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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die englische Herrschaft in Indien

unterschätzte England die Wehrhaftigkeit des Volkes gründlich. Es erzwang an
sich nützliche Reformen ohne Rücksicht auf die Gefühle der Eingebornen und
bedachte nicht, daß seinen 57000 Mann europäischen Truppen noch immer
700000 Mann farbiger Soldaten gegenüberstanden, teils in unmittelbarem
britischen, teils im Dienste von Vasallenfürsten, Das Faß zum Überlaufen brachte
die Ausgabe eingefetteter Patronen; die Hindu verehren das Rind als heilig,
die Mohammedaner verabscheuen das Schwein. War das Fett nun vom Rind
oder vom Schwein, jedenfalls hatte man die religiösen Gefühle beider großen
Religionsgemeinschaften gründlich verletzt. Solche Fehler wird man zu ver¬
meiden wissen.

Seitdem hat sich um Indien in jeder Beziehung großartig entwickelt. Die
Eisenbahnen, Telegraphen, Kanäle, Wasserleitungen, die Schulen, die Polizei, die
Gerichte verkünden die segensreiche englische Herrschaft. Ein halbes Jahrhundert
ohne Aufstände liegt hinter uns. Die Wohlfahrt eines Volkes von 290 Millionen,
dem es an eigner Tatkraft mangelt, emporzubringen, ist ein Riesenwerk. Daß
das noch nicht vollbracht ist, kann nicht überraschen. Gewiß ist, daß auch hierin
große Fortschritte gemacht sind.

Schließlich erlebt England aber mit den Hindus dasselbe, was unser
Schicksal mit den Polen ist: gerade dadurch, daß England das Volk so wesentlich
gehoben hat, kommen auch die Triebe zur Unabhängigkeit zum Leben. In Indien
hat man es erst mit den Anfängen zu tun. Aber unausbleiblich sind die Fort¬
schritte. Denn der heutige Stand der Humanität verträgt es nicht mehr, daß
man eine unterworfne Masse von den Segnungen der Bildung ausschließt, wie
die Amerikaner das mit den Negern gemacht haben. Die Kultur hat einen
innerlichen Drang, andre an ihren Vorteilen teilnehmen zu lassen, und England
hat dem in vollem Umfange nachgegeben, indem es im Lande niedere und hohe
Schulen errichtet und die Studien von Indern an seinen eignen Hochschulen
begünstigt hat. Damit ist eine Schicht hochgebildeter Inder entstanden, die an
englischer Literatur und Wissenschaft regen Anteil nimmt. Viele davon stehen
auf englischer Seite und verfechten vor ihren Landsleuten die Überzeugung, daß
Indien nur gewinnen könne, wenn auch fernerhin die Engländer am Ganges
und am Indus geböten. Es sind aber auch viele andre da, die von einer Un¬
abhängigkeit, von einem Regiment träumen, das sie sich wohl wesentlich als in
ihren Händen liegend vorstellen.

Das trat schon längst vor dem russisch-japanischen Kriege hervor. Oft hat
England schon mit einiger Unruhe auf diese Dinge geblickt und sich zur Wach¬
samkeit ermahnt. Der große Sieg eines asiatisches Volkes über eine weiße
Großmacht hat nun das bewirkt, was eigentlich alle Welt im voraus als un¬
ausbleiblich voraussah: eine ganz wesentliche Hebung des Selbstgefühls der
Inder, eine Stärkung der Unabhängigkeitstrüume. Die Inder wissen recht gut,
daß Englisch - Indien von mehr als 290 Millionen Einwohnern bewohnt ist,
während Japan mir den sechsten Teil hatte. Sie wissen ferner, daß wie start


Die englische Herrschaft in Indien

unterschätzte England die Wehrhaftigkeit des Volkes gründlich. Es erzwang an
sich nützliche Reformen ohne Rücksicht auf die Gefühle der Eingebornen und
bedachte nicht, daß seinen 57000 Mann europäischen Truppen noch immer
700000 Mann farbiger Soldaten gegenüberstanden, teils in unmittelbarem
britischen, teils im Dienste von Vasallenfürsten, Das Faß zum Überlaufen brachte
die Ausgabe eingefetteter Patronen; die Hindu verehren das Rind als heilig,
die Mohammedaner verabscheuen das Schwein. War das Fett nun vom Rind
oder vom Schwein, jedenfalls hatte man die religiösen Gefühle beider großen
Religionsgemeinschaften gründlich verletzt. Solche Fehler wird man zu ver¬
meiden wissen.

Seitdem hat sich um Indien in jeder Beziehung großartig entwickelt. Die
Eisenbahnen, Telegraphen, Kanäle, Wasserleitungen, die Schulen, die Polizei, die
Gerichte verkünden die segensreiche englische Herrschaft. Ein halbes Jahrhundert
ohne Aufstände liegt hinter uns. Die Wohlfahrt eines Volkes von 290 Millionen,
dem es an eigner Tatkraft mangelt, emporzubringen, ist ein Riesenwerk. Daß
das noch nicht vollbracht ist, kann nicht überraschen. Gewiß ist, daß auch hierin
große Fortschritte gemacht sind.

Schließlich erlebt England aber mit den Hindus dasselbe, was unser
Schicksal mit den Polen ist: gerade dadurch, daß England das Volk so wesentlich
gehoben hat, kommen auch die Triebe zur Unabhängigkeit zum Leben. In Indien
hat man es erst mit den Anfängen zu tun. Aber unausbleiblich sind die Fort¬
schritte. Denn der heutige Stand der Humanität verträgt es nicht mehr, daß
man eine unterworfne Masse von den Segnungen der Bildung ausschließt, wie
die Amerikaner das mit den Negern gemacht haben. Die Kultur hat einen
innerlichen Drang, andre an ihren Vorteilen teilnehmen zu lassen, und England
hat dem in vollem Umfange nachgegeben, indem es im Lande niedere und hohe
Schulen errichtet und die Studien von Indern an seinen eignen Hochschulen
begünstigt hat. Damit ist eine Schicht hochgebildeter Inder entstanden, die an
englischer Literatur und Wissenschaft regen Anteil nimmt. Viele davon stehen
auf englischer Seite und verfechten vor ihren Landsleuten die Überzeugung, daß
Indien nur gewinnen könne, wenn auch fernerhin die Engländer am Ganges
und am Indus geböten. Es sind aber auch viele andre da, die von einer Un¬
abhängigkeit, von einem Regiment träumen, das sie sich wohl wesentlich als in
ihren Händen liegend vorstellen.

Das trat schon längst vor dem russisch-japanischen Kriege hervor. Oft hat
England schon mit einiger Unruhe auf diese Dinge geblickt und sich zur Wach¬
samkeit ermahnt. Der große Sieg eines asiatisches Volkes über eine weiße
Großmacht hat nun das bewirkt, was eigentlich alle Welt im voraus als un¬
ausbleiblich voraussah: eine ganz wesentliche Hebung des Selbstgefühls der
Inder, eine Stärkung der Unabhängigkeitstrüume. Die Inder wissen recht gut,
daß Englisch - Indien von mehr als 290 Millionen Einwohnern bewohnt ist,
während Japan mir den sechsten Teil hatte. Sie wissen ferner, daß wie start


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[0342] Die englische Herrschaft in Indien unterschätzte England die Wehrhaftigkeit des Volkes gründlich. Es erzwang an sich nützliche Reformen ohne Rücksicht auf die Gefühle der Eingebornen und bedachte nicht, daß seinen 57000 Mann europäischen Truppen noch immer 700000 Mann farbiger Soldaten gegenüberstanden, teils in unmittelbarem britischen, teils im Dienste von Vasallenfürsten, Das Faß zum Überlaufen brachte die Ausgabe eingefetteter Patronen; die Hindu verehren das Rind als heilig, die Mohammedaner verabscheuen das Schwein. War das Fett nun vom Rind oder vom Schwein, jedenfalls hatte man die religiösen Gefühle beider großen Religionsgemeinschaften gründlich verletzt. Solche Fehler wird man zu ver¬ meiden wissen. Seitdem hat sich um Indien in jeder Beziehung großartig entwickelt. Die Eisenbahnen, Telegraphen, Kanäle, Wasserleitungen, die Schulen, die Polizei, die Gerichte verkünden die segensreiche englische Herrschaft. Ein halbes Jahrhundert ohne Aufstände liegt hinter uns. Die Wohlfahrt eines Volkes von 290 Millionen, dem es an eigner Tatkraft mangelt, emporzubringen, ist ein Riesenwerk. Daß das noch nicht vollbracht ist, kann nicht überraschen. Gewiß ist, daß auch hierin große Fortschritte gemacht sind. Schließlich erlebt England aber mit den Hindus dasselbe, was unser Schicksal mit den Polen ist: gerade dadurch, daß England das Volk so wesentlich gehoben hat, kommen auch die Triebe zur Unabhängigkeit zum Leben. In Indien hat man es erst mit den Anfängen zu tun. Aber unausbleiblich sind die Fort¬ schritte. Denn der heutige Stand der Humanität verträgt es nicht mehr, daß man eine unterworfne Masse von den Segnungen der Bildung ausschließt, wie die Amerikaner das mit den Negern gemacht haben. Die Kultur hat einen innerlichen Drang, andre an ihren Vorteilen teilnehmen zu lassen, und England hat dem in vollem Umfange nachgegeben, indem es im Lande niedere und hohe Schulen errichtet und die Studien von Indern an seinen eignen Hochschulen begünstigt hat. Damit ist eine Schicht hochgebildeter Inder entstanden, die an englischer Literatur und Wissenschaft regen Anteil nimmt. Viele davon stehen auf englischer Seite und verfechten vor ihren Landsleuten die Überzeugung, daß Indien nur gewinnen könne, wenn auch fernerhin die Engländer am Ganges und am Indus geböten. Es sind aber auch viele andre da, die von einer Un¬ abhängigkeit, von einem Regiment träumen, das sie sich wohl wesentlich als in ihren Händen liegend vorstellen. Das trat schon längst vor dem russisch-japanischen Kriege hervor. Oft hat England schon mit einiger Unruhe auf diese Dinge geblickt und sich zur Wach¬ samkeit ermahnt. Der große Sieg eines asiatisches Volkes über eine weiße Großmacht hat nun das bewirkt, was eigentlich alle Welt im voraus als un¬ ausbleiblich voraussah: eine ganz wesentliche Hebung des Selbstgefühls der Inder, eine Stärkung der Unabhängigkeitstrüume. Die Inder wissen recht gut, daß Englisch - Indien von mehr als 290 Millionen Einwohnern bewohnt ist, während Japan mir den sechsten Teil hatte. Sie wissen ferner, daß wie start

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/342>, abgerufen am 30.06.2024.