Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches auch in der Gestaltung und der Durchführung seines kolonialpolitischen Programms Ein weit mehr vom Parteistreit beherrschtes Feld scheint die Thronrede zu Der Präsidentenwahl sah man diesmal mit begreiflicher Spannung entgegen. Maßgebliches und Unmaßgebliches auch in der Gestaltung und der Durchführung seines kolonialpolitischen Programms Ein weit mehr vom Parteistreit beherrschtes Feld scheint die Thronrede zu Der Präsidentenwahl sah man diesmal mit begreiflicher Spannung entgegen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0501" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301755"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1877" prev="#ID_1876"> auch in der Gestaltung und der Durchführung seines kolonialpolitischen Programms<lb/> zur Anwendung bringen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1878"> Ein weit mehr vom Parteistreit beherrschtes Feld scheint die Thronrede zu<lb/> betreten, wenn sie eine Fortführung der Sozialreform verheißt. Viele werden<lb/> Zweifel hegen, ob es auch hier möglich sein wird, eine Vereinigung der Kon¬<lb/> servativen und der Liberalen zu gemeinsamer praktischer Arbeit mit einigem Erfolg<lb/> herbeizuführen. Richtig ist, daß auf konservativer Seite und auch bei einem<lb/> Teil der Nationalliberalen die Neigung für sozialreformerische Arbeit recht gering<lb/> ist, und daß die linksliberalen Parteien in diesen Fragen öfters Pfade betreten<lb/> wollen, die für die weiter rechts stehenden Politiker wenig Verlockendes haben.<lb/> Aber trotzdem zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß der Reichskanzler Recht<lb/> hatte, als er meinte, die Zeiten seien vorüber, in denen sich auch innerhalb der<lb/> bürgerlichen Parteien die sozialpolitischen Gegensätze in voller Schroffheit gegenüber¬<lb/> standen. Es handelt sich jetzt um Fragen, die zwar einer grundsätzlichen Bedeutung<lb/> nicht entbehren, aber doch ziemlich losgelöst von parteipolitischer Grundsätzen be¬<lb/> handelt werden können. Ja sie sind vielleicht viel eher geeignet, in die politischen<lb/> Parteien selbst Spaltungen hineinzutragen, als daß sie zum Zankapfel zwischen<lb/> Rechts und Links werden könnten. So steht es mit der Frage der Berufsvereine,<lb/> so auch mit der Frage der Arbeitskammern. Aber wie man auch grundsätzlich<lb/> darüber denken mag. so wird man doch zugeben, daß alles, was der Staat vernünftiger¬<lb/> weise den Arbeitern an Rechten und sozialpolitischer Fürsorge gewähren kann, am besten<lb/> in dem Augenblick gegeben wird, wo die Sozialdemokratie eine ernsthafte Niederlage<lb/> erlitten hat und moralisch zu Boden geschlagen worden ist. Die Staatsgewalt muß<lb/> zeigen, daß sie den Arbeitern freudig und aus Pflichtgefühl das Ihrige gibt,<lb/> und gerade dann gibt, wenn die politische Ohnmacht der utopischen Lehren, deren<lb/> verführerischer Kraft sich die Arbeiterschaft so gern hingegeben hat, erwiesen ist.<lb/> Die Reichsregierung hat recht getan, in der Thronrede offen an die Erfahrungen<lb/> der Wahlen anzuknüpfen und trotz mancher drohenden Schwierigkeiten gerade für<lb/> die Sozialpolitik ein „Nun erst recht!" anzukündigen. Das Zentrum hat sogleich<lb/> daraus die richtige Folgerung gezogen. Es ist die erste Partei, die im neuen<lb/> Reichstag sofort mit sozialpolitischen Anträgen auf den Plan getreten ist. Die<lb/> andern bürgerlichen Parteien werden hoffentlich daraus einen Wink und eine Lehre<lb/> entnehmen. Es liegt darin ein starker Druck für alle der Sozialreform freund¬<lb/> lichen Elemente außerhalb des Zentrums zur Verständigung und zum positive»<lb/> Schaffen. Diesem Druck werden sich auch reaktionär gestimmte Gruppen nicht ganz<lb/> entziehen können. Man darf also hoffen, daß auch auf sozialpolitischen Gebiet eine<lb/> fruchtbare Mehrheit im neuen Reichstage zu finden sein wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1879" next="#ID_1880"> Der Präsidentenwahl sah man diesmal mit begreiflicher Spannung entgegen.<lb/> Das Zentrum wollte es auf den Versuch ankommen lassen, sein formelles Recht<lb/> als stärkste Partei des Reichstags geltend zu machen und den Präsidenten zu stellen.<lb/> Der Abgeordnete spähn war dazu ausersehen, also gerade die Persönlichkeit, die<lb/> durch ihr Auftreten in den letzten Sitzungen des vorigen Reichstags die Unter¬<lb/> werfung der Fraktionsführung unter die Demagogie Erzbergers offenkundig gemacht<lb/> hatte. Der Reichstag erkannte mit Recht, das durch die Erfüllung dieses her¬<lb/> kömmlichen Anrechts der stärksten Partei auf den Präsidentensitz in diesem Falle<lb/> geradezu eine unmögliche Lage geschaffen wurde. Es hätte wie ein Hohn auf das<lb/> Wahlergebnis gewirkt, wenn der Reichstag aus derselben Koalition, die in den<lb/> Wahlen als „antinational" verworfen und in die Minderheit gebracht worden war,<lb/> seinen Vorsitzenden gewählt hätte. Zwar schien es wirklich einen Augenblick, als<lb/> werde das Zentrum in der Präsidentenfrage triumphieren, aber die Überlegung</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0501]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
auch in der Gestaltung und der Durchführung seines kolonialpolitischen Programms
zur Anwendung bringen wird.
Ein weit mehr vom Parteistreit beherrschtes Feld scheint die Thronrede zu
betreten, wenn sie eine Fortführung der Sozialreform verheißt. Viele werden
Zweifel hegen, ob es auch hier möglich sein wird, eine Vereinigung der Kon¬
servativen und der Liberalen zu gemeinsamer praktischer Arbeit mit einigem Erfolg
herbeizuführen. Richtig ist, daß auf konservativer Seite und auch bei einem
Teil der Nationalliberalen die Neigung für sozialreformerische Arbeit recht gering
ist, und daß die linksliberalen Parteien in diesen Fragen öfters Pfade betreten
wollen, die für die weiter rechts stehenden Politiker wenig Verlockendes haben.
Aber trotzdem zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß der Reichskanzler Recht
hatte, als er meinte, die Zeiten seien vorüber, in denen sich auch innerhalb der
bürgerlichen Parteien die sozialpolitischen Gegensätze in voller Schroffheit gegenüber¬
standen. Es handelt sich jetzt um Fragen, die zwar einer grundsätzlichen Bedeutung
nicht entbehren, aber doch ziemlich losgelöst von parteipolitischer Grundsätzen be¬
handelt werden können. Ja sie sind vielleicht viel eher geeignet, in die politischen
Parteien selbst Spaltungen hineinzutragen, als daß sie zum Zankapfel zwischen
Rechts und Links werden könnten. So steht es mit der Frage der Berufsvereine,
so auch mit der Frage der Arbeitskammern. Aber wie man auch grundsätzlich
darüber denken mag. so wird man doch zugeben, daß alles, was der Staat vernünftiger¬
weise den Arbeitern an Rechten und sozialpolitischer Fürsorge gewähren kann, am besten
in dem Augenblick gegeben wird, wo die Sozialdemokratie eine ernsthafte Niederlage
erlitten hat und moralisch zu Boden geschlagen worden ist. Die Staatsgewalt muß
zeigen, daß sie den Arbeitern freudig und aus Pflichtgefühl das Ihrige gibt,
und gerade dann gibt, wenn die politische Ohnmacht der utopischen Lehren, deren
verführerischer Kraft sich die Arbeiterschaft so gern hingegeben hat, erwiesen ist.
Die Reichsregierung hat recht getan, in der Thronrede offen an die Erfahrungen
der Wahlen anzuknüpfen und trotz mancher drohenden Schwierigkeiten gerade für
die Sozialpolitik ein „Nun erst recht!" anzukündigen. Das Zentrum hat sogleich
daraus die richtige Folgerung gezogen. Es ist die erste Partei, die im neuen
Reichstag sofort mit sozialpolitischen Anträgen auf den Plan getreten ist. Die
andern bürgerlichen Parteien werden hoffentlich daraus einen Wink und eine Lehre
entnehmen. Es liegt darin ein starker Druck für alle der Sozialreform freund¬
lichen Elemente außerhalb des Zentrums zur Verständigung und zum positive»
Schaffen. Diesem Druck werden sich auch reaktionär gestimmte Gruppen nicht ganz
entziehen können. Man darf also hoffen, daß auch auf sozialpolitischen Gebiet eine
fruchtbare Mehrheit im neuen Reichstage zu finden sein wird.
Der Präsidentenwahl sah man diesmal mit begreiflicher Spannung entgegen.
Das Zentrum wollte es auf den Versuch ankommen lassen, sein formelles Recht
als stärkste Partei des Reichstags geltend zu machen und den Präsidenten zu stellen.
Der Abgeordnete spähn war dazu ausersehen, also gerade die Persönlichkeit, die
durch ihr Auftreten in den letzten Sitzungen des vorigen Reichstags die Unter¬
werfung der Fraktionsführung unter die Demagogie Erzbergers offenkundig gemacht
hatte. Der Reichstag erkannte mit Recht, das durch die Erfüllung dieses her¬
kömmlichen Anrechts der stärksten Partei auf den Präsidentensitz in diesem Falle
geradezu eine unmögliche Lage geschaffen wurde. Es hätte wie ein Hohn auf das
Wahlergebnis gewirkt, wenn der Reichstag aus derselben Koalition, die in den
Wahlen als „antinational" verworfen und in die Minderheit gebracht worden war,
seinen Vorsitzenden gewählt hätte. Zwar schien es wirklich einen Augenblick, als
werde das Zentrum in der Präsidentenfrage triumphieren, aber die Überlegung
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