Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen aus der Bretagne

ahnten, daß sie den Schlüssel zur Kapelle holen wollten, und schon stoben sie
rechts in die kleine Dorfstraße -- wenn man es so nennen kann -- hinein,
an deren Ende wir die zierliche gotische Kapelle aus dunkelgrauem bröckligen
Stein erblickten. Wir gingen darauf zu, von den Kindern gefolgt, denen sich
aus den schmutzigen Häuschen die Erwachsnen anschlössen. Steine, Hühner,
Baumwurzeln und Günse trugen nicht zur Bequemlichkeit der schmalen Gasse
bei. Nun standen wir vor dem Bau, dem Stolz des Ortes, der sehr verwahr¬
lost aussah. Das Gemäuer klaffte stellenweise weit auseinander. Drinnen
schlug uns kalte Moderluft entgegen. In den hohen bunten Fenstern fehlten
ganze Stücke. Köpfe und sonstige Stücke von steinernen Heiligen lagen umher.
Und nun der Lettner! Es war die kunstvollste Holzschnitzerei aus dem fünf¬
zehnten oder sechzehnten Jahrhundert, aber die Schönheit wurde wesentlich
beeinträchtigt durch die grellbunten Farben, mit denen eine barbarische Hand
im achtzehnten Jahrhundert das Kunstwerk übermalt hatte. Wir hätten so
gern Näheres über das traurige Schicksal des Gebäudes erfahren, aber von
all den Menschen, die sich neugierig an der Tür drängten, verstand keiner
Französisch. Oui und nor>, ig. "leck? und un sou! waren die einzigen Worte,
die sie kannten, namentlich schienen sie das letzte zu lieben. Le Faouet, wo
wir den Wagen warten ließen, ist zivilisierter. Sehr hübsch ist die hölzerne
Markthalle, die an skandinavische Bauten erinnert. In diesem Orte sahen wir
auch noch echte bretonische Stuben mit geschnitzten dunkeln Möbeln und großen
Schrankbetten, die in der Nacht luftdicht verschlossen werden. Über der Haustür
fehlte nirgends der Ani, der glückbringende Mistelbusch. Wir folgten der
Römerstraße, die uns aus dein Ort hinaus in das romantische Tal der Elle
führte. Dieses Flüßchen, das bei Quimperle so lautlos durch die Wiesen fließt,
ist hier noch ein Gebirgsbach, der zwischen Wald- und heidebedeckten Höhen
plätschernd und murmelnd über Steine stürzt. Unser Ziel war die Wallfahrts¬
kapelle Sainte-Barbe dort oben auf dem steilen Felsen. Auf den glatten
Kiefernadeln stieg sichs nicht zu angenehm, aber oben vergaß man das bei
dem herrlichen Buel über die gebirgige Bretagne hin:

So besingt ein Patriot dieses schöne Fleckchen Erde. Neben dem gotischen
Kirchlein, das einst der Seigneur von Toulbouldu der heiligen Barbara stiftete,
als sie ihn in einem schweren Gewitter beschützt hatte, steht nämlich eine viel
ältere Kapelle des heiligen Michael. Als die römischen Kolonisten zum Christen¬
tum übertraten, weihten sie diesem Erzengel alle die hochliegenden Orte längs
der Heerstraße, auf denen sie vorher Merkur, den Gott der Reisenden und der
Diebe, angerufen hatten. Daher die zahlreichen Kirchen Saint-Michel auf Bergen
und Höhen im bretonischen Lande.


Erinnerungen aus der Bretagne

ahnten, daß sie den Schlüssel zur Kapelle holen wollten, und schon stoben sie
rechts in die kleine Dorfstraße — wenn man es so nennen kann — hinein,
an deren Ende wir die zierliche gotische Kapelle aus dunkelgrauem bröckligen
Stein erblickten. Wir gingen darauf zu, von den Kindern gefolgt, denen sich
aus den schmutzigen Häuschen die Erwachsnen anschlössen. Steine, Hühner,
Baumwurzeln und Günse trugen nicht zur Bequemlichkeit der schmalen Gasse
bei. Nun standen wir vor dem Bau, dem Stolz des Ortes, der sehr verwahr¬
lost aussah. Das Gemäuer klaffte stellenweise weit auseinander. Drinnen
schlug uns kalte Moderluft entgegen. In den hohen bunten Fenstern fehlten
ganze Stücke. Köpfe und sonstige Stücke von steinernen Heiligen lagen umher.
Und nun der Lettner! Es war die kunstvollste Holzschnitzerei aus dem fünf¬
zehnten oder sechzehnten Jahrhundert, aber die Schönheit wurde wesentlich
beeinträchtigt durch die grellbunten Farben, mit denen eine barbarische Hand
im achtzehnten Jahrhundert das Kunstwerk übermalt hatte. Wir hätten so
gern Näheres über das traurige Schicksal des Gebäudes erfahren, aber von
all den Menschen, die sich neugierig an der Tür drängten, verstand keiner
Französisch. Oui und nor>, ig. «leck? und un sou! waren die einzigen Worte,
die sie kannten, namentlich schienen sie das letzte zu lieben. Le Faouet, wo
wir den Wagen warten ließen, ist zivilisierter. Sehr hübsch ist die hölzerne
Markthalle, die an skandinavische Bauten erinnert. In diesem Orte sahen wir
auch noch echte bretonische Stuben mit geschnitzten dunkeln Möbeln und großen
Schrankbetten, die in der Nacht luftdicht verschlossen werden. Über der Haustür
fehlte nirgends der Ani, der glückbringende Mistelbusch. Wir folgten der
Römerstraße, die uns aus dein Ort hinaus in das romantische Tal der Elle
führte. Dieses Flüßchen, das bei Quimperle so lautlos durch die Wiesen fließt,
ist hier noch ein Gebirgsbach, der zwischen Wald- und heidebedeckten Höhen
plätschernd und murmelnd über Steine stürzt. Unser Ziel war die Wallfahrts¬
kapelle Sainte-Barbe dort oben auf dem steilen Felsen. Auf den glatten
Kiefernadeln stieg sichs nicht zu angenehm, aber oben vergaß man das bei
dem herrlichen Buel über die gebirgige Bretagne hin:

So besingt ein Patriot dieses schöne Fleckchen Erde. Neben dem gotischen
Kirchlein, das einst der Seigneur von Toulbouldu der heiligen Barbara stiftete,
als sie ihn in einem schweren Gewitter beschützt hatte, steht nämlich eine viel
ältere Kapelle des heiligen Michael. Als die römischen Kolonisten zum Christen¬
tum übertraten, weihten sie diesem Erzengel alle die hochliegenden Orte längs
der Heerstraße, auf denen sie vorher Merkur, den Gott der Reisenden und der
Diebe, angerufen hatten. Daher die zahlreichen Kirchen Saint-Michel auf Bergen
und Höhen im bretonischen Lande.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0722" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301221"/>
          <fw type="header" place="top"> Erinnerungen aus der Bretagne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2911" prev="#ID_2910"> ahnten, daß sie den Schlüssel zur Kapelle holen wollten, und schon stoben sie<lb/>
rechts in die kleine Dorfstraße &#x2014; wenn man es so nennen kann &#x2014; hinein,<lb/>
an deren Ende wir die zierliche gotische Kapelle aus dunkelgrauem bröckligen<lb/>
Stein erblickten. Wir gingen darauf zu, von den Kindern gefolgt, denen sich<lb/>
aus den schmutzigen Häuschen die Erwachsnen anschlössen. Steine, Hühner,<lb/>
Baumwurzeln und Günse trugen nicht zur Bequemlichkeit der schmalen Gasse<lb/>
bei. Nun standen wir vor dem Bau, dem Stolz des Ortes, der sehr verwahr¬<lb/>
lost aussah. Das Gemäuer klaffte stellenweise weit auseinander. Drinnen<lb/>
schlug uns kalte Moderluft entgegen. In den hohen bunten Fenstern fehlten<lb/>
ganze Stücke. Köpfe und sonstige Stücke von steinernen Heiligen lagen umher.<lb/>
Und nun der Lettner! Es war die kunstvollste Holzschnitzerei aus dem fünf¬<lb/>
zehnten oder sechzehnten Jahrhundert, aber die Schönheit wurde wesentlich<lb/>
beeinträchtigt durch die grellbunten Farben, mit denen eine barbarische Hand<lb/>
im achtzehnten Jahrhundert das Kunstwerk übermalt hatte. Wir hätten so<lb/>
gern Näheres über das traurige Schicksal des Gebäudes erfahren, aber von<lb/>
all den Menschen, die sich neugierig an der Tür drängten, verstand keiner<lb/>
Französisch. Oui und nor&gt;, ig. «leck? und un sou! waren die einzigen Worte,<lb/>
die sie kannten, namentlich schienen sie das letzte zu lieben. Le Faouet, wo<lb/>
wir den Wagen warten ließen, ist zivilisierter. Sehr hübsch ist die hölzerne<lb/>
Markthalle, die an skandinavische Bauten erinnert. In diesem Orte sahen wir<lb/>
auch noch echte bretonische Stuben mit geschnitzten dunkeln Möbeln und großen<lb/>
Schrankbetten, die in der Nacht luftdicht verschlossen werden. Über der Haustür<lb/>
fehlte nirgends der Ani, der glückbringende Mistelbusch. Wir folgten der<lb/>
Römerstraße, die uns aus dein Ort hinaus in das romantische Tal der Elle<lb/>
führte. Dieses Flüßchen, das bei Quimperle so lautlos durch die Wiesen fließt,<lb/>
ist hier noch ein Gebirgsbach, der zwischen Wald- und heidebedeckten Höhen<lb/>
plätschernd und murmelnd über Steine stürzt. Unser Ziel war die Wallfahrts¬<lb/>
kapelle Sainte-Barbe dort oben auf dem steilen Felsen. Auf den glatten<lb/>
Kiefernadeln stieg sichs nicht zu angenehm, aber oben vergaß man das bei<lb/>
dem herrlichen Buel über die gebirgige Bretagne hin:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_20" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_2912"> So besingt ein Patriot dieses schöne Fleckchen Erde. Neben dem gotischen<lb/>
Kirchlein, das einst der Seigneur von Toulbouldu der heiligen Barbara stiftete,<lb/>
als sie ihn in einem schweren Gewitter beschützt hatte, steht nämlich eine viel<lb/>
ältere Kapelle des heiligen Michael. Als die römischen Kolonisten zum Christen¬<lb/>
tum übertraten, weihten sie diesem Erzengel alle die hochliegenden Orte längs<lb/>
der Heerstraße, auf denen sie vorher Merkur, den Gott der Reisenden und der<lb/>
Diebe, angerufen hatten. Daher die zahlreichen Kirchen Saint-Michel auf Bergen<lb/>
und Höhen im bretonischen Lande.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0722] Erinnerungen aus der Bretagne ahnten, daß sie den Schlüssel zur Kapelle holen wollten, und schon stoben sie rechts in die kleine Dorfstraße — wenn man es so nennen kann — hinein, an deren Ende wir die zierliche gotische Kapelle aus dunkelgrauem bröckligen Stein erblickten. Wir gingen darauf zu, von den Kindern gefolgt, denen sich aus den schmutzigen Häuschen die Erwachsnen anschlössen. Steine, Hühner, Baumwurzeln und Günse trugen nicht zur Bequemlichkeit der schmalen Gasse bei. Nun standen wir vor dem Bau, dem Stolz des Ortes, der sehr verwahr¬ lost aussah. Das Gemäuer klaffte stellenweise weit auseinander. Drinnen schlug uns kalte Moderluft entgegen. In den hohen bunten Fenstern fehlten ganze Stücke. Köpfe und sonstige Stücke von steinernen Heiligen lagen umher. Und nun der Lettner! Es war die kunstvollste Holzschnitzerei aus dem fünf¬ zehnten oder sechzehnten Jahrhundert, aber die Schönheit wurde wesentlich beeinträchtigt durch die grellbunten Farben, mit denen eine barbarische Hand im achtzehnten Jahrhundert das Kunstwerk übermalt hatte. Wir hätten so gern Näheres über das traurige Schicksal des Gebäudes erfahren, aber von all den Menschen, die sich neugierig an der Tür drängten, verstand keiner Französisch. Oui und nor>, ig. «leck? und un sou! waren die einzigen Worte, die sie kannten, namentlich schienen sie das letzte zu lieben. Le Faouet, wo wir den Wagen warten ließen, ist zivilisierter. Sehr hübsch ist die hölzerne Markthalle, die an skandinavische Bauten erinnert. In diesem Orte sahen wir auch noch echte bretonische Stuben mit geschnitzten dunkeln Möbeln und großen Schrankbetten, die in der Nacht luftdicht verschlossen werden. Über der Haustür fehlte nirgends der Ani, der glückbringende Mistelbusch. Wir folgten der Römerstraße, die uns aus dein Ort hinaus in das romantische Tal der Elle führte. Dieses Flüßchen, das bei Quimperle so lautlos durch die Wiesen fließt, ist hier noch ein Gebirgsbach, der zwischen Wald- und heidebedeckten Höhen plätschernd und murmelnd über Steine stürzt. Unser Ziel war die Wallfahrts¬ kapelle Sainte-Barbe dort oben auf dem steilen Felsen. Auf den glatten Kiefernadeln stieg sichs nicht zu angenehm, aber oben vergaß man das bei dem herrlichen Buel über die gebirgige Bretagne hin: So besingt ein Patriot dieses schöne Fleckchen Erde. Neben dem gotischen Kirchlein, das einst der Seigneur von Toulbouldu der heiligen Barbara stiftete, als sie ihn in einem schweren Gewitter beschützt hatte, steht nämlich eine viel ältere Kapelle des heiligen Michael. Als die römischen Kolonisten zum Christen¬ tum übertraten, weihten sie diesem Erzengel alle die hochliegenden Orte längs der Heerstraße, auf denen sie vorher Merkur, den Gott der Reisenden und der Diebe, angerufen hatten. Daher die zahlreichen Kirchen Saint-Michel auf Bergen und Höhen im bretonischen Lande.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/722
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/722>, abgerufen am 23.07.2024.