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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

beliebt worden wären, so eine Politik ini Hemdärmelstil? Als ob vor einer
solchen, abgesehen von dem guten Geschmack, nicht schon die verhältnismüßige
Schwäche unsrer Wehrkraft zur See, die man nicht durch Bramarbasieren er¬
gänzt, warnen müßte! Die Gegnerschaft Englands hat sich das deutsche Volk
selbst durch seine unermüdliche und erfolgreiche wirtschaftliche Arbeit zugezogen,
von der es nicht ablassen konnte und kann. Wie klüglich nimmt sich da das
Gewinsel über unsre Isolierung aus! Ist das die Weise eines großen, tapfern,
selbstbewußten Volks, das einst zu seinen schönsten Sprichwörtern den stolzen
Satz zählte: "Viel Feind', viel Ehr!", dem der Dichter des "Tell" zurief:
"Der Starke ist am mächtigsten allein!", und Bismarck unter dem Jubel des
ganzen Hauses: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!" Und
wenn in der Presse jeder Schritt unsrer auswärtigen Politik bekrittelt, jeder
Erfolg verkleinert oder geleugnet wird, obwohl wir in unsrer Lage auf große
Erfolge, wie sie uns früher große Männer beschert haben, gar nicht rechnen
können, weil wir bei jedem Schritt über See belauert und angeklagt werden,
wenn unsre Neichstagsmchrheit in wichtigen nationalen Fragen immer wieder
versagt und keine Gelegenheit vorbeigehn läßt, sich und Deutschland vor der
Welt zu blamieren, dann erscheinen wir freilich dem Auslande nicht als eine
geschlossene Nation, sondern als ein Haufe hadernder Parteien, dann muß es
denken und denkt es auch, daß die Nation gar nicht hinter unsrer Reichsregierung
und ihrer Politik steht, und es wird unter Umständen danach handeln.

Urplötzlich, für die meisten völlig überraschend, ist nun das deutsche Volk
durch die Auflösung des Reichstags am 13. Dezember vor eine neue Situation
gestellt worden, wo es zeigen kann, ob es eine Nation ist. Eine unbegreiflich
kurzsichtige und ungeschickte, von Rachsucht und Übermut diktierte Haltung hat
das sonst so klug geleitete Zentrum seines scheinbar fest gegründeten Einflusses
auf die Reichsregierung mit einem Schlage beraubt, hat den Ruf einer natio¬
nalen Partei, den es in Anspruch nahm, zerstört, hat es hinübergeschoben an
die Seite der so oft von ihm zurückgewiesnen Sozialdemokratie und andrer
motorischer Reichsfeinde, zu denen es doch nie gehören wollte und nicht gehört.
Wie kam es nun doch, daß die gesamte Linke bei der Verkündigung der kaiser¬
lichen Auflösungsbotschaft in stürmischen Jubel ausbrach und die überfüllten
Tribünen Beifall klatschten, daß durch das weite Reich ein allgemeines Gefühl
der Befreiung ging? Weil die Lage unerträglich geworden war, diese ini
Dunkeln schleichende "Nebenregierung" des Zentrums, diese "Eiterbeule" unge¬
setzlicher Beeinflussung der Reichsverwaltung im Interesse des Zentrums und
seiner oft recht wenig würdigen Schützlinge, die Dernburg tapfer aufstand, dieser
elende "Kuhhandel", mit dem das Zentrum sich jede Bewilligung im nationalen
Interesse mit irgendeinem Zugeständnis auf kirchlichem und anderm Gebiete be¬
zahlen lassen wollte, und den doch die Neichsregierung nicht vermeiden konnte, weil
sie bei der Schwäche und der Zersplitterung der konservativen und der liberalen
Parteien eine Mehrheit ohne das Zentrum nicht bilden konnte. Vor diesen


Sind wir eine Nation?

beliebt worden wären, so eine Politik ini Hemdärmelstil? Als ob vor einer
solchen, abgesehen von dem guten Geschmack, nicht schon die verhältnismüßige
Schwäche unsrer Wehrkraft zur See, die man nicht durch Bramarbasieren er¬
gänzt, warnen müßte! Die Gegnerschaft Englands hat sich das deutsche Volk
selbst durch seine unermüdliche und erfolgreiche wirtschaftliche Arbeit zugezogen,
von der es nicht ablassen konnte und kann. Wie klüglich nimmt sich da das
Gewinsel über unsre Isolierung aus! Ist das die Weise eines großen, tapfern,
selbstbewußten Volks, das einst zu seinen schönsten Sprichwörtern den stolzen
Satz zählte: „Viel Feind', viel Ehr!", dem der Dichter des „Tell" zurief:
„Der Starke ist am mächtigsten allein!", und Bismarck unter dem Jubel des
ganzen Hauses: „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!" Und
wenn in der Presse jeder Schritt unsrer auswärtigen Politik bekrittelt, jeder
Erfolg verkleinert oder geleugnet wird, obwohl wir in unsrer Lage auf große
Erfolge, wie sie uns früher große Männer beschert haben, gar nicht rechnen
können, weil wir bei jedem Schritt über See belauert und angeklagt werden,
wenn unsre Neichstagsmchrheit in wichtigen nationalen Fragen immer wieder
versagt und keine Gelegenheit vorbeigehn läßt, sich und Deutschland vor der
Welt zu blamieren, dann erscheinen wir freilich dem Auslande nicht als eine
geschlossene Nation, sondern als ein Haufe hadernder Parteien, dann muß es
denken und denkt es auch, daß die Nation gar nicht hinter unsrer Reichsregierung
und ihrer Politik steht, und es wird unter Umständen danach handeln.

Urplötzlich, für die meisten völlig überraschend, ist nun das deutsche Volk
durch die Auflösung des Reichstags am 13. Dezember vor eine neue Situation
gestellt worden, wo es zeigen kann, ob es eine Nation ist. Eine unbegreiflich
kurzsichtige und ungeschickte, von Rachsucht und Übermut diktierte Haltung hat
das sonst so klug geleitete Zentrum seines scheinbar fest gegründeten Einflusses
auf die Reichsregierung mit einem Schlage beraubt, hat den Ruf einer natio¬
nalen Partei, den es in Anspruch nahm, zerstört, hat es hinübergeschoben an
die Seite der so oft von ihm zurückgewiesnen Sozialdemokratie und andrer
motorischer Reichsfeinde, zu denen es doch nie gehören wollte und nicht gehört.
Wie kam es nun doch, daß die gesamte Linke bei der Verkündigung der kaiser¬
lichen Auflösungsbotschaft in stürmischen Jubel ausbrach und die überfüllten
Tribünen Beifall klatschten, daß durch das weite Reich ein allgemeines Gefühl
der Befreiung ging? Weil die Lage unerträglich geworden war, diese ini
Dunkeln schleichende „Nebenregierung" des Zentrums, diese „Eiterbeule" unge¬
setzlicher Beeinflussung der Reichsverwaltung im Interesse des Zentrums und
seiner oft recht wenig würdigen Schützlinge, die Dernburg tapfer aufstand, dieser
elende „Kuhhandel", mit dem das Zentrum sich jede Bewilligung im nationalen
Interesse mit irgendeinem Zugeständnis auf kirchlichem und anderm Gebiete be¬
zahlen lassen wollte, und den doch die Neichsregierung nicht vermeiden konnte, weil
sie bei der Schwäche und der Zersplitterung der konservativen und der liberalen
Parteien eine Mehrheit ohne das Zentrum nicht bilden konnte. Vor diesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/16>, abgerufen am 24.07.2024.