Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Sind wir eine Nation? das jeder Narr für sich in Anspruch nimmt, wird ihm bestritten, was etwa der Eine Nation in politischem Sinne sind wir also wirklich noch nicht. Ob Was uus Zweifel daran erweckt, das ist nicht gerade die augenblickliche Sind wir eine Nation? das jeder Narr für sich in Anspruch nimmt, wird ihm bestritten, was etwa der Eine Nation in politischem Sinne sind wir also wirklich noch nicht. Ob Was uus Zweifel daran erweckt, das ist nicht gerade die augenblickliche <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301269"/> <fw type="header" place="top"> Sind wir eine Nation?</fw><lb/> <p xml:id="ID_14" prev="#ID_13"> das jeder Narr für sich in Anspruch nimmt, wird ihm bestritten, was etwa der<lb/> deutschen Politik nach außen nicht gelungen zu sein scheint, ihm auf die Rechnung<lb/> gesetzt. Und doch bedarf kein Volk bedeutender Männer als seiner Führer<lb/> so dringend wie das deutsche, dessen Volksvertretung seit Jahrzehnten so jämmer¬<lb/> lich unfruchtbar und gedankenarm ist. Aber wir scheinen bedeutende Männer an<lb/> unsrer Spitze weder ertragen noch entbehren zu können. Wir trauern um die,<lb/> die wir gehabt haben, und machen denen, die wir haben, das Leben möglichst<lb/> sauer; wir wollen nicht einmal sehen, daß ein Volk, das immer nur von großen<lb/> Männern regiert werden will, sich selbst das Urteil spricht, denn solche sind ein<lb/> unverdientes Geschenk der Vorsehung, sie können nicht gezüchtet werden. „Die<lb/> Geschichte erzieht das Genie, aber sie schafft es nicht."</p><lb/> <p xml:id="ID_15"> Eine Nation in politischem Sinne sind wir also wirklich noch nicht. Ob<lb/> wir Aussicht haben, eine zu werden?</p><lb/> <p xml:id="ID_16" next="#ID_17"> Was uus Zweifel daran erweckt, das ist nicht gerade die augenblickliche<lb/> Lage, das ist die Erkenntnis, daß alte Schwächen, alte schlechte Eigenschaften<lb/> unsers Volks, die seine Entwicklung immer wieder verdorben haben, die nur in<lb/> großer Zeit unter der Führung großer Männer zurückgetreten sind, daß diese<lb/> jetzt, wo die dringendsten nationalen Aufgaben gelöst sind, wo wir mächtig und<lb/> reich geworden sind, wieder hervorbrechen: der kleinliche, zähe Sondergeist und<lb/> der unbelehrbare Doktrinarismus, das Besserwissen und die Nörgelsucht, die<lb/> Parteiwut und die Schwäche des nationalen Bewußtseins. Gutmütige Leute<lb/> meinen freilich, das alles werde sich schon noch geben, die deutsche Einheit sei<lb/> noch zu jung, das Volk müsse sich erst in die neuen Aufgaben hineinfinden.<lb/> Wenn uns unsre lieben Nachbarn dazu nur die nötige Zeit lassen! Die Gegen¬<lb/> wart lebt schnell. Wir sind im Osten und im Westen von Feinden und Neidern<lb/> umgeben und haben außer Österreich keinen zuverlässigen Bundesgenossen, denn<lb/> Italien ist als solcher mehr als unsicher. Frankreich ist nur zu schwach, um<lb/> uns allein anzugreifen, aber es stützt sich auf England, das freundnachbarlich<lb/> den Kern seiner Flotte in der Nordsee, also gegen uns konzentriert; Rußland<lb/> ist zwar nicht unser Feind, aber auch nicht unser Bundesgenosse und ist über¬<lb/> dies seit langer Zeit so mit innern Schwierigkeiten beschäftigt, daß es zu jeder<lb/> großen Aktion nach außen unfähig ist, und wie sich ein konstitutionelles Ru߬<lb/> land zu uns stellen wird, das weiß kein Mensch. Der Hauptgegensatz besteht<lb/> also zwischen uns und England. Er ist aber nicht eigentlich politisch, sondern<lb/> wirtschaftlich. Deshalb ist unsre Situation nicht durch irgendwelche Fehler der<lb/> Reichsregierung herbeigeführt worden, wovon genügend, bis zum Überdruß ge¬<lb/> redet worden ist, ohne daß solche jemals wirklich nachgewiesen worden wären<lb/> — der ärgste Fehler waren die leidenschaftlichen, von Haß gegen England er¬<lb/> füllten burenfreundlichen Kundgebungen des deutschen Volks, nicht der Re¬<lb/> gierung oder glaubt man, daß mehr erreicht worden wäre, wenn statt der<lb/> Höflichkeit und Artigkeit, die der Kaiser so gern und so reichlich den Franzosen<lb/> und den Engländern erwiesen hat, Grobheiten und eine herausfordernde Haltung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
Sind wir eine Nation?
das jeder Narr für sich in Anspruch nimmt, wird ihm bestritten, was etwa der
deutschen Politik nach außen nicht gelungen zu sein scheint, ihm auf die Rechnung
gesetzt. Und doch bedarf kein Volk bedeutender Männer als seiner Führer
so dringend wie das deutsche, dessen Volksvertretung seit Jahrzehnten so jämmer¬
lich unfruchtbar und gedankenarm ist. Aber wir scheinen bedeutende Männer an
unsrer Spitze weder ertragen noch entbehren zu können. Wir trauern um die,
die wir gehabt haben, und machen denen, die wir haben, das Leben möglichst
sauer; wir wollen nicht einmal sehen, daß ein Volk, das immer nur von großen
Männern regiert werden will, sich selbst das Urteil spricht, denn solche sind ein
unverdientes Geschenk der Vorsehung, sie können nicht gezüchtet werden. „Die
Geschichte erzieht das Genie, aber sie schafft es nicht."
Eine Nation in politischem Sinne sind wir also wirklich noch nicht. Ob
wir Aussicht haben, eine zu werden?
Was uus Zweifel daran erweckt, das ist nicht gerade die augenblickliche
Lage, das ist die Erkenntnis, daß alte Schwächen, alte schlechte Eigenschaften
unsers Volks, die seine Entwicklung immer wieder verdorben haben, die nur in
großer Zeit unter der Führung großer Männer zurückgetreten sind, daß diese
jetzt, wo die dringendsten nationalen Aufgaben gelöst sind, wo wir mächtig und
reich geworden sind, wieder hervorbrechen: der kleinliche, zähe Sondergeist und
der unbelehrbare Doktrinarismus, das Besserwissen und die Nörgelsucht, die
Parteiwut und die Schwäche des nationalen Bewußtseins. Gutmütige Leute
meinen freilich, das alles werde sich schon noch geben, die deutsche Einheit sei
noch zu jung, das Volk müsse sich erst in die neuen Aufgaben hineinfinden.
Wenn uns unsre lieben Nachbarn dazu nur die nötige Zeit lassen! Die Gegen¬
wart lebt schnell. Wir sind im Osten und im Westen von Feinden und Neidern
umgeben und haben außer Österreich keinen zuverlässigen Bundesgenossen, denn
Italien ist als solcher mehr als unsicher. Frankreich ist nur zu schwach, um
uns allein anzugreifen, aber es stützt sich auf England, das freundnachbarlich
den Kern seiner Flotte in der Nordsee, also gegen uns konzentriert; Rußland
ist zwar nicht unser Feind, aber auch nicht unser Bundesgenosse und ist über¬
dies seit langer Zeit so mit innern Schwierigkeiten beschäftigt, daß es zu jeder
großen Aktion nach außen unfähig ist, und wie sich ein konstitutionelles Ru߬
land zu uns stellen wird, das weiß kein Mensch. Der Hauptgegensatz besteht
also zwischen uns und England. Er ist aber nicht eigentlich politisch, sondern
wirtschaftlich. Deshalb ist unsre Situation nicht durch irgendwelche Fehler der
Reichsregierung herbeigeführt worden, wovon genügend, bis zum Überdruß ge¬
redet worden ist, ohne daß solche jemals wirklich nachgewiesen worden wären
— der ärgste Fehler waren die leidenschaftlichen, von Haß gegen England er¬
füllten burenfreundlichen Kundgebungen des deutschen Volks, nicht der Re¬
gierung oder glaubt man, daß mehr erreicht worden wäre, wenn statt der
Höflichkeit und Artigkeit, die der Kaiser so gern und so reichlich den Franzosen
und den Engländern erwiesen hat, Grobheiten und eine herausfordernde Haltung
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