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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Verkehr mit Männern und Familien von verschiedner Auffassung und Lebens¬
stellung Gelegenheit gehabt habe, alle möglichen Ansichten zu hören und gegen¬
einander abzuwägen und dadurch mein Auge für die eignen Beobachtungen
zu schärfen.

Vergleicht man die deutschen und die brasilianischen Zustände im allge¬
meine", so kann selbstverständlich kein Zweifel darüber sein, welche von beiden
den Vorzug verdienen. Was der Deutsche in Brasilien besonders schätzt, ist
das Gefühl größerer persönlicher Freiheit. Die Bevormundung ist nicht so weit
ausgedehnt wie bei uns, und man lernt einsehen, daß es auch so geht. Bei
Gelegenheit erkundigte ich mich, wie diese oder jene minder wichtigen Angelegen¬
heiten, mit denen sich die deutschen Verwaltung^- und Gerichtsbehörden oft in
der mühseligsten Arbeit beschäftigen müssen, in Brasilien geregelt wären. Wenn
ich dann erfuhr, daß Staat und Behörden auf jede Einmischung verzichten, und
sah, daß die Zustände trotzdem befriedigend waren, so fragte ich mich, ob >vir
uns nicht wenigstens in manchen Beziehungen ein Beispiel daran nehmen sollten.

Von der Bevölkerung interessierte mich natürlich am meisten der deutsche
Teil. Während nach den drei Südstaaten Parana, Santa Catharina und Rio
Grande do Suk viele deutsche Ackerbauer auswandern, die sich dort ansiedeln,
wenden sich nach Mittelbrasilien deutsche Auswandrer im engern Sinne des
Wortes überhaupt nicht oder doch nur in seltnen Fällen. Die Deutschen in
Mittelbrasilien sind meist Kaufleute oder Gewerbetreibende, die entweder auf eine
mehr oder weniger im voraus bestimmte Zeit, oder zwar ans unbestimmte Zeit,
aber doch nicht für immer dorthin gehn. Manchen glückt es freilich nicht so,
wie sie gehofft hatten, und sie müssen schließlich wohl oder übel zeitlebens in
Brasilien bleiben. Aber ihr ganzes Streben ist nur darauf gerichtet, Geld zu
erwerben, um später in Deutschland davon zu leben. Herr Müller in Carioba
machte hierin und auch in andrer Hinsicht eine Ausnahme. Im allgemeinen
dreht sich für die Deutschen im Staate Sav Paulo, und besonders in Santos,
alles um den Kaffeehandel und das, was damit in Zusammenhang steht, wie
Ernteaussichten, Geldkurs, Welthandelspreise, Frachtsätze, Schiffahrt, in der
letzten Zeit auch uoch die Ausführung eines Gesetzes, das die Neuanlage von
Kaffeeanpflanzungen im Interesse des Kaffeepreises untersagt. Für die politischen
und die kommunalen Zustünde haben sie keinen Sinn, sie nehmen sie hin, wie
sie sind, üben unter sich allenfalls scharfe Kritik an ihnen, suchen sich aber in
keiner Weise an ihrer Ausgestaltung zu beteiligen. Mir ist es begegnet, daß
ein seit langen Jahren in Brasilien wohnender deutscher Kaufmann, der über die
wirtschaftlichen Verhältnisse recht gut Bescheid wußte, den Namen des damaligen
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Brasilien nicht zu nennen vermochte.
So ist es gekommen, daß die Deutschen, obgleich sie persönlich fast durchweg
geachtet siud und in angesehenen oder sogar hervorragenden Stellungen leben,
doch keinen ihrer Bedeutung auch nur annähernd entsprechenden Einfluß auf die
Verwaltung und die Gesetzgebung des Landes ausüben. Es ist dies zweifellos


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Verkehr mit Männern und Familien von verschiedner Auffassung und Lebens¬
stellung Gelegenheit gehabt habe, alle möglichen Ansichten zu hören und gegen¬
einander abzuwägen und dadurch mein Auge für die eignen Beobachtungen
zu schärfen.

Vergleicht man die deutschen und die brasilianischen Zustände im allge¬
meine», so kann selbstverständlich kein Zweifel darüber sein, welche von beiden
den Vorzug verdienen. Was der Deutsche in Brasilien besonders schätzt, ist
das Gefühl größerer persönlicher Freiheit. Die Bevormundung ist nicht so weit
ausgedehnt wie bei uns, und man lernt einsehen, daß es auch so geht. Bei
Gelegenheit erkundigte ich mich, wie diese oder jene minder wichtigen Angelegen¬
heiten, mit denen sich die deutschen Verwaltung^- und Gerichtsbehörden oft in
der mühseligsten Arbeit beschäftigen müssen, in Brasilien geregelt wären. Wenn
ich dann erfuhr, daß Staat und Behörden auf jede Einmischung verzichten, und
sah, daß die Zustände trotzdem befriedigend waren, so fragte ich mich, ob >vir
uns nicht wenigstens in manchen Beziehungen ein Beispiel daran nehmen sollten.

Von der Bevölkerung interessierte mich natürlich am meisten der deutsche
Teil. Während nach den drei Südstaaten Parana, Santa Catharina und Rio
Grande do Suk viele deutsche Ackerbauer auswandern, die sich dort ansiedeln,
wenden sich nach Mittelbrasilien deutsche Auswandrer im engern Sinne des
Wortes überhaupt nicht oder doch nur in seltnen Fällen. Die Deutschen in
Mittelbrasilien sind meist Kaufleute oder Gewerbetreibende, die entweder auf eine
mehr oder weniger im voraus bestimmte Zeit, oder zwar ans unbestimmte Zeit,
aber doch nicht für immer dorthin gehn. Manchen glückt es freilich nicht so,
wie sie gehofft hatten, und sie müssen schließlich wohl oder übel zeitlebens in
Brasilien bleiben. Aber ihr ganzes Streben ist nur darauf gerichtet, Geld zu
erwerben, um später in Deutschland davon zu leben. Herr Müller in Carioba
machte hierin und auch in andrer Hinsicht eine Ausnahme. Im allgemeinen
dreht sich für die Deutschen im Staate Sav Paulo, und besonders in Santos,
alles um den Kaffeehandel und das, was damit in Zusammenhang steht, wie
Ernteaussichten, Geldkurs, Welthandelspreise, Frachtsätze, Schiffahrt, in der
letzten Zeit auch uoch die Ausführung eines Gesetzes, das die Neuanlage von
Kaffeeanpflanzungen im Interesse des Kaffeepreises untersagt. Für die politischen
und die kommunalen Zustünde haben sie keinen Sinn, sie nehmen sie hin, wie
sie sind, üben unter sich allenfalls scharfe Kritik an ihnen, suchen sich aber in
keiner Weise an ihrer Ausgestaltung zu beteiligen. Mir ist es begegnet, daß
ein seit langen Jahren in Brasilien wohnender deutscher Kaufmann, der über die
wirtschaftlichen Verhältnisse recht gut Bescheid wußte, den Namen des damaligen
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Brasilien nicht zu nennen vermochte.
So ist es gekommen, daß die Deutschen, obgleich sie persönlich fast durchweg
geachtet siud und in angesehenen oder sogar hervorragenden Stellungen leben,
doch keinen ihrer Bedeutung auch nur annähernd entsprechenden Einfluß auf die
Verwaltung und die Gesetzgebung des Landes ausüben. Es ist dies zweifellos


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/483>, abgerufen am 25.07.2024.