Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ivie ich zu dem Romain "Zwei Seelen" kam

ständen die Idee einer Dichtung entstanden ist. Hundertmal haben wir wohl
ein Licht von weither leuchten sehen, ehe wir darauf achteten. Inzwischen aber
hatte unsre Seele, ohne daß wir es gewahr wurden, schon lange das Bild
des ferne scheinenden Lichts in sich aufgenommen, und sie war es dann
vielleicht, die uns endlich zwang, das; wir uns mit ihm beschäftigten. So ist
es mir auch mit den "Zwei Seelen" ergangen. Paul Heyse war der erste,
der den Ursprüngen dieses Buches nachforschte, und nach ihm haben dann
auch andre in Teilnahme an den geschilderten Schicksalen und Stimmungen
die Frage an mich gerichtet, wie ich dazu gekommen wäre, das Buch zu
schreiben. Was ich ihnen gesagt habe, kann ich, da es so gewünscht wird,
auch hier erzählen, in der stillen Hoffnung, damit auch zu einigen zu reden,
die den Roman gelesen haben, und ihnen auf eine unausgesprochne Frage zu
antworten.

Es sind nun fast zwanzig Jahre her, als ich an eine große, in einem
Weltverlornen Städtchen gelegne Strafanstalt berufen wurde. Es war der
schönste, lachendste Frühlingstag, als wir der neuen Heimat zuführen. Rings¬
umher grünten und blühten die Wiesen, in verborgnen Wasserläufen glitt hier
und da ein Weißes Segel durch den stillen Sonnenschein, weit in der Ferne
blanken Hügelreihen, mit dunkelm Wald bestanden, und unter dem blauen
Frühlingshimmel klang Heller Vogelsang. Mit fröhlichen Augen schauten wir
in den heitern Tag und in den Glanz und Schimmer, mit dem uns der
Frühling grüßte, und wurden erst ernst, als unweit der Landstraße zwischen
den bronzenen Säulen einiger hochwipfligen Kiefern ein einsamer, schmucklos
gehaltner Friedhof auftauchte, der Friedhof der Gefangnen. Bald darauf er¬
hoben sich über der Stadt auch die weißen Mauern der Strafanstalt, und
wir fuhren durch ein schweres Tor wie in eine Festung hinein, mit beklommnen
Empfindungen und bedrückt von dem vielfachen Unglück, das sich hinter den
vergitterten Fenstern verbarg. Doch als wir dann durch das Torgebäude
hindurch gekommen waren, grüßte uns da wieder ein freundliches Haus und
ein Garten mit blühenden Bäumen: der Frühling hatte seinen Weg auch über
die Mauern und Zinnen gefunden und lachte uns dort so fröhlich entgegen
wie draußen vor den Toren.

Einige Tage später ging ich zum erstenmal durch die Anstalt. In weit¬
läufigen Sälen arbeiteten die Gefangnen zu fünfzig und mehr nebeneinander
und warfen mir, als ich an ihnen vorüberging, neugierige Blicke zu. Viele
von ihnen waren, wie ich wußte, in lebenslänglicher Haft, die meisten hatten
ihre Freiheit auf lange Zeit verloren. Ich sah finstre Gesichter. Augen, die
vertrotzt um sich schauten, ich sah Gleichgiltigkeit und Roheit, sah aber auch
manches Gesicht, auf dem sich das Unglück und das Leiden schon für den ersten
Blick deutlich und schmerzlich widerspiegelten. Bei diesem ersten Gang ging
ich jedoch an allen vorüber, ohne einen von ihnen anzusprechen, ich wußte
noch nicht, wie ich meine Tätigkeit unter ihnen beginnen könne, und ahnte


Grenzboten l 1907 40
Ivie ich zu dem Romain „Zwei Seelen" kam

ständen die Idee einer Dichtung entstanden ist. Hundertmal haben wir wohl
ein Licht von weither leuchten sehen, ehe wir darauf achteten. Inzwischen aber
hatte unsre Seele, ohne daß wir es gewahr wurden, schon lange das Bild
des ferne scheinenden Lichts in sich aufgenommen, und sie war es dann
vielleicht, die uns endlich zwang, das; wir uns mit ihm beschäftigten. So ist
es mir auch mit den „Zwei Seelen" ergangen. Paul Heyse war der erste,
der den Ursprüngen dieses Buches nachforschte, und nach ihm haben dann
auch andre in Teilnahme an den geschilderten Schicksalen und Stimmungen
die Frage an mich gerichtet, wie ich dazu gekommen wäre, das Buch zu
schreiben. Was ich ihnen gesagt habe, kann ich, da es so gewünscht wird,
auch hier erzählen, in der stillen Hoffnung, damit auch zu einigen zu reden,
die den Roman gelesen haben, und ihnen auf eine unausgesprochne Frage zu
antworten.

Es sind nun fast zwanzig Jahre her, als ich an eine große, in einem
Weltverlornen Städtchen gelegne Strafanstalt berufen wurde. Es war der
schönste, lachendste Frühlingstag, als wir der neuen Heimat zuführen. Rings¬
umher grünten und blühten die Wiesen, in verborgnen Wasserläufen glitt hier
und da ein Weißes Segel durch den stillen Sonnenschein, weit in der Ferne
blanken Hügelreihen, mit dunkelm Wald bestanden, und unter dem blauen
Frühlingshimmel klang Heller Vogelsang. Mit fröhlichen Augen schauten wir
in den heitern Tag und in den Glanz und Schimmer, mit dem uns der
Frühling grüßte, und wurden erst ernst, als unweit der Landstraße zwischen
den bronzenen Säulen einiger hochwipfligen Kiefern ein einsamer, schmucklos
gehaltner Friedhof auftauchte, der Friedhof der Gefangnen. Bald darauf er¬
hoben sich über der Stadt auch die weißen Mauern der Strafanstalt, und
wir fuhren durch ein schweres Tor wie in eine Festung hinein, mit beklommnen
Empfindungen und bedrückt von dem vielfachen Unglück, das sich hinter den
vergitterten Fenstern verbarg. Doch als wir dann durch das Torgebäude
hindurch gekommen waren, grüßte uns da wieder ein freundliches Haus und
ein Garten mit blühenden Bäumen: der Frühling hatte seinen Weg auch über
die Mauern und Zinnen gefunden und lachte uns dort so fröhlich entgegen
wie draußen vor den Toren.

Einige Tage später ging ich zum erstenmal durch die Anstalt. In weit¬
läufigen Sälen arbeiteten die Gefangnen zu fünfzig und mehr nebeneinander
und warfen mir, als ich an ihnen vorüberging, neugierige Blicke zu. Viele
von ihnen waren, wie ich wußte, in lebenslänglicher Haft, die meisten hatten
ihre Freiheit auf lange Zeit verloren. Ich sah finstre Gesichter. Augen, die
vertrotzt um sich schauten, ich sah Gleichgiltigkeit und Roheit, sah aber auch
manches Gesicht, auf dem sich das Unglück und das Leiden schon für den ersten
Blick deutlich und schmerzlich widerspiegelten. Bei diesem ersten Gang ging
ich jedoch an allen vorüber, ohne einen von ihnen anzusprechen, ich wußte
noch nicht, wie ich meine Tätigkeit unter ihnen beginnen könne, und ahnte


Grenzboten l 1907 40
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0313" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301567"/>
          <fw type="header" place="top"> Ivie ich zu dem Romain &#x201E;Zwei Seelen" kam</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1057" prev="#ID_1056"> ständen die Idee einer Dichtung entstanden ist. Hundertmal haben wir wohl<lb/>
ein Licht von weither leuchten sehen, ehe wir darauf achteten. Inzwischen aber<lb/>
hatte unsre Seele, ohne daß wir es gewahr wurden, schon lange das Bild<lb/>
des ferne scheinenden Lichts in sich aufgenommen, und sie war es dann<lb/>
vielleicht, die uns endlich zwang, das; wir uns mit ihm beschäftigten. So ist<lb/>
es mir auch mit den &#x201E;Zwei Seelen" ergangen. Paul Heyse war der erste,<lb/>
der den Ursprüngen dieses Buches nachforschte, und nach ihm haben dann<lb/>
auch andre in Teilnahme an den geschilderten Schicksalen und Stimmungen<lb/>
die Frage an mich gerichtet, wie ich dazu gekommen wäre, das Buch zu<lb/>
schreiben. Was ich ihnen gesagt habe, kann ich, da es so gewünscht wird,<lb/>
auch hier erzählen, in der stillen Hoffnung, damit auch zu einigen zu reden,<lb/>
die den Roman gelesen haben, und ihnen auf eine unausgesprochne Frage zu<lb/>
antworten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1058"> Es sind nun fast zwanzig Jahre her, als ich an eine große, in einem<lb/>
Weltverlornen Städtchen gelegne Strafanstalt berufen wurde. Es war der<lb/>
schönste, lachendste Frühlingstag, als wir der neuen Heimat zuführen. Rings¬<lb/>
umher grünten und blühten die Wiesen, in verborgnen Wasserläufen glitt hier<lb/>
und da ein Weißes Segel durch den stillen Sonnenschein, weit in der Ferne<lb/>
blanken Hügelreihen, mit dunkelm Wald bestanden, und unter dem blauen<lb/>
Frühlingshimmel klang Heller Vogelsang. Mit fröhlichen Augen schauten wir<lb/>
in den heitern Tag und in den Glanz und Schimmer, mit dem uns der<lb/>
Frühling grüßte, und wurden erst ernst, als unweit der Landstraße zwischen<lb/>
den bronzenen Säulen einiger hochwipfligen Kiefern ein einsamer, schmucklos<lb/>
gehaltner Friedhof auftauchte, der Friedhof der Gefangnen. Bald darauf er¬<lb/>
hoben sich über der Stadt auch die weißen Mauern der Strafanstalt, und<lb/>
wir fuhren durch ein schweres Tor wie in eine Festung hinein, mit beklommnen<lb/>
Empfindungen und bedrückt von dem vielfachen Unglück, das sich hinter den<lb/>
vergitterten Fenstern verbarg. Doch als wir dann durch das Torgebäude<lb/>
hindurch gekommen waren, grüßte uns da wieder ein freundliches Haus und<lb/>
ein Garten mit blühenden Bäumen: der Frühling hatte seinen Weg auch über<lb/>
die Mauern und Zinnen gefunden und lachte uns dort so fröhlich entgegen<lb/>
wie draußen vor den Toren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1059" next="#ID_1060"> Einige Tage später ging ich zum erstenmal durch die Anstalt. In weit¬<lb/>
läufigen Sälen arbeiteten die Gefangnen zu fünfzig und mehr nebeneinander<lb/>
und warfen mir, als ich an ihnen vorüberging, neugierige Blicke zu. Viele<lb/>
von ihnen waren, wie ich wußte, in lebenslänglicher Haft, die meisten hatten<lb/>
ihre Freiheit auf lange Zeit verloren. Ich sah finstre Gesichter. Augen, die<lb/>
vertrotzt um sich schauten, ich sah Gleichgiltigkeit und Roheit, sah aber auch<lb/>
manches Gesicht, auf dem sich das Unglück und das Leiden schon für den ersten<lb/>
Blick deutlich und schmerzlich widerspiegelten. Bei diesem ersten Gang ging<lb/>
ich jedoch an allen vorüber, ohne einen von ihnen anzusprechen, ich wußte<lb/>
noch nicht, wie ich meine Tätigkeit unter ihnen beginnen könne, und ahnte</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten l 1907 40</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0313] Ivie ich zu dem Romain „Zwei Seelen" kam ständen die Idee einer Dichtung entstanden ist. Hundertmal haben wir wohl ein Licht von weither leuchten sehen, ehe wir darauf achteten. Inzwischen aber hatte unsre Seele, ohne daß wir es gewahr wurden, schon lange das Bild des ferne scheinenden Lichts in sich aufgenommen, und sie war es dann vielleicht, die uns endlich zwang, das; wir uns mit ihm beschäftigten. So ist es mir auch mit den „Zwei Seelen" ergangen. Paul Heyse war der erste, der den Ursprüngen dieses Buches nachforschte, und nach ihm haben dann auch andre in Teilnahme an den geschilderten Schicksalen und Stimmungen die Frage an mich gerichtet, wie ich dazu gekommen wäre, das Buch zu schreiben. Was ich ihnen gesagt habe, kann ich, da es so gewünscht wird, auch hier erzählen, in der stillen Hoffnung, damit auch zu einigen zu reden, die den Roman gelesen haben, und ihnen auf eine unausgesprochne Frage zu antworten. Es sind nun fast zwanzig Jahre her, als ich an eine große, in einem Weltverlornen Städtchen gelegne Strafanstalt berufen wurde. Es war der schönste, lachendste Frühlingstag, als wir der neuen Heimat zuführen. Rings¬ umher grünten und blühten die Wiesen, in verborgnen Wasserläufen glitt hier und da ein Weißes Segel durch den stillen Sonnenschein, weit in der Ferne blanken Hügelreihen, mit dunkelm Wald bestanden, und unter dem blauen Frühlingshimmel klang Heller Vogelsang. Mit fröhlichen Augen schauten wir in den heitern Tag und in den Glanz und Schimmer, mit dem uns der Frühling grüßte, und wurden erst ernst, als unweit der Landstraße zwischen den bronzenen Säulen einiger hochwipfligen Kiefern ein einsamer, schmucklos gehaltner Friedhof auftauchte, der Friedhof der Gefangnen. Bald darauf er¬ hoben sich über der Stadt auch die weißen Mauern der Strafanstalt, und wir fuhren durch ein schweres Tor wie in eine Festung hinein, mit beklommnen Empfindungen und bedrückt von dem vielfachen Unglück, das sich hinter den vergitterten Fenstern verbarg. Doch als wir dann durch das Torgebäude hindurch gekommen waren, grüßte uns da wieder ein freundliches Haus und ein Garten mit blühenden Bäumen: der Frühling hatte seinen Weg auch über die Mauern und Zinnen gefunden und lachte uns dort so fröhlich entgegen wie draußen vor den Toren. Einige Tage später ging ich zum erstenmal durch die Anstalt. In weit¬ läufigen Sälen arbeiteten die Gefangnen zu fünfzig und mehr nebeneinander und warfen mir, als ich an ihnen vorüberging, neugierige Blicke zu. Viele von ihnen waren, wie ich wußte, in lebenslänglicher Haft, die meisten hatten ihre Freiheit auf lange Zeit verloren. Ich sah finstre Gesichter. Augen, die vertrotzt um sich schauten, ich sah Gleichgiltigkeit und Roheit, sah aber auch manches Gesicht, auf dem sich das Unglück und das Leiden schon für den ersten Blick deutlich und schmerzlich widerspiegelten. Bei diesem ersten Gang ging ich jedoch an allen vorüber, ohne einen von ihnen anzusprechen, ich wußte noch nicht, wie ich meine Tätigkeit unter ihnen beginnen könne, und ahnte Grenzboten l 1907 40

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/313
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/313>, abgerufen am 24.07.2024.