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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Luftreisen

Hundert gelber Flicken auf dem schmutzig bräunlich gewordnen Stoff seiner Hülle.
Das war unser Ballon, der alte "Helmholtz". Seine Führung war durchs
Los einem in mehr als dreißig Fahrten bewährten Luftschiffer, früheren Assi¬
stenten am Aeronautischen Observatorium, Dr. Elias in Berlin zugefallen; der
an mich ergangnen Aufforderung, ihn dabei zu unterstützen, leistete ich gern
Folge. An Jahren seines Daseins hätte der alte "Helmholtz" es mit andern
Ballons wohl aufnehmen können. Im Juli 1904 schwebte er zum ersten¬
mal ins Reich der Lüfte empor, das war bei unsrer Fahrt nach dem
Riesengebirge, über die im zweiten und dritten Hefte des Jahrgangs 1905
berichtet worden ist. Aber die Lebensdauer eines Ballons hängt von der
Zahl seiner Fahrten ab, und diese entspricht ungefähr den Jahren eines
Menschen. Auch ihr Leben währet siebzig -- Fahrten, und Wenns hoch kommt,
achtzig; hundert zu erreichen ist nur wenigen beschieden. Unser "Helmholtz"
aber hat die Siebzig schon überschritten. Auch füllt es auf, daß es bei ihm
mit der Füllung gar nicht recht vorwärts gehn will. Während die andern schon
voll und prall sind, ruht er noch immer trug und gedrückt am Boden, und
manche geringschätzige Bemerkung darüber wird laut. Der Kenner aber durch¬
schaut sofort, woran es liegt, und lacht: auf dem Füllschlauch sitzt ein stämmiger
Gardeinfanterist, damit das Gas nicht zu rasch in die durchlässige alte Ballon¬
hülle einströmt und sich unter der Einwirkung der Sonnenwärme nicht vor¬
zeitig ausdehnt. Nach einer halben Stunde wiegen sich elf Ballons stolz und
ungeduldig in der leicht bewegten Luft, fünf andre folgen bald nach, und ganz
zuletzt bequemt sich auch der alte "Helmholtz" dazu. Die in großen Buchstaben
auf jeder Hülle angebrachten Namen werden sichtbar, und Flaggen in den ver-
schiednen Landesfarben wehen von den Auslanfleinen herab.

Die Abfahrtsnummern waren schon mehrere Tage vorher verlost worden,
nach ihrer Reihenfolge begannen Punkt drei Uhr die Ausstiege. Noch eine
Stunde zuvor war es unsicher, ob an der beabsichtigten Weitfahrt festgehalten
werden könnte, das heißt einer Fahrt, bei der die gerade Luftlinie vom Ab-
fahrts- bis zum Landungsplatz ausschlaggebend ist, nicht etwa die wirklich zurück¬
gelegte Strecke. Die Windrichtung hatte wiederholt gewechselt. Hütte zum
Beispiel der Südost die Oberhand gewonnen, so wäre an die Stelle der Weit¬
fahrt eine Zielfahrt getreten, bei der es darauf angekommen wäre, unter ge¬
schickter Ausnützung der in den verschiednen Luftschichten herrschenden Strömungen
möglichst nahe an einem vorher bezeichneten Punkt in der Nähe der Nordseeküste
zu landen. Die dritte Möglichkeit eines Wettfliegens, die Dauerfahrt, kam diesmal
nicht in Betracht. Glücklicherweise drehte sich der Wind immer entschiedner
nach Ostsüdosten, sodaß die Gefahr einer Verwesung auf die See nicht mehr
zu befürchten war und Weitfahrt die Losung bleiben konnte.

Um bei der verschiednen Größe der Ballons und der infolgedessen auch
verschiednen Menge des mitgeführten Ballasts für die Beurteilung der Leistungen
die Vorteile durch Vorgeben auszugleichen (Handicap nach den Ergebnissen),


Luftreisen

Hundert gelber Flicken auf dem schmutzig bräunlich gewordnen Stoff seiner Hülle.
Das war unser Ballon, der alte „Helmholtz". Seine Führung war durchs
Los einem in mehr als dreißig Fahrten bewährten Luftschiffer, früheren Assi¬
stenten am Aeronautischen Observatorium, Dr. Elias in Berlin zugefallen; der
an mich ergangnen Aufforderung, ihn dabei zu unterstützen, leistete ich gern
Folge. An Jahren seines Daseins hätte der alte „Helmholtz" es mit andern
Ballons wohl aufnehmen können. Im Juli 1904 schwebte er zum ersten¬
mal ins Reich der Lüfte empor, das war bei unsrer Fahrt nach dem
Riesengebirge, über die im zweiten und dritten Hefte des Jahrgangs 1905
berichtet worden ist. Aber die Lebensdauer eines Ballons hängt von der
Zahl seiner Fahrten ab, und diese entspricht ungefähr den Jahren eines
Menschen. Auch ihr Leben währet siebzig — Fahrten, und Wenns hoch kommt,
achtzig; hundert zu erreichen ist nur wenigen beschieden. Unser „Helmholtz"
aber hat die Siebzig schon überschritten. Auch füllt es auf, daß es bei ihm
mit der Füllung gar nicht recht vorwärts gehn will. Während die andern schon
voll und prall sind, ruht er noch immer trug und gedrückt am Boden, und
manche geringschätzige Bemerkung darüber wird laut. Der Kenner aber durch¬
schaut sofort, woran es liegt, und lacht: auf dem Füllschlauch sitzt ein stämmiger
Gardeinfanterist, damit das Gas nicht zu rasch in die durchlässige alte Ballon¬
hülle einströmt und sich unter der Einwirkung der Sonnenwärme nicht vor¬
zeitig ausdehnt. Nach einer halben Stunde wiegen sich elf Ballons stolz und
ungeduldig in der leicht bewegten Luft, fünf andre folgen bald nach, und ganz
zuletzt bequemt sich auch der alte „Helmholtz" dazu. Die in großen Buchstaben
auf jeder Hülle angebrachten Namen werden sichtbar, und Flaggen in den ver-
schiednen Landesfarben wehen von den Auslanfleinen herab.

Die Abfahrtsnummern waren schon mehrere Tage vorher verlost worden,
nach ihrer Reihenfolge begannen Punkt drei Uhr die Ausstiege. Noch eine
Stunde zuvor war es unsicher, ob an der beabsichtigten Weitfahrt festgehalten
werden könnte, das heißt einer Fahrt, bei der die gerade Luftlinie vom Ab-
fahrts- bis zum Landungsplatz ausschlaggebend ist, nicht etwa die wirklich zurück¬
gelegte Strecke. Die Windrichtung hatte wiederholt gewechselt. Hütte zum
Beispiel der Südost die Oberhand gewonnen, so wäre an die Stelle der Weit¬
fahrt eine Zielfahrt getreten, bei der es darauf angekommen wäre, unter ge¬
schickter Ausnützung der in den verschiednen Luftschichten herrschenden Strömungen
möglichst nahe an einem vorher bezeichneten Punkt in der Nähe der Nordseeküste
zu landen. Die dritte Möglichkeit eines Wettfliegens, die Dauerfahrt, kam diesmal
nicht in Betracht. Glücklicherweise drehte sich der Wind immer entschiedner
nach Ostsüdosten, sodaß die Gefahr einer Verwesung auf die See nicht mehr
zu befürchten war und Weitfahrt die Losung bleiben konnte.

Um bei der verschiednen Größe der Ballons und der infolgedessen auch
verschiednen Menge des mitgeführten Ballasts für die Beurteilung der Leistungen
die Vorteile durch Vorgeben auszugleichen (Handicap nach den Ergebnissen),


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/38>, abgerufen am 02.07.2024.