die Herren allen Grund, einmal die Augen zuzudrücken, wenn wir ihnen
die Wahrheit sagen! So rechnen die jungen Leute und machen in dieser Ge¬
sinnung ihre Verse, die nun über die wehrlosen Lehrer niedergehn. Was da
nicht nur in den Abschiedsreden der Jünglinge, sondern besonders in den
Kneipzeitungen am guten Ton, ja am einfachsten Taktgefühl gesündigt wird,
das habe ich oft schmerzlich empfunden, wenn mir solche öde und geistlose
Erzeugnisse nicht jugendlichen Humors, sondern frivoler Laune, grober Pietät-
losigkeit und offner Mißachtung in die Hand fielen. Ja es kommt vor, daß
nicht einmal vor körperlichen Gebrechen der Lehrer Halt gemacht wird.

Diese Kladderadatsche sind freilich subjektiv zu beurteilen, und da wird
mancher geneigt sein, auf mildernde Umstände zu plädieren. Neun Jahre
lang haben die Lehrer die jetzigen rnuli angehalten, anhalten müssen, gegen
ihre Natur zu kämpfen. Sie haben sie gequält mit Sprachen und Mathematik,
mit Aufsätzen und Experimenten, und keine Liebesmüh mit Schulausflügen
und dergleichen modernen Veranstaltungen hat das Gefühl stillen Widerstands
beseitigen können. Jeder, der einmal selbst jung war — es sind nicht alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0583" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301837"/>
          <fw type="header" place="top"> Vberlehrer und Abiturienten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2162" prev="#ID_2161"> engen Gemeinschaft loslöst, der man viele Jahre angehört hat. Das ist nun<lb/>
freilich anders geworden. In den weitesten Kreisen wird heutzutage von der<lb/>
Schule nur noch der Zwang empfunden, das alte Pietätsverhältnis zwischen<lb/>
den Schülern und der Schule mit ihren Vertretern ist längst bedenklich ge¬<lb/>
lockert, und in den Köpfen der heranwachsenden Jugend haben sich andre<lb/>
Gefühle festgesetzt. Wie sollte es auch anders sein bei dem fortgesetzten Ge¬<lb/>
schrei der Tagesblätter über die &#x201E;Zustände" unsrer höhern Schulen und bei<lb/>
der Gewohnheit vieler Eltern, in Gegenwart ihrer Kinder über Tisch alle<lb/>
diese Fragen an der Hand der Zeitungen zu behandeln! So hat man sich<lb/>
daran gewöhnt, die Abschiedsfeier zu einer Art von Saturnalien werden zu<lb/>
lassen, bei denen zwar nicht der Sklave von dem Herrn bedient wird, bei<lb/>
denen aber der Lehrer den ihm jetzt entwachsnen Schülern den Stoff zur<lb/>
Unterhaltung liefert. Man hat sich ferner daran gewöhnt, die Abiturienten-<lb/>
kladderadatsche oder Vierzeitungen als die Hauptsache der Abschiedsfeier zu<lb/>
betrachten, und sie sind es auch; sie sind es aber auch, die das eingangs<lb/>
erwähnte Ärgernis bieten. Was gewöhnlich drin steht, ist jedem bekannt, der<lb/>
Fühlung mit der Schule hat; mit wenig Witz und viel Behagen werden die<lb/>
vielerlei kleinen Schwächen des Lehrerkollegiums vorgenommen und so getan, als<lb/>
ob nur die Lehrer solche hätten. Dagegen wäre ja an und für sich nicht<lb/>
viel einzuwenden, wenn das richtige Maß eingehalten würde. Das ist aber<lb/>
nun fast nie der Fall, und man darf sich wirklich nicht darüber wundern.<lb/>
Neun lange Jahre mindestens sind die jungen Leute wie Unmündige behandelt<lb/>
worden; nicht sie hatten das Wort, sondern nur die Lehrer. Jetzt ists<lb/>
anders! Die Lehrer sind eingeladen zu unserm Fest, sie kommen, sie setzen<lb/>
sich an unsern Tisch, sie trinken unser Bier und überzeugen sich, daß wir trotz<lb/>
der Vorschriften in den Schulgesetzen den Komment wohl verstehn &#x2014; da<lb/>
haben die Herren allen Grund, einmal die Augen zuzudrücken, wenn wir ihnen<lb/>
die Wahrheit sagen! So rechnen die jungen Leute und machen in dieser Ge¬<lb/>
sinnung ihre Verse, die nun über die wehrlosen Lehrer niedergehn. Was da<lb/>
nicht nur in den Abschiedsreden der Jünglinge, sondern besonders in den<lb/>
Kneipzeitungen am guten Ton, ja am einfachsten Taktgefühl gesündigt wird,<lb/>
das habe ich oft schmerzlich empfunden, wenn mir solche öde und geistlose<lb/>
Erzeugnisse nicht jugendlichen Humors, sondern frivoler Laune, grober Pietät-<lb/>
losigkeit und offner Mißachtung in die Hand fielen. Ja es kommt vor, daß<lb/>
nicht einmal vor körperlichen Gebrechen der Lehrer Halt gemacht wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2163" next="#ID_2164"> Diese Kladderadatsche sind freilich subjektiv zu beurteilen, und da wird<lb/>
mancher geneigt sein, auf mildernde Umstände zu plädieren. Neun Jahre<lb/>
lang haben die Lehrer die jetzigen rnuli angehalten, anhalten müssen, gegen<lb/>
ihre Natur zu kämpfen. Sie haben sie gequält mit Sprachen und Mathematik,<lb/>
mit Aufsätzen und Experimenten, und keine Liebesmüh mit Schulausflügen<lb/>
und dergleichen modernen Veranstaltungen hat das Gefühl stillen Widerstands<lb/>
beseitigen können.  Jeder, der einmal selbst jung war &#x2014; es sind nicht alle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0583] Vberlehrer und Abiturienten engen Gemeinschaft loslöst, der man viele Jahre angehört hat. Das ist nun freilich anders geworden. In den weitesten Kreisen wird heutzutage von der Schule nur noch der Zwang empfunden, das alte Pietätsverhältnis zwischen den Schülern und der Schule mit ihren Vertretern ist längst bedenklich ge¬ lockert, und in den Köpfen der heranwachsenden Jugend haben sich andre Gefühle festgesetzt. Wie sollte es auch anders sein bei dem fortgesetzten Ge¬ schrei der Tagesblätter über die „Zustände" unsrer höhern Schulen und bei der Gewohnheit vieler Eltern, in Gegenwart ihrer Kinder über Tisch alle diese Fragen an der Hand der Zeitungen zu behandeln! So hat man sich daran gewöhnt, die Abschiedsfeier zu einer Art von Saturnalien werden zu lassen, bei denen zwar nicht der Sklave von dem Herrn bedient wird, bei denen aber der Lehrer den ihm jetzt entwachsnen Schülern den Stoff zur Unterhaltung liefert. Man hat sich ferner daran gewöhnt, die Abiturienten- kladderadatsche oder Vierzeitungen als die Hauptsache der Abschiedsfeier zu betrachten, und sie sind es auch; sie sind es aber auch, die das eingangs erwähnte Ärgernis bieten. Was gewöhnlich drin steht, ist jedem bekannt, der Fühlung mit der Schule hat; mit wenig Witz und viel Behagen werden die vielerlei kleinen Schwächen des Lehrerkollegiums vorgenommen und so getan, als ob nur die Lehrer solche hätten. Dagegen wäre ja an und für sich nicht viel einzuwenden, wenn das richtige Maß eingehalten würde. Das ist aber nun fast nie der Fall, und man darf sich wirklich nicht darüber wundern. Neun lange Jahre mindestens sind die jungen Leute wie Unmündige behandelt worden; nicht sie hatten das Wort, sondern nur die Lehrer. Jetzt ists anders! Die Lehrer sind eingeladen zu unserm Fest, sie kommen, sie setzen sich an unsern Tisch, sie trinken unser Bier und überzeugen sich, daß wir trotz der Vorschriften in den Schulgesetzen den Komment wohl verstehn — da haben die Herren allen Grund, einmal die Augen zuzudrücken, wenn wir ihnen die Wahrheit sagen! So rechnen die jungen Leute und machen in dieser Ge¬ sinnung ihre Verse, die nun über die wehrlosen Lehrer niedergehn. Was da nicht nur in den Abschiedsreden der Jünglinge, sondern besonders in den Kneipzeitungen am guten Ton, ja am einfachsten Taktgefühl gesündigt wird, das habe ich oft schmerzlich empfunden, wenn mir solche öde und geistlose Erzeugnisse nicht jugendlichen Humors, sondern frivoler Laune, grober Pietät- losigkeit und offner Mißachtung in die Hand fielen. Ja es kommt vor, daß nicht einmal vor körperlichen Gebrechen der Lehrer Halt gemacht wird. Diese Kladderadatsche sind freilich subjektiv zu beurteilen, und da wird mancher geneigt sein, auf mildernde Umstände zu plädieren. Neun Jahre lang haben die Lehrer die jetzigen rnuli angehalten, anhalten müssen, gegen ihre Natur zu kämpfen. Sie haben sie gequält mit Sprachen und Mathematik, mit Aufsätzen und Experimenten, und keine Liebesmüh mit Schulausflügen und dergleichen modernen Veranstaltungen hat das Gefühl stillen Widerstands beseitigen können. Jeder, der einmal selbst jung war — es sind nicht alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/583
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/583>, abgerufen am 30.06.2024.