Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches die bösen Männer und deren angebliche "doppelte" Moral kam sie zu dem trost¬ Eine zweite Rednerin, Fräulein Adele Schreiber, zu deren Garderobe der Maßgebliches und Unmaßgebliches die bösen Männer und deren angebliche „doppelte" Moral kam sie zu dem trost¬ Eine zweite Rednerin, Fräulein Adele Schreiber, zu deren Garderobe der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0288" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301542"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_973" prev="#ID_972"> die bösen Männer und deren angebliche „doppelte" Moral kam sie zu dem trost¬<lb/> losen Schluß, das; die jetzt geltende, staatlich abgestempelte Eheform nichts wert sei,<lb/> und daß deshalb auch „freie Verhältnisse", geknüpft durch freie Entschließung der<lb/> beiden Teile ohne Mitwirkung von Standesamt und Altar, rechtliche und gesell¬<lb/> schaftliche Geltung haben müßten. Als ob die doppelte Moral ein Privilegium der<lb/> Männer wäre! Als ob sie allein die Schuld an all den Eheirrungen trügen, die<lb/> seit den Tagen der schönen Helena bis heute vorgekommen sind! Und was die<lb/> öffentliche und gesellschaftliche Anerkennung „freier Verhältnisse" anlangt, so weiß<lb/> Fräulein Stöcker Wohl nicht, daß es gerade die Frauen siud, die ihre Geschlechts-<lb/> genossinnen, deren Beziehungen zur Männerwelt ihnen nicht völlig legitim er¬<lb/> scheinen — und darin haben sie eine wunderbar feine Empfindung! —, erbarmungslos<lb/> boykottieren.</p><lb/> <p xml:id="ID_974"> Eine zweite Rednerin, Fräulein Adele Schreiber, zu deren Garderobe der<lb/> Doktorhut merkwürdigerweise nicht zu gehören scheint, schoß aber den Vogel ab,<lb/> indem sie sich klipp und klar für die freie Liebe erklärte, die überhaupt keine engern<lb/> Bande und Pflichten kennt, und deren Technik die Dame offenbar den Hunden<lb/> abgelauscht hat. Über die praktischen Konsequenzen ihrer Forderung scheint sich<lb/> Fräulein Adele nicht klar geworden zu sein. Vielleicht hat sie sich am (iolloxinm<lb/> loZieuin vorbei gedrückt und ihren Durst nach philosophischer Erkenntnis gleich um<lb/> trüben Wässerlein der Weisheit des armen Friedrich Nietzsche gelöscht, dessen wider¬<lb/> spruchsvolle Sentenzen und Paradoxen ja schon manchem in den Nöten der Pubertät<lb/> oder des verspätet eingetretnen Geschlechtstriebes den Kopf verdreht haben. Oder<lb/> sollte die ganze Veranstaltung „für Mutterschuh" nur als ein Ulk der Faschings¬<lb/><note type="byline"> I. R, 5.</note> zeit aufzufassen sein? </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0288]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
die bösen Männer und deren angebliche „doppelte" Moral kam sie zu dem trost¬
losen Schluß, das; die jetzt geltende, staatlich abgestempelte Eheform nichts wert sei,
und daß deshalb auch „freie Verhältnisse", geknüpft durch freie Entschließung der
beiden Teile ohne Mitwirkung von Standesamt und Altar, rechtliche und gesell¬
schaftliche Geltung haben müßten. Als ob die doppelte Moral ein Privilegium der
Männer wäre! Als ob sie allein die Schuld an all den Eheirrungen trügen, die
seit den Tagen der schönen Helena bis heute vorgekommen sind! Und was die
öffentliche und gesellschaftliche Anerkennung „freier Verhältnisse" anlangt, so weiß
Fräulein Stöcker Wohl nicht, daß es gerade die Frauen siud, die ihre Geschlechts-
genossinnen, deren Beziehungen zur Männerwelt ihnen nicht völlig legitim er¬
scheinen — und darin haben sie eine wunderbar feine Empfindung! —, erbarmungslos
boykottieren.
Eine zweite Rednerin, Fräulein Adele Schreiber, zu deren Garderobe der
Doktorhut merkwürdigerweise nicht zu gehören scheint, schoß aber den Vogel ab,
indem sie sich klipp und klar für die freie Liebe erklärte, die überhaupt keine engern
Bande und Pflichten kennt, und deren Technik die Dame offenbar den Hunden
abgelauscht hat. Über die praktischen Konsequenzen ihrer Forderung scheint sich
Fräulein Adele nicht klar geworden zu sein. Vielleicht hat sie sich am (iolloxinm
loZieuin vorbei gedrückt und ihren Durst nach philosophischer Erkenntnis gleich um
trüben Wässerlein der Weisheit des armen Friedrich Nietzsche gelöscht, dessen wider¬
spruchsvolle Sentenzen und Paradoxen ja schon manchem in den Nöten der Pubertät
oder des verspätet eingetretnen Geschlechtstriebes den Kopf verdreht haben. Oder
sollte die ganze Veranstaltung „für Mutterschuh" nur als ein Ulk der Faschings¬
I. R, 5. zeit aufzufassen sein?
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