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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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ist ein peinlicher; unter der flammenden Entrüstung glaubt man Schadenfreude
über soviel Schlechtigkeit der Menschen durchschimmern zu sehen." Bon Bo-
landen sagt ein andrer Rezensent, er sei einer jener Eiferer, die ihrer Sache
mehr schaden als nutzen. "Mit der Einseitigkeit des Fanatikers betrachtet er
die Dinge und die Menschen. Wer nicht für ihn ist, der ist wider ihn, und
wenn er nicht segnen kann, dann muß er fluchen."

Über Gabriele d'Annunzio wird in einem Hefte scharf geurteilt, während
ein andres einen Artikel von Alexander Freiherr" von Gleichen - Rußwurm
bringt, der für den allermodernsten Italiener schwärmt. Der erste Jahrgang
der Literarischen Warte war in Quartformat erschienen; der zweite hatte Groß-
vktav angenommen. Mit Beziehung darauf heißt es in einer Zeitschriftenschau:
"Unsre Literarische Warte hat zu ihrem neuen Gang ein Gewand ähnlich dem
der "Gesellschaft" angezogen. Kann und darf sie mich sonst den Spuren der
modernen Schwester folgen?" Die Antwort lautet: Ja, insofern, als die Leute
der "Gesellschaft" im Schaffen ihre Persönlichkeit auswirken wollen. Das
müsse jeder Künstler wollen, auch der katholische. Und ein andres noch müsse
man den Leuten von der "Gesellschaft" lassen, daß sie etwas können. Die
katholischen Schriftsteller aber bemühten sich, gleiches Können zu erringen, und
mehrere hätten es schon errungen. "Mit Arbeiten solcher weit geforderter
Künstlernaturen leitet die Alte und Neue Welt sein in Einsiedeln erscheinendes
illustriertes Familienblattj ihren 35. Jahrgang ein: Sienkiewicz, Herbert, Coloma,
Lingen." Von Gerhart Hauptmann wird anerkannt, daß er ein echter und tiefer
Tragiker sei, Sudermann dagegen der Dichter der wildesten Sinnlichkeit genannt,
einer Sinnlichkeit, die den Kranken verzehrt. An Flachsmann als Erzieher wird
gerügt, daß die Personen zum Teil unwahr und die Vorgänge unmöglich seien.
"Entweder mußte Otto Ernst ganz wahr bleiben und die Zustände unsrer Schulen
schildern, wie sie wirklich sind -- und dabei Hütte er seine treffenden Wahr¬
heiten ebensogut sagen können --, oder er mußte lauter solche Karikaturen
zeichnen, daß jeder ernsthafte Vergleich mit der Wirklichkeit ausgeschlossen war."
Hans Eschelbach tritt warm für den Volksgesang ein, beklagt die Degeneration
des Volksgemüth, die Verdrängung des Volksliedes durch Tingeltangelcouplets
und alberne Gassenhauer. Die Schule solle dem Verderben entgegenwirken --
ohne sich durch die heut vielfach maßgebende übertriebne Ängstlichkeit fesseln
zu lassen. "Die heranwachsende Jugend sieht ihre aufkeimenden Gefühle gern
im Spiegel der Dichtung verklärt, und wenn man ihr die harmlosen Liebes¬
lieder vorenthält, die die naive, keusche Volksseele hervorgebracht hat, so ver¬
dirbt sie sich Sitte und Geschmack mit obszöner, verlognen und abgeschmackten
Straßenliedern." Carl Weitbrechts Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten
Jahrhunderts wird als ein außerordentlich gediegnes Werk gerühmt; doch be¬
merkt der Rezensent: "Weitbrecht tut gut, wenn er jede katholisch gefärbte
Kunst ablehnt, aber dann hätte er dasselbe in Beziehung auf die protestantische
tun sollen." In einer Betrachtung über literarische Kritik erzählt Walther


ist ein peinlicher; unter der flammenden Entrüstung glaubt man Schadenfreude
über soviel Schlechtigkeit der Menschen durchschimmern zu sehen." Bon Bo-
landen sagt ein andrer Rezensent, er sei einer jener Eiferer, die ihrer Sache
mehr schaden als nutzen. „Mit der Einseitigkeit des Fanatikers betrachtet er
die Dinge und die Menschen. Wer nicht für ihn ist, der ist wider ihn, und
wenn er nicht segnen kann, dann muß er fluchen."

Über Gabriele d'Annunzio wird in einem Hefte scharf geurteilt, während
ein andres einen Artikel von Alexander Freiherr» von Gleichen - Rußwurm
bringt, der für den allermodernsten Italiener schwärmt. Der erste Jahrgang
der Literarischen Warte war in Quartformat erschienen; der zweite hatte Groß-
vktav angenommen. Mit Beziehung darauf heißt es in einer Zeitschriftenschau:
„Unsre Literarische Warte hat zu ihrem neuen Gang ein Gewand ähnlich dem
der »Gesellschaft« angezogen. Kann und darf sie mich sonst den Spuren der
modernen Schwester folgen?" Die Antwort lautet: Ja, insofern, als die Leute
der „Gesellschaft" im Schaffen ihre Persönlichkeit auswirken wollen. Das
müsse jeder Künstler wollen, auch der katholische. Und ein andres noch müsse
man den Leuten von der „Gesellschaft" lassen, daß sie etwas können. Die
katholischen Schriftsteller aber bemühten sich, gleiches Können zu erringen, und
mehrere hätten es schon errungen. „Mit Arbeiten solcher weit geforderter
Künstlernaturen leitet die Alte und Neue Welt sein in Einsiedeln erscheinendes
illustriertes Familienblattj ihren 35. Jahrgang ein: Sienkiewicz, Herbert, Coloma,
Lingen." Von Gerhart Hauptmann wird anerkannt, daß er ein echter und tiefer
Tragiker sei, Sudermann dagegen der Dichter der wildesten Sinnlichkeit genannt,
einer Sinnlichkeit, die den Kranken verzehrt. An Flachsmann als Erzieher wird
gerügt, daß die Personen zum Teil unwahr und die Vorgänge unmöglich seien.
„Entweder mußte Otto Ernst ganz wahr bleiben und die Zustände unsrer Schulen
schildern, wie sie wirklich sind — und dabei Hütte er seine treffenden Wahr¬
heiten ebensogut sagen können —, oder er mußte lauter solche Karikaturen
zeichnen, daß jeder ernsthafte Vergleich mit der Wirklichkeit ausgeschlossen war."
Hans Eschelbach tritt warm für den Volksgesang ein, beklagt die Degeneration
des Volksgemüth, die Verdrängung des Volksliedes durch Tingeltangelcouplets
und alberne Gassenhauer. Die Schule solle dem Verderben entgegenwirken —
ohne sich durch die heut vielfach maßgebende übertriebne Ängstlichkeit fesseln
zu lassen. „Die heranwachsende Jugend sieht ihre aufkeimenden Gefühle gern
im Spiegel der Dichtung verklärt, und wenn man ihr die harmlosen Liebes¬
lieder vorenthält, die die naive, keusche Volksseele hervorgebracht hat, so ver¬
dirbt sie sich Sitte und Geschmack mit obszöner, verlognen und abgeschmackten
Straßenliedern." Carl Weitbrechts Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten
Jahrhunderts wird als ein außerordentlich gediegnes Werk gerühmt; doch be¬
merkt der Rezensent: „Weitbrecht tut gut, wenn er jede katholisch gefärbte
Kunst ablehnt, aber dann hätte er dasselbe in Beziehung auf die protestantische
tun sollen." In einer Betrachtung über literarische Kritik erzählt Walther


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/531>, abgerufen am 24.07.2024.