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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Mie ich zu dem Roman "Zwei Seelen" kam

Ferne und darüber der Himmel mit den Wolken und den Sternen. Ich wäre
aber unglücklich, sähe ich es nicht mehr.

Sie lesen gewiß viel? fragte ich in Verwunderung über seine feine Aus¬
drucksweise.

Sehr viel, bestätigte er. Fast immer, wenn die Arbeit vorüber ist, und
des Sonntags lese ich, aber auch wühreud der Arbeit liegt häufig ein Buch
aufgeschlagen neben mir, und ich blicke dann und wann hinein. Ich habe
jedoch nicht viele Bücher gelesen. Was mir einmal gefallen hat, lese ich gern
immer wieder. Manches Buch kenne ich fast auswendig und finde doch immer
wieder etwas Neues darin. Es ist das einzige noch, was ich habe, und es
ist uicht wenig.

Als ich von diesem Mann wegging, hatten sich die schweren und unheim¬
lichen Eindrücke, die mich vorher beunruhigt hatten, verzogen, als wäre ein
frischer, reiner Wind über dunkle Wolken gekommen und hätte sie verjagt, und
das finstere Haus, in dem ich meinen Beruf ausüben sollte, lag mit einem-
male in einem hellen,, freundlichen Scheine vor mir.

Ich bin nachher oft bei diesem einsamen Menschen gewesen. Während sich
aber die erste Begegnung meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat,
habe ich vou allen spätern eine undeutliche Erinnerung. Der Gefangne war
von einfacher Herkunft und Bildung, hatte aber seinen Geist unablässig geschult,
und er hatte über alles, was in seinen Gesichtskreis gelangte, eigne und be¬
sondre Gedanken. Trotz seines traurigen Geschickes war er nicht schwermütig,
sondern zwar ernst, aber doch zugleich heiter. Ich habe ihm das Beste aus
der Literatur gebracht, merkte aber bald, daß er Erzählungen aus der Gegen¬
wart unruhig hinnahm und davon leicht verstimmt wurde. Dagegen machte es
ihm stets Freude, gute Bücher aus ältrer Zeit zu lesen. Sein Entzücken aber
war groß, als ich ihm ein Buch von Stifter gab. Immer wieder nahm er es
vor und versenkte sich immer tiefer hinein. Die schöne, stille, von heiterm Licht
verklärte Welt dieses Dichters wurde seine ganze Freude und ersetzte ihm, was
er verloren hatte, Heimat und Natur.

Eines Wortes von ihm entsinne ich mich noch. Ich war über etwas ver¬
stimmt zu ihm gekommen und sagte zu ihm: Heute muß ich mich bei Ihnen
aufheitern.

Er lächelte und antwortete: Die Sonne scheint so schön, und hören Sie,
wie es draußen in den Gärten singt. Ich glaube, Sie sitzen zu viel zu Hause
und arbeiten zu viel, und Sie sind zu viel zwischen diesen Mauern. Davon
wird man verdrießlich. Sie müssen viel im Walde herumlaufen, das macht
fröhlich.

Und was fangen Sie an, wenn Ihnen nicht wohl ist? fragte ich.

Ich? Ich mache es ebenso, antwortete er leise. Freilich, hinaus komme ich
nicht mehr, das geschah früher. Aber zuweilen setze ich mich an meinen Tisch,
schließe die Augen und sehe dann alles noch einmal, was ich einst gehabt habe.


Mie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam

Ferne und darüber der Himmel mit den Wolken und den Sternen. Ich wäre
aber unglücklich, sähe ich es nicht mehr.

Sie lesen gewiß viel? fragte ich in Verwunderung über seine feine Aus¬
drucksweise.

Sehr viel, bestätigte er. Fast immer, wenn die Arbeit vorüber ist, und
des Sonntags lese ich, aber auch wühreud der Arbeit liegt häufig ein Buch
aufgeschlagen neben mir, und ich blicke dann und wann hinein. Ich habe
jedoch nicht viele Bücher gelesen. Was mir einmal gefallen hat, lese ich gern
immer wieder. Manches Buch kenne ich fast auswendig und finde doch immer
wieder etwas Neues darin. Es ist das einzige noch, was ich habe, und es
ist uicht wenig.

Als ich von diesem Mann wegging, hatten sich die schweren und unheim¬
lichen Eindrücke, die mich vorher beunruhigt hatten, verzogen, als wäre ein
frischer, reiner Wind über dunkle Wolken gekommen und hätte sie verjagt, und
das finstere Haus, in dem ich meinen Beruf ausüben sollte, lag mit einem-
male in einem hellen,, freundlichen Scheine vor mir.

Ich bin nachher oft bei diesem einsamen Menschen gewesen. Während sich
aber die erste Begegnung meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat,
habe ich vou allen spätern eine undeutliche Erinnerung. Der Gefangne war
von einfacher Herkunft und Bildung, hatte aber seinen Geist unablässig geschult,
und er hatte über alles, was in seinen Gesichtskreis gelangte, eigne und be¬
sondre Gedanken. Trotz seines traurigen Geschickes war er nicht schwermütig,
sondern zwar ernst, aber doch zugleich heiter. Ich habe ihm das Beste aus
der Literatur gebracht, merkte aber bald, daß er Erzählungen aus der Gegen¬
wart unruhig hinnahm und davon leicht verstimmt wurde. Dagegen machte es
ihm stets Freude, gute Bücher aus ältrer Zeit zu lesen. Sein Entzücken aber
war groß, als ich ihm ein Buch von Stifter gab. Immer wieder nahm er es
vor und versenkte sich immer tiefer hinein. Die schöne, stille, von heiterm Licht
verklärte Welt dieses Dichters wurde seine ganze Freude und ersetzte ihm, was
er verloren hatte, Heimat und Natur.

Eines Wortes von ihm entsinne ich mich noch. Ich war über etwas ver¬
stimmt zu ihm gekommen und sagte zu ihm: Heute muß ich mich bei Ihnen
aufheitern.

Er lächelte und antwortete: Die Sonne scheint so schön, und hören Sie,
wie es draußen in den Gärten singt. Ich glaube, Sie sitzen zu viel zu Hause
und arbeiten zu viel, und Sie sind zu viel zwischen diesen Mauern. Davon
wird man verdrießlich. Sie müssen viel im Walde herumlaufen, das macht
fröhlich.

Und was fangen Sie an, wenn Ihnen nicht wohl ist? fragte ich.

Ich? Ich mache es ebenso, antwortete er leise. Freilich, hinaus komme ich
nicht mehr, das geschah früher. Aber zuweilen setze ich mich an meinen Tisch,
schließe die Augen und sehe dann alles noch einmal, was ich einst gehabt habe.


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[0317] Mie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam Ferne und darüber der Himmel mit den Wolken und den Sternen. Ich wäre aber unglücklich, sähe ich es nicht mehr. Sie lesen gewiß viel? fragte ich in Verwunderung über seine feine Aus¬ drucksweise. Sehr viel, bestätigte er. Fast immer, wenn die Arbeit vorüber ist, und des Sonntags lese ich, aber auch wühreud der Arbeit liegt häufig ein Buch aufgeschlagen neben mir, und ich blicke dann und wann hinein. Ich habe jedoch nicht viele Bücher gelesen. Was mir einmal gefallen hat, lese ich gern immer wieder. Manches Buch kenne ich fast auswendig und finde doch immer wieder etwas Neues darin. Es ist das einzige noch, was ich habe, und es ist uicht wenig. Als ich von diesem Mann wegging, hatten sich die schweren und unheim¬ lichen Eindrücke, die mich vorher beunruhigt hatten, verzogen, als wäre ein frischer, reiner Wind über dunkle Wolken gekommen und hätte sie verjagt, und das finstere Haus, in dem ich meinen Beruf ausüben sollte, lag mit einem- male in einem hellen,, freundlichen Scheine vor mir. Ich bin nachher oft bei diesem einsamen Menschen gewesen. Während sich aber die erste Begegnung meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat, habe ich vou allen spätern eine undeutliche Erinnerung. Der Gefangne war von einfacher Herkunft und Bildung, hatte aber seinen Geist unablässig geschult, und er hatte über alles, was in seinen Gesichtskreis gelangte, eigne und be¬ sondre Gedanken. Trotz seines traurigen Geschickes war er nicht schwermütig, sondern zwar ernst, aber doch zugleich heiter. Ich habe ihm das Beste aus der Literatur gebracht, merkte aber bald, daß er Erzählungen aus der Gegen¬ wart unruhig hinnahm und davon leicht verstimmt wurde. Dagegen machte es ihm stets Freude, gute Bücher aus ältrer Zeit zu lesen. Sein Entzücken aber war groß, als ich ihm ein Buch von Stifter gab. Immer wieder nahm er es vor und versenkte sich immer tiefer hinein. Die schöne, stille, von heiterm Licht verklärte Welt dieses Dichters wurde seine ganze Freude und ersetzte ihm, was er verloren hatte, Heimat und Natur. Eines Wortes von ihm entsinne ich mich noch. Ich war über etwas ver¬ stimmt zu ihm gekommen und sagte zu ihm: Heute muß ich mich bei Ihnen aufheitern. Er lächelte und antwortete: Die Sonne scheint so schön, und hören Sie, wie es draußen in den Gärten singt. Ich glaube, Sie sitzen zu viel zu Hause und arbeiten zu viel, und Sie sind zu viel zwischen diesen Mauern. Davon wird man verdrießlich. Sie müssen viel im Walde herumlaufen, das macht fröhlich. Und was fangen Sie an, wenn Ihnen nicht wohl ist? fragte ich. Ich? Ich mache es ebenso, antwortete er leise. Freilich, hinaus komme ich nicht mehr, das geschah früher. Aber zuweilen setze ich mich an meinen Tisch, schließe die Augen und sehe dann alles noch einmal, was ich einst gehabt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/317>, abgerufen am 24.07.2024.