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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

Besteht aber nun irgendwo eine starke Strömung nach dieser Richtung? Gott
bewahre! Praktisch steht die Mehrzahl der Deutschen noch immer auf dem alten
halbpartikularistischen Boden, Wir verstehen hier unter Partikularismus natürlich
nicht die warme Anhänglichkeit an das Heimatland und an das angestammte
Herrscherhaus; der hohe deutsche Adel ist immer wurzelecht gewesen und nicht
durch Eroberung aufgepfropft; wir verstehen darunter die Neigung, sich in
kleinen Kreisen selbstzufrieden abzuschließen, sich als etwas Besseres zu dünken
als der nächste Nachbar, die politische Selbständigkeit um jeden Preis in jeder
Einzelheit eifersüchtig aufrecht zu erhalten, auch wenn Vernunft und gesundes
Interesse das keineswegs gebieten. Und das wird oft mit einer Leidenschaft
behandelt, als ob das Seelenheil davon abhinge. Die unglückliche Lippische
Erbfolgefrage, die doch durch die Vereinigung beider Ländchen am einfachsten
zu lösen gewesen wäre, erregte jahrelang ein endloses Gezänk und Spaltungen
bis in die Familien hinein; die Braunschweiger haben sich noch immer nicht
entschließen können, dem starren Trotz des Hauses Cumberland, das dort niemals
regiert hat, und das seit vierzig Jahren nicht nur völlig außerhalb des Landes,
sondern auch des Reiches steht, rundweg abzusagen und einen Herzog statt
eines Regenten zu wählen, ein Definitionen statt eines Provisoriums zu schaffen;
sie sind vielleicht so naiv, Preußen zuzumuten, sich dieses Provisorium auf
Gott weiß wie lange gefallen zu lassen, und damit alle die Beunruhigung, die
fürstlicher Starrsinn in einer seiner Provinzen lebendig erhält. Erlaubte sich
doch der dortige Landesausschluß, das Deutsche Reich als ein Staatengebilde
zu bezeichnen, das auf den Säulen der Einzelstaaten beruhe, also offenbar
deren Interessen vor allem berücksichtigen müsse, auch vor den Interessen der
Gesamtheit. Sogar die beiden Nationen des Hauses Neuß denken keineswegs
daran, sich beim bevorstehenden Aussterben der ältern Linie in Greiz unter
der jungem von Gera vereinigen zu lassen. Wahrhaftig, wenn es nach dem
Bewußtsein des deutschen Volks gegangen wäre, so wäre die wohltätige Fürsten¬
revolution von 1803 niemals gekommen, sondern wir Hütten noch dieselbe lächerlich¬
unhaltbare Gebietsverteilung und -Zersplitterung wie damals, und wie sie noch
heute in Thüringen besteht, ohne daß dort ein Mensch im Ernst daran ginge,
sie zu ändern oder ihre nachteiligen Folgen zu mildern.

Da sagt man natürlich: Der schlimmste Partikularismus ist der preußische;
wir tun ja gar nichts andres, als was Preußen tut; wir sind ganz gute Deutsche,
wir wollen nur nicht unter preußischem Einflüsse stehn, Preußen nichts zu Ge¬
fallen tun; Braunschweig und Lippe sind gerade so gut ein Staat wie Preußen;^
auf die Quadratkilometer kommt es nicht an. Nun, eine gewisse Bedeutung für
die Geltung eines Staats hat sein Umfang immerhin. Gewiß, es gibt einen
unberechtigten preußischen Partikularismus, es gibt dort einflußreiche Kreise,
die vom übrigen Deutschland nicht viel wissen wollen, die den außerpreußischcn
Deutschen die Wege zu Anstellungen, Prüfungen und dergleichen in Preußen
möglichst verrammeln, die sogar Eisenbahn- und Kanalfragen lediglich vom
Preußischen Standpunkt aus behandeln. Aber es ist der Egoismus eines großen


Sind wir eine Nation?

Besteht aber nun irgendwo eine starke Strömung nach dieser Richtung? Gott
bewahre! Praktisch steht die Mehrzahl der Deutschen noch immer auf dem alten
halbpartikularistischen Boden, Wir verstehen hier unter Partikularismus natürlich
nicht die warme Anhänglichkeit an das Heimatland und an das angestammte
Herrscherhaus; der hohe deutsche Adel ist immer wurzelecht gewesen und nicht
durch Eroberung aufgepfropft; wir verstehen darunter die Neigung, sich in
kleinen Kreisen selbstzufrieden abzuschließen, sich als etwas Besseres zu dünken
als der nächste Nachbar, die politische Selbständigkeit um jeden Preis in jeder
Einzelheit eifersüchtig aufrecht zu erhalten, auch wenn Vernunft und gesundes
Interesse das keineswegs gebieten. Und das wird oft mit einer Leidenschaft
behandelt, als ob das Seelenheil davon abhinge. Die unglückliche Lippische
Erbfolgefrage, die doch durch die Vereinigung beider Ländchen am einfachsten
zu lösen gewesen wäre, erregte jahrelang ein endloses Gezänk und Spaltungen
bis in die Familien hinein; die Braunschweiger haben sich noch immer nicht
entschließen können, dem starren Trotz des Hauses Cumberland, das dort niemals
regiert hat, und das seit vierzig Jahren nicht nur völlig außerhalb des Landes,
sondern auch des Reiches steht, rundweg abzusagen und einen Herzog statt
eines Regenten zu wählen, ein Definitionen statt eines Provisoriums zu schaffen;
sie sind vielleicht so naiv, Preußen zuzumuten, sich dieses Provisorium auf
Gott weiß wie lange gefallen zu lassen, und damit alle die Beunruhigung, die
fürstlicher Starrsinn in einer seiner Provinzen lebendig erhält. Erlaubte sich
doch der dortige Landesausschluß, das Deutsche Reich als ein Staatengebilde
zu bezeichnen, das auf den Säulen der Einzelstaaten beruhe, also offenbar
deren Interessen vor allem berücksichtigen müsse, auch vor den Interessen der
Gesamtheit. Sogar die beiden Nationen des Hauses Neuß denken keineswegs
daran, sich beim bevorstehenden Aussterben der ältern Linie in Greiz unter
der jungem von Gera vereinigen zu lassen. Wahrhaftig, wenn es nach dem
Bewußtsein des deutschen Volks gegangen wäre, so wäre die wohltätige Fürsten¬
revolution von 1803 niemals gekommen, sondern wir Hütten noch dieselbe lächerlich¬
unhaltbare Gebietsverteilung und -Zersplitterung wie damals, und wie sie noch
heute in Thüringen besteht, ohne daß dort ein Mensch im Ernst daran ginge,
sie zu ändern oder ihre nachteiligen Folgen zu mildern.

Da sagt man natürlich: Der schlimmste Partikularismus ist der preußische;
wir tun ja gar nichts andres, als was Preußen tut; wir sind ganz gute Deutsche,
wir wollen nur nicht unter preußischem Einflüsse stehn, Preußen nichts zu Ge¬
fallen tun; Braunschweig und Lippe sind gerade so gut ein Staat wie Preußen;^
auf die Quadratkilometer kommt es nicht an. Nun, eine gewisse Bedeutung für
die Geltung eines Staats hat sein Umfang immerhin. Gewiß, es gibt einen
unberechtigten preußischen Partikularismus, es gibt dort einflußreiche Kreise,
die vom übrigen Deutschland nicht viel wissen wollen, die den außerpreußischcn
Deutschen die Wege zu Anstellungen, Prüfungen und dergleichen in Preußen
möglichst verrammeln, die sogar Eisenbahn- und Kanalfragen lediglich vom
Preußischen Standpunkt aus behandeln. Aber es ist der Egoismus eines großen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/11>, abgerufen am 05.07.2024.