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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Äußeres gar anmutig auffällt. Und siehe da, seine Inschrift lautet: "Goethe-
Haus", auf einer Tafel darüber steht es zu lesen: "Hier wohnte Goethe in
dem Jahre 1823."

"Nennt man "Marienbad 1823", heißt es in Bernhard Snphans geist¬
voller Abhandlung "Goethe und der Graf Se, Leu" (Goethe-Jahrbuch 15,112),
so denken wir zuerst, ja wohl ausschließlich, an Ulrike von Levetzow, "die lieb¬
lichste der lieblichsten Gestalten"; sie füllt in unsrer Erinnerung diese Wochen
aus, deren Lebensinhalt in der großen poetischen Konfession der "Trilogie der
Leidenschaft", und zumal in der "Marienbadcr" Elegie geheimnisvoll offenbar
dargelegt ist," Wir sind über diese bedeutende Periode in Goethes Leben vor¬
trefflich unterrichtet, erstens durch Goethes eignes Tagebuch und die von ihm
in jenen Wochen geschriebnen Briefe, wie diese der am Eingang genannte
37. Band der Weimarer Ausgabe sie jetzt bequem vereinigt vorlegt, zum andern
durch die von Otto Hcirnack veröffentlichte, ausführliche und höchst lebendige
Schilderung eines Augenzeugen, der anmutigen Berlinerin Lili Parthey (Goethe-
Jahrbuch 22, 113), endlich durch die Darstellungen Gustav von Loepers ("Zu
Goethes Gedichten Trilogie der Leidenschaft", Goethe-Jahrbuch 8, 165) und
Suvhans, der sie, außer in dem oben genannten Aufsatz über Goethes Verkehr
mit dem ehemaligen König Ludwig von Holland, noch zweimal behandelt hat:
bei Veröffentlichung der Briefe Goethes an die Levetzvws (Goethe-Jahrbuch
21, 7), sodann in einer dein herrlichen Faksimile der "Marienbader Elegie" bei-
gegebncn Abhandlung im 15, Bande der Schriften der Goethe-Gesellschaft,
Außerstande, über das Thema "Goethe und Ulrike von Levetzow" etwas Neues
zu bringen, bescheiden wir uns damit, hier auf die genannten reichen Quellen
der Belehrung hinzuweisen, und fahren in der Schilderung unsrer Reiseein-
drücke fort.

Das Goethehaus führte 1823 den Namen "Zur goldnen Traube"; es
fehlten ihm damals noch die beiden Balkone, und im Erdgeschoß, dem Ein¬
tretenden zur Rechten, war ein Kaufladen für "Gemischtwaren". Im übrigen
aber ist das Haus außen und innen, dank der pietätvollen Gesinnung seiner
Besitzer, vor jeder einschneidenden Veränderung behütet worden. Goethes
jugendliche Wirtin war eine Frau Döltsch, die 1860 gestorben ist; sie nahm an
Kindes Statt einen jungen Mann namens Schildbach an, und dessen Sohn ist
der heutige Besitzer des Hauses. Während der Unterhaltung mit diesem wackern
Mann und seiner liebenswürdigen Familie konnte ich gar bald bemerken, welcher
gute Geist hier waltet, und daß der Anteil, den man hier an der Bedeutung
des Hauses nimmt, keineswegs, wie man so häufig findet, nur äußerlich und
scheinbar ist, sondern daß er wahrhaft lebendig von Herzen kommt.

Goethe bewohnte mit seiner Begleitung, dem Sekretär John und dem
Diener Stadelmcmn, im ersten Stock die Zimmer 8, 9, 10 und 15 (jetzt Ur. 18
bis 21); das über der Haustür liegende mittlere war sein Schlafzimmer, in
dem ihm, wie sein Tagebuch getreulich vermerkt, am 19. August, dem Tage vor


Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Äußeres gar anmutig auffällt. Und siehe da, seine Inschrift lautet: „Goethe-
Haus", auf einer Tafel darüber steht es zu lesen: „Hier wohnte Goethe in
dem Jahre 1823."

„Nennt man »Marienbad 1823«, heißt es in Bernhard Snphans geist¬
voller Abhandlung »Goethe und der Graf Se, Leu« (Goethe-Jahrbuch 15,112),
so denken wir zuerst, ja wohl ausschließlich, an Ulrike von Levetzow, »die lieb¬
lichste der lieblichsten Gestalten«; sie füllt in unsrer Erinnerung diese Wochen
aus, deren Lebensinhalt in der großen poetischen Konfession der »Trilogie der
Leidenschaft«, und zumal in der »Marienbadcr« Elegie geheimnisvoll offenbar
dargelegt ist," Wir sind über diese bedeutende Periode in Goethes Leben vor¬
trefflich unterrichtet, erstens durch Goethes eignes Tagebuch und die von ihm
in jenen Wochen geschriebnen Briefe, wie diese der am Eingang genannte
37. Band der Weimarer Ausgabe sie jetzt bequem vereinigt vorlegt, zum andern
durch die von Otto Hcirnack veröffentlichte, ausführliche und höchst lebendige
Schilderung eines Augenzeugen, der anmutigen Berlinerin Lili Parthey (Goethe-
Jahrbuch 22, 113), endlich durch die Darstellungen Gustav von Loepers („Zu
Goethes Gedichten Trilogie der Leidenschaft", Goethe-Jahrbuch 8, 165) und
Suvhans, der sie, außer in dem oben genannten Aufsatz über Goethes Verkehr
mit dem ehemaligen König Ludwig von Holland, noch zweimal behandelt hat:
bei Veröffentlichung der Briefe Goethes an die Levetzvws (Goethe-Jahrbuch
21, 7), sodann in einer dein herrlichen Faksimile der „Marienbader Elegie" bei-
gegebncn Abhandlung im 15, Bande der Schriften der Goethe-Gesellschaft,
Außerstande, über das Thema „Goethe und Ulrike von Levetzow" etwas Neues
zu bringen, bescheiden wir uns damit, hier auf die genannten reichen Quellen
der Belehrung hinzuweisen, und fahren in der Schilderung unsrer Reiseein-
drücke fort.

Das Goethehaus führte 1823 den Namen „Zur goldnen Traube"; es
fehlten ihm damals noch die beiden Balkone, und im Erdgeschoß, dem Ein¬
tretenden zur Rechten, war ein Kaufladen für „Gemischtwaren". Im übrigen
aber ist das Haus außen und innen, dank der pietätvollen Gesinnung seiner
Besitzer, vor jeder einschneidenden Veränderung behütet worden. Goethes
jugendliche Wirtin war eine Frau Döltsch, die 1860 gestorben ist; sie nahm an
Kindes Statt einen jungen Mann namens Schildbach an, und dessen Sohn ist
der heutige Besitzer des Hauses. Während der Unterhaltung mit diesem wackern
Mann und seiner liebenswürdigen Familie konnte ich gar bald bemerken, welcher
gute Geist hier waltet, und daß der Anteil, den man hier an der Bedeutung
des Hauses nimmt, keineswegs, wie man so häufig findet, nur äußerlich und
scheinbar ist, sondern daß er wahrhaft lebendig von Herzen kommt.

Goethe bewohnte mit seiner Begleitung, dem Sekretär John und dem
Diener Stadelmcmn, im ersten Stock die Zimmer 8, 9, 10 und 15 (jetzt Ur. 18
bis 21); das über der Haustür liegende mittlere war sein Schlafzimmer, in
dem ihm, wie sein Tagebuch getreulich vermerkt, am 19. August, dem Tage vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/30>, abgerufen am 24.07.2024.