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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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gleichen Rechte, mit dem von den konservativen Parteien und Gesellschafts¬
kreisen verlangt wird, sie möchten die Bedingungen des neudeutschen Lebens be¬
greifen, muß von den Liberalen gefordert werden, daß sie die eigentümliche Be¬
rechtigung der konservativen Ideen und der preußischen sogenannten "herrschenden"
Partei anerkennen. Der Liberalismus soll politische Vernunft genug haben, zu
versteh", daß auf dieser "alten, überlebten" Gesellschaft nicht nur die deutsche
Macht, sondern die deutsche Einheit militärisch und historisch ruht; der Libe¬
ralismus soll es vermeiden, sich durch die Anhängerschaft einzelner Zeitungs¬
organe zu kompromittieren, die weder deutsch sind noch von deutscher Geschichte
etwas wissen und die Politisierung der neuen deutschen Gesellschaft dadurch zu
fördern wähnen, daß sie dem wichtigsten Teil dieser neudeutschen Gesellschaft
jede Daseinsberechtigung aberkennen und für den preußischen Adel keine andern
Worte finden als Junker und Fleischwucherer usw. Leider aber ist es wahr,
daß eine falsche aber marxistische Theorie weit über die Kreise der Sozial¬
demokratie hinaus den richtigen Sinn für die Wirklichkeit verdunkelt und die
Gesellschaft spaltet, statt sie zu einen. Die führenden Männer der Parteien aber
sollen sich nicht durch Menschen, die nur Leitartikel zu schreiben, nicht aber
Politik zu machen beabsichtigen, davon abhalten lassen, die Politisierung der
neuen Gesellschaft anzubahnen, die nach wie vor das Ziel bleibt, wenn auch
Staatsmänner und Gelehrte über die Wege, die zu dem Ziele führen, ver-
schiedner Ansicht sein können.

Das neudeutsche Volk, an das sich die um Naumann und Barth wenden
"vollen, darf nicht im Gegensatz zu der preußischen Gesellschaft heran-, sondern
muß in sie hineinwachsen, wenn anders die Grundlagen, auf denen die Macht des
Deutschen Reichs ruht, nicht erschüttert werden sollen. Das müssen die Libe¬
ralen begreifen; das ist der Sinn für historische Kontinuität, den Fürst Bülow
in seinem Silvesterbrief, ohne verstanden zu werden, von den Liberalen ver¬
langt hat.

Noch ist die Einheit des deutscheu Volks uicht vollendet. Soll, was 1870
begonnen worden ist, nicht unvollendet bleiben, so muß der Liberale ebenso die
Politische Notwendigkeit konservativer Traditionen anerkennen wie der Konser¬
vative die Bedingungen gedeihlicher Fortentwicklung des wirtschaftlichen und
kulturellen Lebens der Nation.

Die Liberalen verlangen für die neue Gesellschaft Anteil an der Verwaltung;
sie würden das schneller erreichen, wenn sie sich dem Bestehenden angliederten, statt
durch schroffe Kampfesstellung und ungerechtfertigte Angriffe die andre Seite zur
Gegenwehr zu zwingen.




Die schon mehrfach gemachte Erfahrung, daß es den Deutschen in politischer
Beziehung an taktischer Geschicklichkeit fehlt, findet bei Gelegenheit der Wahlen
abermalige Bestätigung. Wer die Haltung der englischen und französischen Presse


Glossen

gleichen Rechte, mit dem von den konservativen Parteien und Gesellschafts¬
kreisen verlangt wird, sie möchten die Bedingungen des neudeutschen Lebens be¬
greifen, muß von den Liberalen gefordert werden, daß sie die eigentümliche Be¬
rechtigung der konservativen Ideen und der preußischen sogenannten „herrschenden"
Partei anerkennen. Der Liberalismus soll politische Vernunft genug haben, zu
versteh», daß auf dieser „alten, überlebten" Gesellschaft nicht nur die deutsche
Macht, sondern die deutsche Einheit militärisch und historisch ruht; der Libe¬
ralismus soll es vermeiden, sich durch die Anhängerschaft einzelner Zeitungs¬
organe zu kompromittieren, die weder deutsch sind noch von deutscher Geschichte
etwas wissen und die Politisierung der neuen deutschen Gesellschaft dadurch zu
fördern wähnen, daß sie dem wichtigsten Teil dieser neudeutschen Gesellschaft
jede Daseinsberechtigung aberkennen und für den preußischen Adel keine andern
Worte finden als Junker und Fleischwucherer usw. Leider aber ist es wahr,
daß eine falsche aber marxistische Theorie weit über die Kreise der Sozial¬
demokratie hinaus den richtigen Sinn für die Wirklichkeit verdunkelt und die
Gesellschaft spaltet, statt sie zu einen. Die führenden Männer der Parteien aber
sollen sich nicht durch Menschen, die nur Leitartikel zu schreiben, nicht aber
Politik zu machen beabsichtigen, davon abhalten lassen, die Politisierung der
neuen Gesellschaft anzubahnen, die nach wie vor das Ziel bleibt, wenn auch
Staatsmänner und Gelehrte über die Wege, die zu dem Ziele führen, ver-
schiedner Ansicht sein können.

Das neudeutsche Volk, an das sich die um Naumann und Barth wenden
»vollen, darf nicht im Gegensatz zu der preußischen Gesellschaft heran-, sondern
muß in sie hineinwachsen, wenn anders die Grundlagen, auf denen die Macht des
Deutschen Reichs ruht, nicht erschüttert werden sollen. Das müssen die Libe¬
ralen begreifen; das ist der Sinn für historische Kontinuität, den Fürst Bülow
in seinem Silvesterbrief, ohne verstanden zu werden, von den Liberalen ver¬
langt hat.

Noch ist die Einheit des deutscheu Volks uicht vollendet. Soll, was 1870
begonnen worden ist, nicht unvollendet bleiben, so muß der Liberale ebenso die
Politische Notwendigkeit konservativer Traditionen anerkennen wie der Konser¬
vative die Bedingungen gedeihlicher Fortentwicklung des wirtschaftlichen und
kulturellen Lebens der Nation.

Die Liberalen verlangen für die neue Gesellschaft Anteil an der Verwaltung;
sie würden das schneller erreichen, wenn sie sich dem Bestehenden angliederten, statt
durch schroffe Kampfesstellung und ungerechtfertigte Angriffe die andre Seite zur
Gegenwehr zu zwingen.




Die schon mehrfach gemachte Erfahrung, daß es den Deutschen in politischer
Beziehung an taktischer Geschicklichkeit fehlt, findet bei Gelegenheit der Wahlen
abermalige Bestätigung. Wer die Haltung der englischen und französischen Presse


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[0159] Glossen gleichen Rechte, mit dem von den konservativen Parteien und Gesellschafts¬ kreisen verlangt wird, sie möchten die Bedingungen des neudeutschen Lebens be¬ greifen, muß von den Liberalen gefordert werden, daß sie die eigentümliche Be¬ rechtigung der konservativen Ideen und der preußischen sogenannten „herrschenden" Partei anerkennen. Der Liberalismus soll politische Vernunft genug haben, zu versteh», daß auf dieser „alten, überlebten" Gesellschaft nicht nur die deutsche Macht, sondern die deutsche Einheit militärisch und historisch ruht; der Libe¬ ralismus soll es vermeiden, sich durch die Anhängerschaft einzelner Zeitungs¬ organe zu kompromittieren, die weder deutsch sind noch von deutscher Geschichte etwas wissen und die Politisierung der neuen deutschen Gesellschaft dadurch zu fördern wähnen, daß sie dem wichtigsten Teil dieser neudeutschen Gesellschaft jede Daseinsberechtigung aberkennen und für den preußischen Adel keine andern Worte finden als Junker und Fleischwucherer usw. Leider aber ist es wahr, daß eine falsche aber marxistische Theorie weit über die Kreise der Sozial¬ demokratie hinaus den richtigen Sinn für die Wirklichkeit verdunkelt und die Gesellschaft spaltet, statt sie zu einen. Die führenden Männer der Parteien aber sollen sich nicht durch Menschen, die nur Leitartikel zu schreiben, nicht aber Politik zu machen beabsichtigen, davon abhalten lassen, die Politisierung der neuen Gesellschaft anzubahnen, die nach wie vor das Ziel bleibt, wenn auch Staatsmänner und Gelehrte über die Wege, die zu dem Ziele führen, ver- schiedner Ansicht sein können. Das neudeutsche Volk, an das sich die um Naumann und Barth wenden »vollen, darf nicht im Gegensatz zu der preußischen Gesellschaft heran-, sondern muß in sie hineinwachsen, wenn anders die Grundlagen, auf denen die Macht des Deutschen Reichs ruht, nicht erschüttert werden sollen. Das müssen die Libe¬ ralen begreifen; das ist der Sinn für historische Kontinuität, den Fürst Bülow in seinem Silvesterbrief, ohne verstanden zu werden, von den Liberalen ver¬ langt hat. Noch ist die Einheit des deutscheu Volks uicht vollendet. Soll, was 1870 begonnen worden ist, nicht unvollendet bleiben, so muß der Liberale ebenso die Politische Notwendigkeit konservativer Traditionen anerkennen wie der Konser¬ vative die Bedingungen gedeihlicher Fortentwicklung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Nation. Die Liberalen verlangen für die neue Gesellschaft Anteil an der Verwaltung; sie würden das schneller erreichen, wenn sie sich dem Bestehenden angliederten, statt durch schroffe Kampfesstellung und ungerechtfertigte Angriffe die andre Seite zur Gegenwehr zu zwingen. Die schon mehrfach gemachte Erfahrung, daß es den Deutschen in politischer Beziehung an taktischer Geschicklichkeit fehlt, findet bei Gelegenheit der Wahlen abermalige Bestätigung. Wer die Haltung der englischen und französischen Presse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/159>, abgerufen am 02.07.2024.