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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die Schöpfung der Sprache

die Wurzelform also, die wir als Appellativbezeichnung in lateinisch ann-is
(Fluß), lateinisch eng-n-ars (fließen), lateinisch eng.r-s (Meer), griechisch
(fließend) u. a. vorfanden: so der Main (lateinisch Raon-us), die Mohn-e, die
Mem-el (russisch Njem-en). die Mur, Mar-os, Musk, Rhein (ahd.
Hliir", Ruhr, ^sg.r (Nebenfluß des Tiber), ner (in Polen), Werra, Werre
(bei Oeynhausen), Weil im Taunus, daran Weilburg, Weilnau, Weilmünfter,
die Leine, Laur-a, Orl-a usw., doch ich muß mich bescheiden. Nur das
möchte ich noch hervorheben, daß oft, so besonders auf romanischem Sprach¬
gebiete, die sekundäre Weiterentwicklung die ursprüngliche Wurzel ganz ver¬
wischt hat. Zum Beispiel ist der Name des größten Stromes Frankreichs,
der Iioire, das Ergebnis einer Entwicklung aus dem römischen I^iA-ör, die
sich in derselben lautgesetzlichen Weise vollzogen hat wie die Entwicklung von
lateinisch niZ-ör (schwarz) zu noir. Die Loire ist also einer Wurzelform Zsr (fließen)
zuzuweisen, die uns appellativ in lateinisch riK-a-rs (bewässern) und in gotisch
riZ-ir (Regen) entgegentritt, individualisiert in den Flußnamcn (?ar-vrus
(lateinisch Oür-umvÄ), 6g,1-Ä80 (in Unteritalien), Reg-en, Leck) und Leck.
Der römische ^i^-ör dagegen, als Flußname des germanischen und speziell
oberdeutschen Sprachgebiets, entwickelte sich nach deutschen Lautgesetzen ganz
regelrecht zu Reck-ar, die alten I,iAsr und ni^ör sind also im Kern das
gleiche Wort. In dieser Weise finden die Namen sämtlicher Flüsse des indo¬
germanischen Besiedlungsgebiets ihre natürliche, einfache Erklärung. Überall
treten uns dabei unsre Gesetze in solcher Selbstverständlichkeit entgegen, daß
wir die Formen mit mathematischer Sicherheit bestimmen können, und so sind
gerade die Flußnamen besonders geeignet, das Wesen des Sprachschöpfungs-
aktes zu charakterisieren.

In der Schöpfung der Sprache wie auch in ihrer weitern Entwicklung
sehen wir also die Prinzipien der Freiheit und der Notwendigkeit wirksam. Fest
ist das Allgemeine, das heißt das Band zwischen Form und Inhalt der Wurzel
als Genus, frei dagegen ist das Besondre, Individuelle, das heißt der Verband
zwischen der einzelnen Wurzelform und dem bestimmten Begriff im individuellen
Sinne; jener allgemeine Verband ist von Natur und darum innerlich not¬
wendig, dieser besondre ist geschichtlicher Art, bis zu einem gewissen Grade dem
Willen des Menschen unterworfen und darum frei. Die eine Wurzel mit ihrem
festen generellen Begriff entwickelt auf dem Wege der Differenzierung aus sich
in fortwährender Umgestaltung stufenweise eine unerschöpfliche Menge von
Formen, von denen jede einzelne sich mit einem individuellen Vorstellungsinhalt
zu füllen sucht, der unter die Allgemeinvorstellung füllt. Von den der Sprache
zur Verfügung stehenden Mitteln, das heißt den wenigen Lauten, wird dabei
ein unendlicher Gebrauch gemacht, und damit die unendliche Freiheit der
Sprache, die doch in einem festen Punkte gebunden ist, möglich. So gehört
die Sprache nach der physischen Seite ganz in den Bereich der Naturwissen-
schaft, die Prinzipien ihres Werdens finden wir in ähnlicher Weise zum Beispiel


Die Schöpfung der Sprache

die Wurzelform also, die wir als Appellativbezeichnung in lateinisch ann-is
(Fluß), lateinisch eng-n-ars (fließen), lateinisch eng.r-s (Meer), griechisch
(fließend) u. a. vorfanden: so der Main (lateinisch Raon-us), die Mohn-e, die
Mem-el (russisch Njem-en). die Mur, Mar-os, Musk, Rhein (ahd.
Hliir», Ruhr, ^sg.r (Nebenfluß des Tiber), ner (in Polen), Werra, Werre
(bei Oeynhausen), Weil im Taunus, daran Weilburg, Weilnau, Weilmünfter,
die Leine, Laur-a, Orl-a usw., doch ich muß mich bescheiden. Nur das
möchte ich noch hervorheben, daß oft, so besonders auf romanischem Sprach¬
gebiete, die sekundäre Weiterentwicklung die ursprüngliche Wurzel ganz ver¬
wischt hat. Zum Beispiel ist der Name des größten Stromes Frankreichs,
der Iioire, das Ergebnis einer Entwicklung aus dem römischen I^iA-ör, die
sich in derselben lautgesetzlichen Weise vollzogen hat wie die Entwicklung von
lateinisch niZ-ör (schwarz) zu noir. Die Loire ist also einer Wurzelform Zsr (fließen)
zuzuweisen, die uns appellativ in lateinisch riK-a-rs (bewässern) und in gotisch
riZ-ir (Regen) entgegentritt, individualisiert in den Flußnamcn (?ar-vrus
(lateinisch Oür-umvÄ), 6g,1-Ä80 (in Unteritalien), Reg-en, Leck) und Leck.
Der römische ^i^-ör dagegen, als Flußname des germanischen und speziell
oberdeutschen Sprachgebiets, entwickelte sich nach deutschen Lautgesetzen ganz
regelrecht zu Reck-ar, die alten I,iAsr und ni^ör sind also im Kern das
gleiche Wort. In dieser Weise finden die Namen sämtlicher Flüsse des indo¬
germanischen Besiedlungsgebiets ihre natürliche, einfache Erklärung. Überall
treten uns dabei unsre Gesetze in solcher Selbstverständlichkeit entgegen, daß
wir die Formen mit mathematischer Sicherheit bestimmen können, und so sind
gerade die Flußnamen besonders geeignet, das Wesen des Sprachschöpfungs-
aktes zu charakterisieren.

In der Schöpfung der Sprache wie auch in ihrer weitern Entwicklung
sehen wir also die Prinzipien der Freiheit und der Notwendigkeit wirksam. Fest
ist das Allgemeine, das heißt das Band zwischen Form und Inhalt der Wurzel
als Genus, frei dagegen ist das Besondre, Individuelle, das heißt der Verband
zwischen der einzelnen Wurzelform und dem bestimmten Begriff im individuellen
Sinne; jener allgemeine Verband ist von Natur und darum innerlich not¬
wendig, dieser besondre ist geschichtlicher Art, bis zu einem gewissen Grade dem
Willen des Menschen unterworfen und darum frei. Die eine Wurzel mit ihrem
festen generellen Begriff entwickelt auf dem Wege der Differenzierung aus sich
in fortwährender Umgestaltung stufenweise eine unerschöpfliche Menge von
Formen, von denen jede einzelne sich mit einem individuellen Vorstellungsinhalt
zu füllen sucht, der unter die Allgemeinvorstellung füllt. Von den der Sprache
zur Verfügung stehenden Mitteln, das heißt den wenigen Lauten, wird dabei
ein unendlicher Gebrauch gemacht, und damit die unendliche Freiheit der
Sprache, die doch in einem festen Punkte gebunden ist, möglich. So gehört
die Sprache nach der physischen Seite ganz in den Bereich der Naturwissen-
schaft, die Prinzipien ihres Werdens finden wir in ähnlicher Weise zum Beispiel


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[0264] Die Schöpfung der Sprache die Wurzelform also, die wir als Appellativbezeichnung in lateinisch ann-is (Fluß), lateinisch eng-n-ars (fließen), lateinisch eng.r-s (Meer), griechisch (fließend) u. a. vorfanden: so der Main (lateinisch Raon-us), die Mohn-e, die Mem-el (russisch Njem-en). die Mur, Mar-os, Musk, Rhein (ahd. Hliir», Ruhr, ^sg.r (Nebenfluß des Tiber), ner (in Polen), Werra, Werre (bei Oeynhausen), Weil im Taunus, daran Weilburg, Weilnau, Weilmünfter, die Leine, Laur-a, Orl-a usw., doch ich muß mich bescheiden. Nur das möchte ich noch hervorheben, daß oft, so besonders auf romanischem Sprach¬ gebiete, die sekundäre Weiterentwicklung die ursprüngliche Wurzel ganz ver¬ wischt hat. Zum Beispiel ist der Name des größten Stromes Frankreichs, der Iioire, das Ergebnis einer Entwicklung aus dem römischen I^iA-ör, die sich in derselben lautgesetzlichen Weise vollzogen hat wie die Entwicklung von lateinisch niZ-ör (schwarz) zu noir. Die Loire ist also einer Wurzelform Zsr (fließen) zuzuweisen, die uns appellativ in lateinisch riK-a-rs (bewässern) und in gotisch riZ-ir (Regen) entgegentritt, individualisiert in den Flußnamcn (?ar-vrus (lateinisch Oür-umvÄ), 6g,1-Ä80 (in Unteritalien), Reg-en, Leck) und Leck. Der römische ^i^-ör dagegen, als Flußname des germanischen und speziell oberdeutschen Sprachgebiets, entwickelte sich nach deutschen Lautgesetzen ganz regelrecht zu Reck-ar, die alten I,iAsr und ni^ör sind also im Kern das gleiche Wort. In dieser Weise finden die Namen sämtlicher Flüsse des indo¬ germanischen Besiedlungsgebiets ihre natürliche, einfache Erklärung. Überall treten uns dabei unsre Gesetze in solcher Selbstverständlichkeit entgegen, daß wir die Formen mit mathematischer Sicherheit bestimmen können, und so sind gerade die Flußnamen besonders geeignet, das Wesen des Sprachschöpfungs- aktes zu charakterisieren. In der Schöpfung der Sprache wie auch in ihrer weitern Entwicklung sehen wir also die Prinzipien der Freiheit und der Notwendigkeit wirksam. Fest ist das Allgemeine, das heißt das Band zwischen Form und Inhalt der Wurzel als Genus, frei dagegen ist das Besondre, Individuelle, das heißt der Verband zwischen der einzelnen Wurzelform und dem bestimmten Begriff im individuellen Sinne; jener allgemeine Verband ist von Natur und darum innerlich not¬ wendig, dieser besondre ist geschichtlicher Art, bis zu einem gewissen Grade dem Willen des Menschen unterworfen und darum frei. Die eine Wurzel mit ihrem festen generellen Begriff entwickelt auf dem Wege der Differenzierung aus sich in fortwährender Umgestaltung stufenweise eine unerschöpfliche Menge von Formen, von denen jede einzelne sich mit einem individuellen Vorstellungsinhalt zu füllen sucht, der unter die Allgemeinvorstellung füllt. Von den der Sprache zur Verfügung stehenden Mitteln, das heißt den wenigen Lauten, wird dabei ein unendlicher Gebrauch gemacht, und damit die unendliche Freiheit der Sprache, die doch in einem festen Punkte gebunden ist, möglich. So gehört die Sprache nach der physischen Seite ganz in den Bereich der Naturwissen- schaft, die Prinzipien ihres Werdens finden wir in ähnlicher Weise zum Beispiel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/264>, abgerufen am 30.06.2024.