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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die englische Herrschaft in Indien

auch England zur See heilt mag, seine Landtruppen gegen das, was Rußland
in der Mandschurei aufstellen konnte, gar nicht verschlagen. Und doch hat das
erst so kurze Zeit unter den Einwirkungen der europäischen Kultur stehende
Japanervolk die russische Landmacht glänzend besiegt. Damit werden natürlich
die Hoffnungen, daß sich auch die riesige Volksmasse Indiens einst von dem
Joche der Engländer befreie, sehr gekräftigt. An einen bewaffneten Aufstand
denken wohl zurzeit nur wenige. Denn die englischen Truppen, wenn auch nicht
viel zahlreicher als 1857, halten die wichtigsten Posten besetzt. Sie haben sich
viele farbige Soldaten angegliedert, auf deren Abfall die kleine allenfalls un¬
ruhige Schicht der Gebildeten denn doch nicht rechnen kann. Die Vasallenfürsten
haben aber nur halb so viele Soldaten wie 1857, und eins hat ihnen die
britische Regierung niemals erlaubt: Kanonen zu besitzen; Kanonen vertraut
man nicht einmal unter britischen Kommando stehenden farbigen Truppen
an. Obendrein hütet sich England, wie schon oben erwähnt, sehr sorgfältig, die
Mohammedaner und die Hindus abermals gemeinsam zu kränken.

So lange nicht etwa ein auswärtiger Feind auf indischem Boden erscheint,
ist ein indischer Aufruhr also ein wesenloses Gespenst. Doch kann man un¬
bedenklich sagen, daß die Sache schon so weit ist, daß England nicht ohne die
größte eigne Gefahr japanische Regimenter herbeirufen dürfte, etwa um die
Nordgrenze gegen Rußland zu verteidigen. Es wüßte wohl, wann sie kämen,
aber nicht, wann sie gingen. Vielleicht machte es eine ähnliche Erfahrung wie
Sttditalien, als es gegen die Sarazenen die Normannen zu Hilfe rief, die
fortan als Herren im Lande sitzen blieben. Oder wenn Japan auch so weit
nicht gehn wollte, so könnte doch die bloße Abhängigkeit der englischen Herr¬
schaft von dieser asiatischen Hilfe den Indern die beschränkten Machtmittel ihrer
Beherrscher allzu deutlich machen.

Vor offen aufrührerischen Bestrebungen müssen sich die Inder natürlich
hüten. England würde nicht fackeln, um sie sogleich im Keim unschädlich zu
machen. Aber innerhalb der Gesetze kann man sich viel erlauben. Die ge¬
bildete Schicht sucht zunächst eine Selbstverwaltung des Landes durch die
Inder zu schaffen und sich für diese Zwecke ein geeignetes Organ heranzubilden,
ein indisches Parlament. Die eigentlichen Träger dieser Forderung sind die Hindus,
die zur brahmanischen Religion gehörigen Inder, die mit 207 Millionen Seelen
die große Mehrheit bilden. Sie sind es auch, denen die Regierung in erster
Linie mißtraut. Bengalen, der am dichtesten bevölkerte Teil des Landes, ist der
Hauptsitz der Brahmaanhänger. Die Provinz hat 74^ Millionen Einwohner,
wovon 48 Millionen Hindus und 23^ Millionen Mohammedaner sind; der
Rest verteilt sich auf verschiedne Religionen. Die Mohammedaner bilden in
der Osthälfte die Mehrheit. Die Negierung ist nun wohl gewillt, den Einge-
bornen ein gewisses Maß von Selbstverwaltung zu geben, aber an eigentliche
Parlamentarische Formen denkt sie nicht. Das hat der Vizekönig Lord Minto
am 1. Oktober 1906 einem mohannnedamschen Ausschuß deutlich erklärt, der


Die englische Herrschaft in Indien

auch England zur See heilt mag, seine Landtruppen gegen das, was Rußland
in der Mandschurei aufstellen konnte, gar nicht verschlagen. Und doch hat das
erst so kurze Zeit unter den Einwirkungen der europäischen Kultur stehende
Japanervolk die russische Landmacht glänzend besiegt. Damit werden natürlich
die Hoffnungen, daß sich auch die riesige Volksmasse Indiens einst von dem
Joche der Engländer befreie, sehr gekräftigt. An einen bewaffneten Aufstand
denken wohl zurzeit nur wenige. Denn die englischen Truppen, wenn auch nicht
viel zahlreicher als 1857, halten die wichtigsten Posten besetzt. Sie haben sich
viele farbige Soldaten angegliedert, auf deren Abfall die kleine allenfalls un¬
ruhige Schicht der Gebildeten denn doch nicht rechnen kann. Die Vasallenfürsten
haben aber nur halb so viele Soldaten wie 1857, und eins hat ihnen die
britische Regierung niemals erlaubt: Kanonen zu besitzen; Kanonen vertraut
man nicht einmal unter britischen Kommando stehenden farbigen Truppen
an. Obendrein hütet sich England, wie schon oben erwähnt, sehr sorgfältig, die
Mohammedaner und die Hindus abermals gemeinsam zu kränken.

So lange nicht etwa ein auswärtiger Feind auf indischem Boden erscheint,
ist ein indischer Aufruhr also ein wesenloses Gespenst. Doch kann man un¬
bedenklich sagen, daß die Sache schon so weit ist, daß England nicht ohne die
größte eigne Gefahr japanische Regimenter herbeirufen dürfte, etwa um die
Nordgrenze gegen Rußland zu verteidigen. Es wüßte wohl, wann sie kämen,
aber nicht, wann sie gingen. Vielleicht machte es eine ähnliche Erfahrung wie
Sttditalien, als es gegen die Sarazenen die Normannen zu Hilfe rief, die
fortan als Herren im Lande sitzen blieben. Oder wenn Japan auch so weit
nicht gehn wollte, so könnte doch die bloße Abhängigkeit der englischen Herr¬
schaft von dieser asiatischen Hilfe den Indern die beschränkten Machtmittel ihrer
Beherrscher allzu deutlich machen.

Vor offen aufrührerischen Bestrebungen müssen sich die Inder natürlich
hüten. England würde nicht fackeln, um sie sogleich im Keim unschädlich zu
machen. Aber innerhalb der Gesetze kann man sich viel erlauben. Die ge¬
bildete Schicht sucht zunächst eine Selbstverwaltung des Landes durch die
Inder zu schaffen und sich für diese Zwecke ein geeignetes Organ heranzubilden,
ein indisches Parlament. Die eigentlichen Träger dieser Forderung sind die Hindus,
die zur brahmanischen Religion gehörigen Inder, die mit 207 Millionen Seelen
die große Mehrheit bilden. Sie sind es auch, denen die Regierung in erster
Linie mißtraut. Bengalen, der am dichtesten bevölkerte Teil des Landes, ist der
Hauptsitz der Brahmaanhänger. Die Provinz hat 74^ Millionen Einwohner,
wovon 48 Millionen Hindus und 23^ Millionen Mohammedaner sind; der
Rest verteilt sich auf verschiedne Religionen. Die Mohammedaner bilden in
der Osthälfte die Mehrheit. Die Negierung ist nun wohl gewillt, den Einge-
bornen ein gewisses Maß von Selbstverwaltung zu geben, aber an eigentliche
Parlamentarische Formen denkt sie nicht. Das hat der Vizekönig Lord Minto
am 1. Oktober 1906 einem mohannnedamschen Ausschuß deutlich erklärt, der


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[0343] Die englische Herrschaft in Indien auch England zur See heilt mag, seine Landtruppen gegen das, was Rußland in der Mandschurei aufstellen konnte, gar nicht verschlagen. Und doch hat das erst so kurze Zeit unter den Einwirkungen der europäischen Kultur stehende Japanervolk die russische Landmacht glänzend besiegt. Damit werden natürlich die Hoffnungen, daß sich auch die riesige Volksmasse Indiens einst von dem Joche der Engländer befreie, sehr gekräftigt. An einen bewaffneten Aufstand denken wohl zurzeit nur wenige. Denn die englischen Truppen, wenn auch nicht viel zahlreicher als 1857, halten die wichtigsten Posten besetzt. Sie haben sich viele farbige Soldaten angegliedert, auf deren Abfall die kleine allenfalls un¬ ruhige Schicht der Gebildeten denn doch nicht rechnen kann. Die Vasallenfürsten haben aber nur halb so viele Soldaten wie 1857, und eins hat ihnen die britische Regierung niemals erlaubt: Kanonen zu besitzen; Kanonen vertraut man nicht einmal unter britischen Kommando stehenden farbigen Truppen an. Obendrein hütet sich England, wie schon oben erwähnt, sehr sorgfältig, die Mohammedaner und die Hindus abermals gemeinsam zu kränken. So lange nicht etwa ein auswärtiger Feind auf indischem Boden erscheint, ist ein indischer Aufruhr also ein wesenloses Gespenst. Doch kann man un¬ bedenklich sagen, daß die Sache schon so weit ist, daß England nicht ohne die größte eigne Gefahr japanische Regimenter herbeirufen dürfte, etwa um die Nordgrenze gegen Rußland zu verteidigen. Es wüßte wohl, wann sie kämen, aber nicht, wann sie gingen. Vielleicht machte es eine ähnliche Erfahrung wie Sttditalien, als es gegen die Sarazenen die Normannen zu Hilfe rief, die fortan als Herren im Lande sitzen blieben. Oder wenn Japan auch so weit nicht gehn wollte, so könnte doch die bloße Abhängigkeit der englischen Herr¬ schaft von dieser asiatischen Hilfe den Indern die beschränkten Machtmittel ihrer Beherrscher allzu deutlich machen. Vor offen aufrührerischen Bestrebungen müssen sich die Inder natürlich hüten. England würde nicht fackeln, um sie sogleich im Keim unschädlich zu machen. Aber innerhalb der Gesetze kann man sich viel erlauben. Die ge¬ bildete Schicht sucht zunächst eine Selbstverwaltung des Landes durch die Inder zu schaffen und sich für diese Zwecke ein geeignetes Organ heranzubilden, ein indisches Parlament. Die eigentlichen Träger dieser Forderung sind die Hindus, die zur brahmanischen Religion gehörigen Inder, die mit 207 Millionen Seelen die große Mehrheit bilden. Sie sind es auch, denen die Regierung in erster Linie mißtraut. Bengalen, der am dichtesten bevölkerte Teil des Landes, ist der Hauptsitz der Brahmaanhänger. Die Provinz hat 74^ Millionen Einwohner, wovon 48 Millionen Hindus und 23^ Millionen Mohammedaner sind; der Rest verteilt sich auf verschiedne Religionen. Die Mohammedaner bilden in der Osthälfte die Mehrheit. Die Negierung ist nun wohl gewillt, den Einge- bornen ein gewisses Maß von Selbstverwaltung zu geben, aber an eigentliche Parlamentarische Formen denkt sie nicht. Das hat der Vizekönig Lord Minto am 1. Oktober 1906 einem mohannnedamschen Ausschuß deutlich erklärt, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/343>, abgerufen am 24.07.2024.