Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Glossen angesichts des Wahlkampfs in Deutschland zu prüfen imstande ist, kann nichts An taktischen Geschick übertrifft das Zentrum zweifellos alle andern Das Wort, das Fürst Bülow in den erregten Augenblicken der letzten Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt, verantwortlich sei immer nur der Gesellschaften, Klassen, Parteien sind immer mehr oder weniger ohne eigent¬ Glossen angesichts des Wahlkampfs in Deutschland zu prüfen imstande ist, kann nichts An taktischen Geschick übertrifft das Zentrum zweifellos alle andern Das Wort, das Fürst Bülow in den erregten Augenblicken der letzten Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt, verantwortlich sei immer nur der Gesellschaften, Klassen, Parteien sind immer mehr oder weniger ohne eigent¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0160" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301414"/> <fw type="header" place="top"> Glossen</fw><lb/> <p xml:id="ID_543" prev="#ID_542"> angesichts des Wahlkampfs in Deutschland zu prüfen imstande ist, kann nichts<lb/> andres als Staunen und Bewunderung für die sichere taktische Disziplin em¬<lb/> pfinden, die die Presse beider Länder während der Dauer der Wahlagitation<lb/> Abstand nehmen läßt von Erörterungen jeder Art, die geeignet sein könnten, den<lb/> deutschen Patriotismus zu wecken und den antinationalen Parteien, deren Sieg<lb/> im Interesse Englands und Frankreichs liegt, den Kampf zu erschweren. Nicht<lb/> von allen Teilen der deutschen Presse wäre im umgekehrten Falle eine ähnliche<lb/> Disziplin zu erwarten.</p><lb/> <p xml:id="ID_544"> An taktischen Geschick übertrifft das Zentrum zweifellos alle andern<lb/> Parteien. Während die Germania klug genug ist, zu wissen, daß sie demi<lb/> Eindruck des Bülowschen Silvesterbriefes durch Lob am ehesten Eintrag tun<lb/> kann, ist ein gewisser Teil der liberalen Presse ungeschickt genug, blind in diese<lb/> Falle zu gehn, das Manifest wider allen Sinn der gedruckten Worte zugunsten<lb/> des Zentrums zu interpretieren und zur Freude des Zentrums dem Fürsten<lb/> Bülow in den Rücken zu fallen. Gegenüber solchen Fehlern sind alle Manifeste<lb/> der Welt machtlos.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_545"> Das Wort, das Fürst Bülow in den erregten Augenblicken der letzten<lb/> Reichstagsauflösung den Parteien zurief, Parteien hätten keine Verantwortung,<lb/> hat bei den Zentrumsdemokraten lebhaften Widerspruch gefunden. Die Frage<lb/> hat eine staatsrechtliche und eine psychologische Seite. staatsrechtlich läßt sich<lb/> der demokratische Widerspruch nicht begründen, und psychologisch ist er nicht<lb/> verständlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_546"> Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt, verantwortlich sei immer nur der<lb/> Einzelne. Es ist eine psychologische Selbstverständlichkeit, die nicht durch das<lb/> Wort des Philosophen belegt zu werden braucht, daß das Verantwortlichkeits¬<lb/> gefühl an die Persönlichkeit gebunden ist, daß es sich desto reiner und strenger<lb/> ausbildet, je einsamer und einzelner einer steht. Diese Wahrheit ist einer von<lb/> den philosophischen Grundpfeilern der Monarchie: vor niemand verantwortlich<lb/> zu sein als vor sich selbst, ist die höchste Spitze des Verantwortlichkeitsgefühls.</p><lb/> <p xml:id="ID_547" next="#ID_548"> Gesellschaften, Klassen, Parteien sind immer mehr oder weniger ohne eigent¬<lb/> liches Verantwortlichkeitsgefühl: eine Schulklasse in ihrer Gesamtheit ist stets<lb/> ungezogner als ein einzelner, weil es immer „niemand gewesen ist" — die<lb/> Klubs der französischen Revolution hätten weniger sinnlos gewütet, wenn sich<lb/> die Persönlichkeit nicht durch irgendeinen unpersönlichen Sammelkörper hätte<lb/> decken können. Wäre es erlaubt, von hier aus auf die Verhältnisse des<lb/> deutschen Reichstags überzugreifen, so konnte man an manche Fälle erinnern,<lb/> in denen Parteien das verleugneten, was sie selber gutgeheißen hatten, und der<lb/> Regierung alle Schuld und Verantwortlichkeit zuschoben. Man denke an die<lb/> Aufhebung des Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes. Natürlich mag und soll sich<lb/> der Einzelne verantwortlich halten für die eigne Abstimmung — aber diese Art</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0160]
Glossen
angesichts des Wahlkampfs in Deutschland zu prüfen imstande ist, kann nichts
andres als Staunen und Bewunderung für die sichere taktische Disziplin em¬
pfinden, die die Presse beider Länder während der Dauer der Wahlagitation
Abstand nehmen läßt von Erörterungen jeder Art, die geeignet sein könnten, den
deutschen Patriotismus zu wecken und den antinationalen Parteien, deren Sieg
im Interesse Englands und Frankreichs liegt, den Kampf zu erschweren. Nicht
von allen Teilen der deutschen Presse wäre im umgekehrten Falle eine ähnliche
Disziplin zu erwarten.
An taktischen Geschick übertrifft das Zentrum zweifellos alle andern
Parteien. Während die Germania klug genug ist, zu wissen, daß sie demi
Eindruck des Bülowschen Silvesterbriefes durch Lob am ehesten Eintrag tun
kann, ist ein gewisser Teil der liberalen Presse ungeschickt genug, blind in diese
Falle zu gehn, das Manifest wider allen Sinn der gedruckten Worte zugunsten
des Zentrums zu interpretieren und zur Freude des Zentrums dem Fürsten
Bülow in den Rücken zu fallen. Gegenüber solchen Fehlern sind alle Manifeste
der Welt machtlos.
Das Wort, das Fürst Bülow in den erregten Augenblicken der letzten
Reichstagsauflösung den Parteien zurief, Parteien hätten keine Verantwortung,
hat bei den Zentrumsdemokraten lebhaften Widerspruch gefunden. Die Frage
hat eine staatsrechtliche und eine psychologische Seite. staatsrechtlich läßt sich
der demokratische Widerspruch nicht begründen, und psychologisch ist er nicht
verständlich.
Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt, verantwortlich sei immer nur der
Einzelne. Es ist eine psychologische Selbstverständlichkeit, die nicht durch das
Wort des Philosophen belegt zu werden braucht, daß das Verantwortlichkeits¬
gefühl an die Persönlichkeit gebunden ist, daß es sich desto reiner und strenger
ausbildet, je einsamer und einzelner einer steht. Diese Wahrheit ist einer von
den philosophischen Grundpfeilern der Monarchie: vor niemand verantwortlich
zu sein als vor sich selbst, ist die höchste Spitze des Verantwortlichkeitsgefühls.
Gesellschaften, Klassen, Parteien sind immer mehr oder weniger ohne eigent¬
liches Verantwortlichkeitsgefühl: eine Schulklasse in ihrer Gesamtheit ist stets
ungezogner als ein einzelner, weil es immer „niemand gewesen ist" — die
Klubs der französischen Revolution hätten weniger sinnlos gewütet, wenn sich
die Persönlichkeit nicht durch irgendeinen unpersönlichen Sammelkörper hätte
decken können. Wäre es erlaubt, von hier aus auf die Verhältnisse des
deutschen Reichstags überzugreifen, so konnte man an manche Fälle erinnern,
in denen Parteien das verleugneten, was sie selber gutgeheißen hatten, und der
Regierung alle Schuld und Verantwortlichkeit zuschoben. Man denke an die
Aufhebung des Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes. Natürlich mag und soll sich
der Einzelne verantwortlich halten für die eigne Abstimmung — aber diese Art
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