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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Am Fucmer See

überaus elend, wie aus Waiblingers Beschreibung hervorgeht, der mit seinen
Geführten oft geradezu Hunger litt. Kein Wunder, daß sich deutsche Maler,
sogar Koch und Reinhart, die über drei Jahrzehnte in Rom lebten, noch nicht
bis hierher verirrt hatten. So ruft er in seiner etwas burschikosen Weise aus:
"Hier stört uns das gewöhnliche Reisegesindel: hanshohe Kutschen voll englischer
Familien, alles wegpinselnde Landschaftsmaler, geschmacklose Antiquare shah heißt
Archäologen^ und süddeutsche Magister nicht mehr. Aber -- fügt er besorgt
hinzu -- wenn die Reisewut so fortgeht, und noch einige hinter mir den Fueiner
See besingen und ausposaunen, so ist in hundert Jahren ein Hotel d'Angleterre
in Avezzo.no und ein Dampfboot auf dem Lago ti Celaeno."

Waiblingers Befürchtung ist nur zur Hälfte Wahrheit geworden. Die
Dampfbootfrage hat sich ja mittlerweile erledigt, aber ein recht gut geleitetes
Hotel -- es heißt Albergo Vittoria -- steht jetzt neben einigen weniger zu em¬
pfehlenden italienisch geführten Gasthäusern dem Fremden offen, während 1828
die sieben Deutschen "von einem Privatmann Muscatello bestens aufgenommen
wurden".

Überschaut man jetzt von einem der Hügel bei Avezzano die sich in der
dämmernden Ferne verlierenden Segensgefilde des Fuciner Kessels, so erscheint
es beinahe unglaublich, daß er einst weithin mit Wasser ausgefüllt war, worin
sich Städte und Weingärten, Veliuo und Majella spiegelten; unglaublich, daß
Waiblinger (Band VIII, S. 302) den ersten schönen Tag in Avezzano auf
folgende Weise auszunützen riet: "Von hier aus besucht man die hauptsächlichsten
Küstenstädte zu Wasser und bestellt sich dazu einen Schiffer von Luco. Man
bricht vor Tag auf und steigt in Luco in die Barke. Landung in Trasacco,
Ortucchio, San Benedetto und Celano. Die Tour ist groß. Denn der See
hat einen Umfang von sechsunddreißig Miglien (-- neun deutsche Meilen, vier¬
zehn Wegstunden). Man landet wieder am Ufer von Avezzano."

Es war ein echter deutscher Herbstmorgen, als ich -- fünfundsiebzig Jahre
nach Waiblinger -- in dem "allerliebsten Städtchen" auch vor Tage aufbrach
und in der Richtung nach Luco zu wanderte, nicht um dort in eine Barke zu
steigen, sondern in den Entwässerungsanlagen einen der größten Triumphe neuerer
Ingenieurkunst zu besichtigen. Ich betrat den schönen Park, der die Einflu߬
stelle des Wassers in den Tunnel umgibt. Die hier angepflanzten Bäume:
Fichten, Birken, Linden und Ulmen, machten mich ebenso wie der ungewohnte
dichte Frühnebel vergessen, daß ich nicht im deutschen Mittelgebirge, sondern im
Herzen Italiens weilte. Aber nicht lange, so zerteilte die Sonne die grauen
Schwaden, die um die entblätterten Pappeln schwebten, und lächelte sieghaft auf
dem feuchten Laube, das in all den Wunderfarben des Herbstes leuchtete. Mit
reichlichem Neuschnee beworfen, strahlte alsbald der Doppelgipfel des nahen
Velino, später auch der breite Rücken der Majella, fern im Osten auf.

Über der Einflußstelle erhebt sich ein Maschinenhaus, worin ein gewaltiger
Stauapparat die Wasserhöhe regelt. Ich sah vier große Schraubengewinde,


Am Fucmer See

überaus elend, wie aus Waiblingers Beschreibung hervorgeht, der mit seinen
Geführten oft geradezu Hunger litt. Kein Wunder, daß sich deutsche Maler,
sogar Koch und Reinhart, die über drei Jahrzehnte in Rom lebten, noch nicht
bis hierher verirrt hatten. So ruft er in seiner etwas burschikosen Weise aus:
„Hier stört uns das gewöhnliche Reisegesindel: hanshohe Kutschen voll englischer
Familien, alles wegpinselnde Landschaftsmaler, geschmacklose Antiquare shah heißt
Archäologen^ und süddeutsche Magister nicht mehr. Aber — fügt er besorgt
hinzu — wenn die Reisewut so fortgeht, und noch einige hinter mir den Fueiner
See besingen und ausposaunen, so ist in hundert Jahren ein Hotel d'Angleterre
in Avezzo.no und ein Dampfboot auf dem Lago ti Celaeno."

Waiblingers Befürchtung ist nur zur Hälfte Wahrheit geworden. Die
Dampfbootfrage hat sich ja mittlerweile erledigt, aber ein recht gut geleitetes
Hotel — es heißt Albergo Vittoria — steht jetzt neben einigen weniger zu em¬
pfehlenden italienisch geführten Gasthäusern dem Fremden offen, während 1828
die sieben Deutschen „von einem Privatmann Muscatello bestens aufgenommen
wurden".

Überschaut man jetzt von einem der Hügel bei Avezzano die sich in der
dämmernden Ferne verlierenden Segensgefilde des Fuciner Kessels, so erscheint
es beinahe unglaublich, daß er einst weithin mit Wasser ausgefüllt war, worin
sich Städte und Weingärten, Veliuo und Majella spiegelten; unglaublich, daß
Waiblinger (Band VIII, S. 302) den ersten schönen Tag in Avezzano auf
folgende Weise auszunützen riet: „Von hier aus besucht man die hauptsächlichsten
Küstenstädte zu Wasser und bestellt sich dazu einen Schiffer von Luco. Man
bricht vor Tag auf und steigt in Luco in die Barke. Landung in Trasacco,
Ortucchio, San Benedetto und Celano. Die Tour ist groß. Denn der See
hat einen Umfang von sechsunddreißig Miglien (— neun deutsche Meilen, vier¬
zehn Wegstunden). Man landet wieder am Ufer von Avezzano."

Es war ein echter deutscher Herbstmorgen, als ich — fünfundsiebzig Jahre
nach Waiblinger — in dem „allerliebsten Städtchen" auch vor Tage aufbrach
und in der Richtung nach Luco zu wanderte, nicht um dort in eine Barke zu
steigen, sondern in den Entwässerungsanlagen einen der größten Triumphe neuerer
Ingenieurkunst zu besichtigen. Ich betrat den schönen Park, der die Einflu߬
stelle des Wassers in den Tunnel umgibt. Die hier angepflanzten Bäume:
Fichten, Birken, Linden und Ulmen, machten mich ebenso wie der ungewohnte
dichte Frühnebel vergessen, daß ich nicht im deutschen Mittelgebirge, sondern im
Herzen Italiens weilte. Aber nicht lange, so zerteilte die Sonne die grauen
Schwaden, die um die entblätterten Pappeln schwebten, und lächelte sieghaft auf
dem feuchten Laube, das in all den Wunderfarben des Herbstes leuchtete. Mit
reichlichem Neuschnee beworfen, strahlte alsbald der Doppelgipfel des nahen
Velino, später auch der breite Rücken der Majella, fern im Osten auf.

Über der Einflußstelle erhebt sich ein Maschinenhaus, worin ein gewaltiger
Stauapparat die Wasserhöhe regelt. Ich sah vier große Schraubengewinde,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/210>, abgerufen am 24.07.2024.