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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Wie ich zu dem Roman "Zwei Seelen" kam

woran jedoch, da die Hauptsache fehlte, nicht viel gelegen war. So geriet ich
auf den Gedanken, ein neues Lebensbild mit den Mitteln der dichtenden
Phantasie zu entwerfen und die Farben so zu mischen, daß am Ende mein
Erinnerungsbild herauskommen mußte. Ich begann auch damit, ließ die Arbeit
aber wieder liegen, bis mich unmittelbar vor dem Antritt meiner Sommerreise
die Bitte meines Verlegers ereilte, ich möchte ihm die Lebensbeschreibung, von
der ich zu ihm gesprochen hatte, für die Grenzboten geben. In meiner frohen
Reisestimmung, in der mich alles fröhlich anlachte, versprach ich ihm, den
Aufsatz zu schreiben und fuhr mit meinen Papieren wohlgemut nach Gomagoi
unter dem Ortler. Aber aus dem Aufsatz wurde ein Buch, aus der Schilderung
ein Roman, und mit der einen Gestalt, die ich hatte malen wollen, drängten
sich mancherlei andre Schatten an mich heran, die von mir Leben empfangen
wollten. So saß ich, statt der Ferienlust zu genießen, Tag für Tag am Schreib¬
tisch und vor den weißen Blättern. Das geschah jedoch in der herrlichsten
Natur, inmitten frühlingsfrischer Wälder, mit dem Blick auf samtgrüne Matten,
ferne blaue Bergbilder und weiße Schneehäupter über mir. Da schweifte das
Auge weit hinaus und kehrte nie leer zurück.

Da ich keine kriminalistische Erzählung schreiben wollte, sondern da mein
Blick auf den innern Vorgängen in der Seele des Heinrich dieser Geschichte
ruhte, so mußte ich mich ganz in seine Seele zu versetzen suchen und sein Leben
in mir erleben. Jeder Spaziergang in die Wälder, das Rauschen des Wild¬
baches, das ich immerfort vernahm, Sonne, Mond und Sterne, die über mir
auf und nieder gingen, kurz alles, was um mich her lebte und webte, floß dn
in das Buch hinein und bildete sich darin ab. Und wenn ich später bei der
Korrektur die einzelnen Sätze wieder lesen mußte, so mußte ich immerfort an
das, was ich damals gesehen und erlebt hatte, zurückdenken: es wachte wieder
auf und schimmerte zwischen den Zeilen hervor, Erinnerungen an Menschen
und Erinnerungen an die Sommertage in dem schönen Lande, darin ich das
Buch begonnen hatte. Den Schluß mit der Alpenschilderung schrieb ich dann,
als es Herbst und Winter wurde, und als das liebe Bergland auch für mich
zu einer Erinnerung geworden war.

Viele haben sich nachher an dem Buch erfreut, einige hätten dem Heinrich,
den sie lieb gewonnen hatten, gern die Hand gedrückt, und mehrere waren
verdrießlich, als sie erfuhren, daß sie ihre Teilnahme einem erdichteten Leben
zugewandt hatten. Sie wollten nun wenigstens wissen, wieviel Wahrheit in
der Erzählung enthalten sei. Ich habe immer wieder die Antwort gegeben:
Es ist alles Wahrheit. Wahr ist vor allem der letzte Eindruck, den der Leser
empfängt, auf ihn hin ist das Buch überhaupt geschrieben worden. Wahr ist der
Zwiespalt in der menschlichen Natur, und wahr sind die Einzelheiten des Buches.
Sie sind nicht nach der Wirklichkeit gezeichnet, aber daran kontrolliert worden.

Sind die Bilder der Menschen alle verschieden, und hat jedes von ihnen
seine Besonderheiten, so enthüllen sie doch dem, der sie lange anschaut, etwas,


Wie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam

woran jedoch, da die Hauptsache fehlte, nicht viel gelegen war. So geriet ich
auf den Gedanken, ein neues Lebensbild mit den Mitteln der dichtenden
Phantasie zu entwerfen und die Farben so zu mischen, daß am Ende mein
Erinnerungsbild herauskommen mußte. Ich begann auch damit, ließ die Arbeit
aber wieder liegen, bis mich unmittelbar vor dem Antritt meiner Sommerreise
die Bitte meines Verlegers ereilte, ich möchte ihm die Lebensbeschreibung, von
der ich zu ihm gesprochen hatte, für die Grenzboten geben. In meiner frohen
Reisestimmung, in der mich alles fröhlich anlachte, versprach ich ihm, den
Aufsatz zu schreiben und fuhr mit meinen Papieren wohlgemut nach Gomagoi
unter dem Ortler. Aber aus dem Aufsatz wurde ein Buch, aus der Schilderung
ein Roman, und mit der einen Gestalt, die ich hatte malen wollen, drängten
sich mancherlei andre Schatten an mich heran, die von mir Leben empfangen
wollten. So saß ich, statt der Ferienlust zu genießen, Tag für Tag am Schreib¬
tisch und vor den weißen Blättern. Das geschah jedoch in der herrlichsten
Natur, inmitten frühlingsfrischer Wälder, mit dem Blick auf samtgrüne Matten,
ferne blaue Bergbilder und weiße Schneehäupter über mir. Da schweifte das
Auge weit hinaus und kehrte nie leer zurück.

Da ich keine kriminalistische Erzählung schreiben wollte, sondern da mein
Blick auf den innern Vorgängen in der Seele des Heinrich dieser Geschichte
ruhte, so mußte ich mich ganz in seine Seele zu versetzen suchen und sein Leben
in mir erleben. Jeder Spaziergang in die Wälder, das Rauschen des Wild¬
baches, das ich immerfort vernahm, Sonne, Mond und Sterne, die über mir
auf und nieder gingen, kurz alles, was um mich her lebte und webte, floß dn
in das Buch hinein und bildete sich darin ab. Und wenn ich später bei der
Korrektur die einzelnen Sätze wieder lesen mußte, so mußte ich immerfort an
das, was ich damals gesehen und erlebt hatte, zurückdenken: es wachte wieder
auf und schimmerte zwischen den Zeilen hervor, Erinnerungen an Menschen
und Erinnerungen an die Sommertage in dem schönen Lande, darin ich das
Buch begonnen hatte. Den Schluß mit der Alpenschilderung schrieb ich dann,
als es Herbst und Winter wurde, und als das liebe Bergland auch für mich
zu einer Erinnerung geworden war.

Viele haben sich nachher an dem Buch erfreut, einige hätten dem Heinrich,
den sie lieb gewonnen hatten, gern die Hand gedrückt, und mehrere waren
verdrießlich, als sie erfuhren, daß sie ihre Teilnahme einem erdichteten Leben
zugewandt hatten. Sie wollten nun wenigstens wissen, wieviel Wahrheit in
der Erzählung enthalten sei. Ich habe immer wieder die Antwort gegeben:
Es ist alles Wahrheit. Wahr ist vor allem der letzte Eindruck, den der Leser
empfängt, auf ihn hin ist das Buch überhaupt geschrieben worden. Wahr ist der
Zwiespalt in der menschlichen Natur, und wahr sind die Einzelheiten des Buches.
Sie sind nicht nach der Wirklichkeit gezeichnet, aber daran kontrolliert worden.

Sind die Bilder der Menschen alle verschieden, und hat jedes von ihnen
seine Besonderheiten, so enthüllen sie doch dem, der sie lange anschaut, etwas,


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[0319] Wie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam woran jedoch, da die Hauptsache fehlte, nicht viel gelegen war. So geriet ich auf den Gedanken, ein neues Lebensbild mit den Mitteln der dichtenden Phantasie zu entwerfen und die Farben so zu mischen, daß am Ende mein Erinnerungsbild herauskommen mußte. Ich begann auch damit, ließ die Arbeit aber wieder liegen, bis mich unmittelbar vor dem Antritt meiner Sommerreise die Bitte meines Verlegers ereilte, ich möchte ihm die Lebensbeschreibung, von der ich zu ihm gesprochen hatte, für die Grenzboten geben. In meiner frohen Reisestimmung, in der mich alles fröhlich anlachte, versprach ich ihm, den Aufsatz zu schreiben und fuhr mit meinen Papieren wohlgemut nach Gomagoi unter dem Ortler. Aber aus dem Aufsatz wurde ein Buch, aus der Schilderung ein Roman, und mit der einen Gestalt, die ich hatte malen wollen, drängten sich mancherlei andre Schatten an mich heran, die von mir Leben empfangen wollten. So saß ich, statt der Ferienlust zu genießen, Tag für Tag am Schreib¬ tisch und vor den weißen Blättern. Das geschah jedoch in der herrlichsten Natur, inmitten frühlingsfrischer Wälder, mit dem Blick auf samtgrüne Matten, ferne blaue Bergbilder und weiße Schneehäupter über mir. Da schweifte das Auge weit hinaus und kehrte nie leer zurück. Da ich keine kriminalistische Erzählung schreiben wollte, sondern da mein Blick auf den innern Vorgängen in der Seele des Heinrich dieser Geschichte ruhte, so mußte ich mich ganz in seine Seele zu versetzen suchen und sein Leben in mir erleben. Jeder Spaziergang in die Wälder, das Rauschen des Wild¬ baches, das ich immerfort vernahm, Sonne, Mond und Sterne, die über mir auf und nieder gingen, kurz alles, was um mich her lebte und webte, floß dn in das Buch hinein und bildete sich darin ab. Und wenn ich später bei der Korrektur die einzelnen Sätze wieder lesen mußte, so mußte ich immerfort an das, was ich damals gesehen und erlebt hatte, zurückdenken: es wachte wieder auf und schimmerte zwischen den Zeilen hervor, Erinnerungen an Menschen und Erinnerungen an die Sommertage in dem schönen Lande, darin ich das Buch begonnen hatte. Den Schluß mit der Alpenschilderung schrieb ich dann, als es Herbst und Winter wurde, und als das liebe Bergland auch für mich zu einer Erinnerung geworden war. Viele haben sich nachher an dem Buch erfreut, einige hätten dem Heinrich, den sie lieb gewonnen hatten, gern die Hand gedrückt, und mehrere waren verdrießlich, als sie erfuhren, daß sie ihre Teilnahme einem erdichteten Leben zugewandt hatten. Sie wollten nun wenigstens wissen, wieviel Wahrheit in der Erzählung enthalten sei. Ich habe immer wieder die Antwort gegeben: Es ist alles Wahrheit. Wahr ist vor allem der letzte Eindruck, den der Leser empfängt, auf ihn hin ist das Buch überhaupt geschrieben worden. Wahr ist der Zwiespalt in der menschlichen Natur, und wahr sind die Einzelheiten des Buches. Sie sind nicht nach der Wirklichkeit gezeichnet, aber daran kontrolliert worden. Sind die Bilder der Menschen alle verschieden, und hat jedes von ihnen seine Besonderheiten, so enthüllen sie doch dem, der sie lange anschaut, etwas,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/319>, abgerufen am 05.07.2024.