Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie ich zu dem Roman "Zwei Seelen" kam

Wie dem seinen. Einst hatte er ein Weib, das ihn liebte, und liebliche Kinder,
ein blühendes Geschäft und einen ehrlichen Namen -- das war nun alles
dahin. Seine Gefangenschaft sollte viele Jahre dauern, und den Tag der
Freiheit, man ahnte es schon damals, erlebte er nicht mehr.

Nach ihm besuchte ich noch zwei jüngere Leute, lebenslängliche Gefangne
und wegen Vatermords bestraft, beide tief niedergeschlagen und krank an Leib
und Seele. Hierauf wollte ich das traurige Buch, in dem ich zu lesen an¬
gefangen hatte, für diesen Abend schließen.

Auf den Gängen war es nun schon dunkel geworden, matt schimmerten
einige Lampen über die grauen Manerwände hin, und lautlos, als lebte
niemand um mich her, war es in dem ganzen finstern Hause. Im tiefsten
Herzen traurig stand ich auf dem einsamen Korridor und fragte mich, wie ich
es ertragen würde, solche Bilder Tag für Tag vor mir zu haben. Bei dem
Gedanken aber, daß ich diese Bilder nicht nur zu betrachten hätte, sondern
daß ich an allen diesen Menschen auch eine Aufgabe erfüllen sollte, befiel
mich das Gefühl völliger Mutlosigkeit. Hatte ich vermutlich auch beim ersten
Aufschlagen des Buches zufällig seine dunkelsten Blätter angesehen, so durfte
ich doch nicht erwarten, daß das übrige viel Heller sein würde. Im Begriff
zu gehn und das Haus zu verlassen, blieb ich noch vor einer Zelle stehn und
sah durch das Türfensterchen in sie hinein. Was ich da erblickte, veranlaßte
mich, auch diese Tür noch aufzuschließen.

Es war eine Zelle wie alle andern, grau getüncht, kahl und nüchtern,
und dennoch sah sie anders aus als alle Zellen, die ich vorher betreten hatte.
Über der Lampe, die sie erleuchtete, hing ein Lampenschirm, aus Leinen ver¬
fertigt und mit etlichen bunten Läppchen verziert, durch die das Licht warm
und gemildert hindurchglänzte. Alle Zellen waren ja in gleicher Weise auf¬
geräumt, über dieser lag ein Hauch von Wohnlichkeit, ein friedlicher Abend¬
schimmer. Ein Familienbild, einen alten, einfachen Mann darstellend, stand
auf dem Arbeitstisch, ein paar grüne Zweige waren an der Wand befestigt.
Es war der allerdürftigste Schmuck, den man sich denken konnte, und gleich¬
wohl war er allenthalben zu merken und zu fühlen.

Der Gefangne, der bei meinem Eintritt aufgestanden war, sah mich
freundlich und zutraulich an. Was für gute, sanfte Augen, sagte ich damals
zu mir, es war der erste Eindruck, den ich von ihm empfing. Er war von
schlanker Gestalt und hatte ein zartgebildetcs blasses Gesicht, worin diese
Augen klar und intelligent leuchteten.

Ich fragte ihn nach seinem Namen und nach seiner Strafe. Ein schwerer
Schatten zog über sein Gesicht, als er mir antwortete. Auch er war ein
lebenslänglicher Gefangner, wegen Mordes bestraft, und befand sich schon viele
Jahre in dieser Zelle.

Dieser Mann mit der milden Stimme, den guten, freundlichen Augen,
dem seinen, stillen Wesen, ein Mörder -- es war unfaßbar. Gern hätte ich


Wie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam

Wie dem seinen. Einst hatte er ein Weib, das ihn liebte, und liebliche Kinder,
ein blühendes Geschäft und einen ehrlichen Namen — das war nun alles
dahin. Seine Gefangenschaft sollte viele Jahre dauern, und den Tag der
Freiheit, man ahnte es schon damals, erlebte er nicht mehr.

Nach ihm besuchte ich noch zwei jüngere Leute, lebenslängliche Gefangne
und wegen Vatermords bestraft, beide tief niedergeschlagen und krank an Leib
und Seele. Hierauf wollte ich das traurige Buch, in dem ich zu lesen an¬
gefangen hatte, für diesen Abend schließen.

Auf den Gängen war es nun schon dunkel geworden, matt schimmerten
einige Lampen über die grauen Manerwände hin, und lautlos, als lebte
niemand um mich her, war es in dem ganzen finstern Hause. Im tiefsten
Herzen traurig stand ich auf dem einsamen Korridor und fragte mich, wie ich
es ertragen würde, solche Bilder Tag für Tag vor mir zu haben. Bei dem
Gedanken aber, daß ich diese Bilder nicht nur zu betrachten hätte, sondern
daß ich an allen diesen Menschen auch eine Aufgabe erfüllen sollte, befiel
mich das Gefühl völliger Mutlosigkeit. Hatte ich vermutlich auch beim ersten
Aufschlagen des Buches zufällig seine dunkelsten Blätter angesehen, so durfte
ich doch nicht erwarten, daß das übrige viel Heller sein würde. Im Begriff
zu gehn und das Haus zu verlassen, blieb ich noch vor einer Zelle stehn und
sah durch das Türfensterchen in sie hinein. Was ich da erblickte, veranlaßte
mich, auch diese Tür noch aufzuschließen.

Es war eine Zelle wie alle andern, grau getüncht, kahl und nüchtern,
und dennoch sah sie anders aus als alle Zellen, die ich vorher betreten hatte.
Über der Lampe, die sie erleuchtete, hing ein Lampenschirm, aus Leinen ver¬
fertigt und mit etlichen bunten Läppchen verziert, durch die das Licht warm
und gemildert hindurchglänzte. Alle Zellen waren ja in gleicher Weise auf¬
geräumt, über dieser lag ein Hauch von Wohnlichkeit, ein friedlicher Abend¬
schimmer. Ein Familienbild, einen alten, einfachen Mann darstellend, stand
auf dem Arbeitstisch, ein paar grüne Zweige waren an der Wand befestigt.
Es war der allerdürftigste Schmuck, den man sich denken konnte, und gleich¬
wohl war er allenthalben zu merken und zu fühlen.

Der Gefangne, der bei meinem Eintritt aufgestanden war, sah mich
freundlich und zutraulich an. Was für gute, sanfte Augen, sagte ich damals
zu mir, es war der erste Eindruck, den ich von ihm empfing. Er war von
schlanker Gestalt und hatte ein zartgebildetcs blasses Gesicht, worin diese
Augen klar und intelligent leuchteten.

Ich fragte ihn nach seinem Namen und nach seiner Strafe. Ein schwerer
Schatten zog über sein Gesicht, als er mir antwortete. Auch er war ein
lebenslänglicher Gefangner, wegen Mordes bestraft, und befand sich schon viele
Jahre in dieser Zelle.

Dieser Mann mit der milden Stimme, den guten, freundlichen Augen,
dem seinen, stillen Wesen, ein Mörder — es war unfaßbar. Gern hätte ich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301569"/>
          <fw type="header" place="top"> Wie ich zu dem Roman &#x201E;Zwei Seelen" kam</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1065" prev="#ID_1064"> Wie dem seinen. Einst hatte er ein Weib, das ihn liebte, und liebliche Kinder,<lb/>
ein blühendes Geschäft und einen ehrlichen Namen &#x2014; das war nun alles<lb/>
dahin. Seine Gefangenschaft sollte viele Jahre dauern, und den Tag der<lb/>
Freiheit, man ahnte es schon damals, erlebte er nicht mehr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1066"> Nach ihm besuchte ich noch zwei jüngere Leute, lebenslängliche Gefangne<lb/>
und wegen Vatermords bestraft, beide tief niedergeschlagen und krank an Leib<lb/>
und Seele. Hierauf wollte ich das traurige Buch, in dem ich zu lesen an¬<lb/>
gefangen hatte, für diesen Abend schließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1067"> Auf den Gängen war es nun schon dunkel geworden, matt schimmerten<lb/>
einige Lampen über die grauen Manerwände hin, und lautlos, als lebte<lb/>
niemand um mich her, war es in dem ganzen finstern Hause. Im tiefsten<lb/>
Herzen traurig stand ich auf dem einsamen Korridor und fragte mich, wie ich<lb/>
es ertragen würde, solche Bilder Tag für Tag vor mir zu haben. Bei dem<lb/>
Gedanken aber, daß ich diese Bilder nicht nur zu betrachten hätte, sondern<lb/>
daß ich an allen diesen Menschen auch eine Aufgabe erfüllen sollte, befiel<lb/>
mich das Gefühl völliger Mutlosigkeit. Hatte ich vermutlich auch beim ersten<lb/>
Aufschlagen des Buches zufällig seine dunkelsten Blätter angesehen, so durfte<lb/>
ich doch nicht erwarten, daß das übrige viel Heller sein würde. Im Begriff<lb/>
zu gehn und das Haus zu verlassen, blieb ich noch vor einer Zelle stehn und<lb/>
sah durch das Türfensterchen in sie hinein. Was ich da erblickte, veranlaßte<lb/>
mich, auch diese Tür noch aufzuschließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1068"> Es war eine Zelle wie alle andern, grau getüncht, kahl und nüchtern,<lb/>
und dennoch sah sie anders aus als alle Zellen, die ich vorher betreten hatte.<lb/>
Über der Lampe, die sie erleuchtete, hing ein Lampenschirm, aus Leinen ver¬<lb/>
fertigt und mit etlichen bunten Läppchen verziert, durch die das Licht warm<lb/>
und gemildert hindurchglänzte. Alle Zellen waren ja in gleicher Weise auf¬<lb/>
geräumt, über dieser lag ein Hauch von Wohnlichkeit, ein friedlicher Abend¬<lb/>
schimmer. Ein Familienbild, einen alten, einfachen Mann darstellend, stand<lb/>
auf dem Arbeitstisch, ein paar grüne Zweige waren an der Wand befestigt.<lb/>
Es war der allerdürftigste Schmuck, den man sich denken konnte, und gleich¬<lb/>
wohl war er allenthalben zu merken und zu fühlen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1069"> Der Gefangne, der bei meinem Eintritt aufgestanden war, sah mich<lb/>
freundlich und zutraulich an. Was für gute, sanfte Augen, sagte ich damals<lb/>
zu mir, es war der erste Eindruck, den ich von ihm empfing. Er war von<lb/>
schlanker Gestalt und hatte ein zartgebildetcs blasses Gesicht, worin diese<lb/>
Augen klar und intelligent leuchteten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1070"> Ich fragte ihn nach seinem Namen und nach seiner Strafe. Ein schwerer<lb/>
Schatten zog über sein Gesicht, als er mir antwortete. Auch er war ein<lb/>
lebenslänglicher Gefangner, wegen Mordes bestraft, und befand sich schon viele<lb/>
Jahre in dieser Zelle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1071" next="#ID_1072"> Dieser Mann mit der milden Stimme, den guten, freundlichen Augen,<lb/>
dem seinen, stillen Wesen, ein Mörder &#x2014; es war unfaßbar.  Gern hätte ich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0315] Wie ich zu dem Roman „Zwei Seelen" kam Wie dem seinen. Einst hatte er ein Weib, das ihn liebte, und liebliche Kinder, ein blühendes Geschäft und einen ehrlichen Namen — das war nun alles dahin. Seine Gefangenschaft sollte viele Jahre dauern, und den Tag der Freiheit, man ahnte es schon damals, erlebte er nicht mehr. Nach ihm besuchte ich noch zwei jüngere Leute, lebenslängliche Gefangne und wegen Vatermords bestraft, beide tief niedergeschlagen und krank an Leib und Seele. Hierauf wollte ich das traurige Buch, in dem ich zu lesen an¬ gefangen hatte, für diesen Abend schließen. Auf den Gängen war es nun schon dunkel geworden, matt schimmerten einige Lampen über die grauen Manerwände hin, und lautlos, als lebte niemand um mich her, war es in dem ganzen finstern Hause. Im tiefsten Herzen traurig stand ich auf dem einsamen Korridor und fragte mich, wie ich es ertragen würde, solche Bilder Tag für Tag vor mir zu haben. Bei dem Gedanken aber, daß ich diese Bilder nicht nur zu betrachten hätte, sondern daß ich an allen diesen Menschen auch eine Aufgabe erfüllen sollte, befiel mich das Gefühl völliger Mutlosigkeit. Hatte ich vermutlich auch beim ersten Aufschlagen des Buches zufällig seine dunkelsten Blätter angesehen, so durfte ich doch nicht erwarten, daß das übrige viel Heller sein würde. Im Begriff zu gehn und das Haus zu verlassen, blieb ich noch vor einer Zelle stehn und sah durch das Türfensterchen in sie hinein. Was ich da erblickte, veranlaßte mich, auch diese Tür noch aufzuschließen. Es war eine Zelle wie alle andern, grau getüncht, kahl und nüchtern, und dennoch sah sie anders aus als alle Zellen, die ich vorher betreten hatte. Über der Lampe, die sie erleuchtete, hing ein Lampenschirm, aus Leinen ver¬ fertigt und mit etlichen bunten Läppchen verziert, durch die das Licht warm und gemildert hindurchglänzte. Alle Zellen waren ja in gleicher Weise auf¬ geräumt, über dieser lag ein Hauch von Wohnlichkeit, ein friedlicher Abend¬ schimmer. Ein Familienbild, einen alten, einfachen Mann darstellend, stand auf dem Arbeitstisch, ein paar grüne Zweige waren an der Wand befestigt. Es war der allerdürftigste Schmuck, den man sich denken konnte, und gleich¬ wohl war er allenthalben zu merken und zu fühlen. Der Gefangne, der bei meinem Eintritt aufgestanden war, sah mich freundlich und zutraulich an. Was für gute, sanfte Augen, sagte ich damals zu mir, es war der erste Eindruck, den ich von ihm empfing. Er war von schlanker Gestalt und hatte ein zartgebildetcs blasses Gesicht, worin diese Augen klar und intelligent leuchteten. Ich fragte ihn nach seinem Namen und nach seiner Strafe. Ein schwerer Schatten zog über sein Gesicht, als er mir antwortete. Auch er war ein lebenslänglicher Gefangner, wegen Mordes bestraft, und befand sich schon viele Jahre in dieser Zelle. Dieser Mann mit der milden Stimme, den guten, freundlichen Augen, dem seinen, stillen Wesen, ein Mörder — es war unfaßbar. Gern hätte ich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/315
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/315>, abgerufen am 24.07.2024.