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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Bernard Shaw als Dramatiker

wird hier von Räubern gefangen genommen, philosophiert mit dem Räuber-
hauptmann Mendoza, verbringt die Nacht im Lager, und während er schläft,
erscheinen auf der Bühne Don Juan, Donna Anna, der Teufel und der
Commodore, und alle philosophieren über die Probleme des Lebens, über
Gott, Himmel und Erde, über Mann und Weib, über Liebe und Politik, über
Lebenskraft und bildende Künste, über Wagner und Nietzsche und über den
Übermenschen. "Wo kann ich den Übermenschen finden?" ruft Donna Anna.
"Er ist noch nicht geschaffen, Senora," sagt der Teufel. "Noch nicht geschaffen?
Dann ist mein Werk noch nicht beendet. Ich glaube an das kommende Leben.
(In das Universum hineinrnfend) Einen Vater -- einen Vater für den Über¬
menschen!" Anna Whitesield ist dem entslohnen John auch in einem Automobil
nachgefahren. Im Räuberlager trifft sie ihn, und in Granada fängt sie ihn
endlich mit ihrer Liebe ein.

John Tänner hat seine Ideen in einem Werk "Das Handbuch des Revo¬
lutionärs" (Ins Rövowtionist's RanäbooK) niedergelegt, und diese Schrift ist
dem Lustspiel beigefügt worden -- ein Sammelsurium von originellen Gedanken
und Verrücktheiten, von scharfen Satiren und paradoxen Spekulationen. Einige
seien hier angeführt: "Wer an Erziehung glaubt, an das Strafgesetzbuch und
an Sport, braucht nur noch Geld zu haben, und er ist ein vollkommner moderner
Gentleman." "Das Heim ist das Gefängnis des Mädchens und das Arbeits¬
haus des Weibes." "Die Kultur ist eine Krankheit, die dadurch entstanden ist,
daß man eine Gesellschaft mit verdorbnen Material aufgebaut hat." "Jeder
Mann über vierzig Jahre ist ein Schurke." "Hütet euch vor dem Manne, der
euch den Hieb nicht zurückgibt; er wird euch niemals verzeihen noch zulassen,
daß ihr euch die Tat selbst verzeiht!" "Wenn ihr damit anfangt, euch für die
zu opfern, die ihr liebt, so werdet ihr damit enden, daß ihr die hasset, denen
ihr euch geopfert habt."

Auch die dem Lustspiel vorangestellte Dedikationsepistel an Arthur Bingham
Walkley ist reich an charakteristischen Gedanken. In Bunyan findet Shaw die
ganze Philosophie Nietzsches wieder. "Bunyan, Blake, Hogarth und Turner
(diese vier besonders und vor allen englischen Klassikern), Goethe, Shelley,
Schopenhauer, Wagner, Ibsen, Morris, Tolstoi und Nietzsche gehören zu den
Schriftstellern, deren Weltanschauung der meinigen mehr oder weniger verwandt
ist." Auch das Stück Ng-jor LarvA'g, l> visoussion in 3 aves, 1905) fesselt
mehr durch die darin ausgesprochnen Ideen über soziale Fragen als durch die
Handlung. Die Heldin Barbara ist Major in der Heilsarmee, tritt aber aus,
als sie erfährt, daß die Heilsarmee Unterstützungsgelder annimmt, die nach
Barbaras Ansicht auf unmoralische Weise, zum Beispiel durch Spekulation mit
Branntwein, gewonnen seien. In der Fürsorge für die Arbeiter in ihres Vaters
Fabrik findet sie schließlich Befriedigung, zumal da ihr auch das Glück der
Liebe treu bleibt.

Mit einem von Shaws letzten Stücken "Der Arzt in der Klemme" criw
vovtors DilönunÄ, 1906) hat sich die Kritik lebhaft beschäftigt. Shaw führt


Bernard Shaw als Dramatiker

wird hier von Räubern gefangen genommen, philosophiert mit dem Räuber-
hauptmann Mendoza, verbringt die Nacht im Lager, und während er schläft,
erscheinen auf der Bühne Don Juan, Donna Anna, der Teufel und der
Commodore, und alle philosophieren über die Probleme des Lebens, über
Gott, Himmel und Erde, über Mann und Weib, über Liebe und Politik, über
Lebenskraft und bildende Künste, über Wagner und Nietzsche und über den
Übermenschen. „Wo kann ich den Übermenschen finden?" ruft Donna Anna.
„Er ist noch nicht geschaffen, Senora," sagt der Teufel. „Noch nicht geschaffen?
Dann ist mein Werk noch nicht beendet. Ich glaube an das kommende Leben.
(In das Universum hineinrnfend) Einen Vater — einen Vater für den Über¬
menschen!" Anna Whitesield ist dem entslohnen John auch in einem Automobil
nachgefahren. Im Räuberlager trifft sie ihn, und in Granada fängt sie ihn
endlich mit ihrer Liebe ein.

John Tänner hat seine Ideen in einem Werk „Das Handbuch des Revo¬
lutionärs" (Ins Rövowtionist's RanäbooK) niedergelegt, und diese Schrift ist
dem Lustspiel beigefügt worden — ein Sammelsurium von originellen Gedanken
und Verrücktheiten, von scharfen Satiren und paradoxen Spekulationen. Einige
seien hier angeführt: „Wer an Erziehung glaubt, an das Strafgesetzbuch und
an Sport, braucht nur noch Geld zu haben, und er ist ein vollkommner moderner
Gentleman." „Das Heim ist das Gefängnis des Mädchens und das Arbeits¬
haus des Weibes." „Die Kultur ist eine Krankheit, die dadurch entstanden ist,
daß man eine Gesellschaft mit verdorbnen Material aufgebaut hat." „Jeder
Mann über vierzig Jahre ist ein Schurke." „Hütet euch vor dem Manne, der
euch den Hieb nicht zurückgibt; er wird euch niemals verzeihen noch zulassen,
daß ihr euch die Tat selbst verzeiht!" „Wenn ihr damit anfangt, euch für die
zu opfern, die ihr liebt, so werdet ihr damit enden, daß ihr die hasset, denen
ihr euch geopfert habt."

Auch die dem Lustspiel vorangestellte Dedikationsepistel an Arthur Bingham
Walkley ist reich an charakteristischen Gedanken. In Bunyan findet Shaw die
ganze Philosophie Nietzsches wieder. „Bunyan, Blake, Hogarth und Turner
(diese vier besonders und vor allen englischen Klassikern), Goethe, Shelley,
Schopenhauer, Wagner, Ibsen, Morris, Tolstoi und Nietzsche gehören zu den
Schriftstellern, deren Weltanschauung der meinigen mehr oder weniger verwandt
ist." Auch das Stück Ng-jor LarvA'g, l> visoussion in 3 aves, 1905) fesselt
mehr durch die darin ausgesprochnen Ideen über soziale Fragen als durch die
Handlung. Die Heldin Barbara ist Major in der Heilsarmee, tritt aber aus,
als sie erfährt, daß die Heilsarmee Unterstützungsgelder annimmt, die nach
Barbaras Ansicht auf unmoralische Weise, zum Beispiel durch Spekulation mit
Branntwein, gewonnen seien. In der Fürsorge für die Arbeiter in ihres Vaters
Fabrik findet sie schließlich Befriedigung, zumal da ihr auch das Glück der
Liebe treu bleibt.

Mit einem von Shaws letzten Stücken „Der Arzt in der Klemme" criw
vovtors DilönunÄ, 1906) hat sich die Kritik lebhaft beschäftigt. Shaw führt


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[0572] Bernard Shaw als Dramatiker wird hier von Räubern gefangen genommen, philosophiert mit dem Räuber- hauptmann Mendoza, verbringt die Nacht im Lager, und während er schläft, erscheinen auf der Bühne Don Juan, Donna Anna, der Teufel und der Commodore, und alle philosophieren über die Probleme des Lebens, über Gott, Himmel und Erde, über Mann und Weib, über Liebe und Politik, über Lebenskraft und bildende Künste, über Wagner und Nietzsche und über den Übermenschen. „Wo kann ich den Übermenschen finden?" ruft Donna Anna. „Er ist noch nicht geschaffen, Senora," sagt der Teufel. „Noch nicht geschaffen? Dann ist mein Werk noch nicht beendet. Ich glaube an das kommende Leben. (In das Universum hineinrnfend) Einen Vater — einen Vater für den Über¬ menschen!" Anna Whitesield ist dem entslohnen John auch in einem Automobil nachgefahren. Im Räuberlager trifft sie ihn, und in Granada fängt sie ihn endlich mit ihrer Liebe ein. John Tänner hat seine Ideen in einem Werk „Das Handbuch des Revo¬ lutionärs" (Ins Rövowtionist's RanäbooK) niedergelegt, und diese Schrift ist dem Lustspiel beigefügt worden — ein Sammelsurium von originellen Gedanken und Verrücktheiten, von scharfen Satiren und paradoxen Spekulationen. Einige seien hier angeführt: „Wer an Erziehung glaubt, an das Strafgesetzbuch und an Sport, braucht nur noch Geld zu haben, und er ist ein vollkommner moderner Gentleman." „Das Heim ist das Gefängnis des Mädchens und das Arbeits¬ haus des Weibes." „Die Kultur ist eine Krankheit, die dadurch entstanden ist, daß man eine Gesellschaft mit verdorbnen Material aufgebaut hat." „Jeder Mann über vierzig Jahre ist ein Schurke." „Hütet euch vor dem Manne, der euch den Hieb nicht zurückgibt; er wird euch niemals verzeihen noch zulassen, daß ihr euch die Tat selbst verzeiht!" „Wenn ihr damit anfangt, euch für die zu opfern, die ihr liebt, so werdet ihr damit enden, daß ihr die hasset, denen ihr euch geopfert habt." Auch die dem Lustspiel vorangestellte Dedikationsepistel an Arthur Bingham Walkley ist reich an charakteristischen Gedanken. In Bunyan findet Shaw die ganze Philosophie Nietzsches wieder. „Bunyan, Blake, Hogarth und Turner (diese vier besonders und vor allen englischen Klassikern), Goethe, Shelley, Schopenhauer, Wagner, Ibsen, Morris, Tolstoi und Nietzsche gehören zu den Schriftstellern, deren Weltanschauung der meinigen mehr oder weniger verwandt ist." Auch das Stück Ng-jor LarvA'g, l> visoussion in 3 aves, 1905) fesselt mehr durch die darin ausgesprochnen Ideen über soziale Fragen als durch die Handlung. Die Heldin Barbara ist Major in der Heilsarmee, tritt aber aus, als sie erfährt, daß die Heilsarmee Unterstützungsgelder annimmt, die nach Barbaras Ansicht auf unmoralische Weise, zum Beispiel durch Spekulation mit Branntwein, gewonnen seien. In der Fürsorge für die Arbeiter in ihres Vaters Fabrik findet sie schließlich Befriedigung, zumal da ihr auch das Glück der Liebe treu bleibt. Mit einem von Shaws letzten Stücken „Der Arzt in der Klemme" criw vovtors DilönunÄ, 1906) hat sich die Kritik lebhaft beschäftigt. Shaw führt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/572>, abgerufen am 24.07.2024.