Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

die unbestimmten Grenzen noch mancherlei Gelegenheit zur Erwerbung großer,
auch an Mineralschätzen reicher Grenzgebiete. Deshalb tragen an der unbe¬
streitbar unbefriedigender Lage der Dinge an der algerischen Westgrenze die
Marokkaner keineswegs die Hauptschuld, wie man es nach den französischen
Zeitungsmeldungen annehmen müßte.

Zwischen beiden Staaten bestanden friedliche Handelsbeziehungen, vor
allem auch mit Marseille, schon seit Jahrhunderten. Erst mit dem Vordringen
der Türken und dem Wüten der Inquisition in Spanien machte sich während
des sechzehnten Jahrhunderts ein Anwachsen des Fanatismus, der Barbarei
und des Piratenunwesens bemerkbar. Unter den Seeräubern waren aber
Italiener, Spanier und Franzosen mindestens ebenso zahlreich vertreten wie
die Marokkaner, und oft übertrafen die Christen diese an Grausamkeit und
Treulosigkeit.

Unter Ludwig dem Vierzehnten erfolgten verschiedne Gcsandtschaftsreisen,
die eher Theatervorstellungen glichen, da beide Herrscher sich gegenseitig als
"Barbaren" erachteten und jeder glaubte, dem andern mit diesen Entsendungen
eine übergroße Ehrung zu erweisen. Um den stolzen "Sonnenkönig" hierüber
zu täuschen, las man ihm, wie Se. Simon berichtet, gefälschte Übersetzungen
der Briefe des Sultans vor. Immerhin wurde Frankreichs Stellung im
Mittelmeer durch die Freundschaft mit Marokko gefördert, während es diesem
so gelang, sich der Spanier zu entledigen, die damals noch zahlreiche Küsten-
Plätze besetzt hielten. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verfiel der
freundschaftliche Verkehr und Handel, hauptsächlich infolge der Unsolidität der
französischen Kaufleute und Abenteurer, die sich in den Küstenplätzen etabliert
hatten, und durch deren zügelloses Treiben Zwistigkeiten entstanden. Mit der
Eroberung von Algier, 1830, änderte sich die Lage: wenn der erste Angriff
damals auch von Marokko ausging, so haben doch auch viele unabhängig
urteilende Franzosen offen unerkannt, daß Frankreich für das Scherisreich
später immer ein gewalttätiger, treuloser Nachbar gewesen ist, der sein Ver¬
halten durchaus nach dem Grundsatz: 1a toroo xriins Is äroit geregelt hat.
Obgleich die Marokkaner früher oft blutige Kriege mit ihren algerischen Nach¬
barn, besonders dem Snltcmat Tlcmcen, geführt hatten, sahen sie dennoch die
Unterjochung ihrer dortigen Glaubensgenossen nur mit Ingrimm. Der Sultan
Mulei-Abderrhaman wurde, wie es scheint, erst nach langem Widerstreben
durch seine fanatische Umgebung gezwungen, den über die algerische Grenze
geflohenen Abd-el-Kader, den er mehr als Nebenbuhler fürchtete als als
Glaubensstreiter verehrte, Zuflucht und Unterstützung zu gewähren. Nachdem
Marschall Bugecmd ein durch und sür den algerischen Emir aufgebrachtes
marokkanisches Heer unter Sidi Mohammed, dem Sohn des Sultans, am
14. August 1844 bei Jsly geschlagen hatte, Tanger und Mogador von der
französischen Flotte unter dem Prinzen von Joinville bombardiert worden
waren, erfolgte alsbald der Abschluß einer Konvention, die im nächsten Jahre


Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

die unbestimmten Grenzen noch mancherlei Gelegenheit zur Erwerbung großer,
auch an Mineralschätzen reicher Grenzgebiete. Deshalb tragen an der unbe¬
streitbar unbefriedigender Lage der Dinge an der algerischen Westgrenze die
Marokkaner keineswegs die Hauptschuld, wie man es nach den französischen
Zeitungsmeldungen annehmen müßte.

Zwischen beiden Staaten bestanden friedliche Handelsbeziehungen, vor
allem auch mit Marseille, schon seit Jahrhunderten. Erst mit dem Vordringen
der Türken und dem Wüten der Inquisition in Spanien machte sich während
des sechzehnten Jahrhunderts ein Anwachsen des Fanatismus, der Barbarei
und des Piratenunwesens bemerkbar. Unter den Seeräubern waren aber
Italiener, Spanier und Franzosen mindestens ebenso zahlreich vertreten wie
die Marokkaner, und oft übertrafen die Christen diese an Grausamkeit und
Treulosigkeit.

Unter Ludwig dem Vierzehnten erfolgten verschiedne Gcsandtschaftsreisen,
die eher Theatervorstellungen glichen, da beide Herrscher sich gegenseitig als
»Barbaren" erachteten und jeder glaubte, dem andern mit diesen Entsendungen
eine übergroße Ehrung zu erweisen. Um den stolzen „Sonnenkönig" hierüber
zu täuschen, las man ihm, wie Se. Simon berichtet, gefälschte Übersetzungen
der Briefe des Sultans vor. Immerhin wurde Frankreichs Stellung im
Mittelmeer durch die Freundschaft mit Marokko gefördert, während es diesem
so gelang, sich der Spanier zu entledigen, die damals noch zahlreiche Küsten-
Plätze besetzt hielten. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verfiel der
freundschaftliche Verkehr und Handel, hauptsächlich infolge der Unsolidität der
französischen Kaufleute und Abenteurer, die sich in den Küstenplätzen etabliert
hatten, und durch deren zügelloses Treiben Zwistigkeiten entstanden. Mit der
Eroberung von Algier, 1830, änderte sich die Lage: wenn der erste Angriff
damals auch von Marokko ausging, so haben doch auch viele unabhängig
urteilende Franzosen offen unerkannt, daß Frankreich für das Scherisreich
später immer ein gewalttätiger, treuloser Nachbar gewesen ist, der sein Ver¬
halten durchaus nach dem Grundsatz: 1a toroo xriins Is äroit geregelt hat.
Obgleich die Marokkaner früher oft blutige Kriege mit ihren algerischen Nach¬
barn, besonders dem Snltcmat Tlcmcen, geführt hatten, sahen sie dennoch die
Unterjochung ihrer dortigen Glaubensgenossen nur mit Ingrimm. Der Sultan
Mulei-Abderrhaman wurde, wie es scheint, erst nach langem Widerstreben
durch seine fanatische Umgebung gezwungen, den über die algerische Grenze
geflohenen Abd-el-Kader, den er mehr als Nebenbuhler fürchtete als als
Glaubensstreiter verehrte, Zuflucht und Unterstützung zu gewähren. Nachdem
Marschall Bugecmd ein durch und sür den algerischen Emir aufgebrachtes
marokkanisches Heer unter Sidi Mohammed, dem Sohn des Sultans, am
14. August 1844 bei Jsly geschlagen hatte, Tanger und Mogador von der
französischen Flotte unter dem Prinzen von Joinville bombardiert worden
waren, erfolgte alsbald der Abschluß einer Konvention, die im nächsten Jahre


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0637" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301136"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2606" prev="#ID_2605"> die unbestimmten Grenzen noch mancherlei Gelegenheit zur Erwerbung großer,<lb/>
auch an Mineralschätzen reicher Grenzgebiete. Deshalb tragen an der unbe¬<lb/>
streitbar unbefriedigender Lage der Dinge an der algerischen Westgrenze die<lb/>
Marokkaner keineswegs die Hauptschuld, wie man es nach den französischen<lb/>
Zeitungsmeldungen annehmen müßte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2607"> Zwischen beiden Staaten bestanden friedliche Handelsbeziehungen, vor<lb/>
allem auch mit Marseille, schon seit Jahrhunderten. Erst mit dem Vordringen<lb/>
der Türken und dem Wüten der Inquisition in Spanien machte sich während<lb/>
des sechzehnten Jahrhunderts ein Anwachsen des Fanatismus, der Barbarei<lb/>
und des Piratenunwesens bemerkbar. Unter den Seeräubern waren aber<lb/>
Italiener, Spanier und Franzosen mindestens ebenso zahlreich vertreten wie<lb/>
die Marokkaner, und oft übertrafen die Christen diese an Grausamkeit und<lb/>
Treulosigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2608" next="#ID_2609"> Unter Ludwig dem Vierzehnten erfolgten verschiedne Gcsandtschaftsreisen,<lb/>
die eher Theatervorstellungen glichen, da beide Herrscher sich gegenseitig als<lb/>
»Barbaren" erachteten und jeder glaubte, dem andern mit diesen Entsendungen<lb/>
eine übergroße Ehrung zu erweisen. Um den stolzen &#x201E;Sonnenkönig" hierüber<lb/>
zu täuschen, las man ihm, wie Se. Simon berichtet, gefälschte Übersetzungen<lb/>
der Briefe des Sultans vor. Immerhin wurde Frankreichs Stellung im<lb/>
Mittelmeer durch die Freundschaft mit Marokko gefördert, während es diesem<lb/>
so gelang, sich der Spanier zu entledigen, die damals noch zahlreiche Küsten-<lb/>
Plätze besetzt hielten. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verfiel der<lb/>
freundschaftliche Verkehr und Handel, hauptsächlich infolge der Unsolidität der<lb/>
französischen Kaufleute und Abenteurer, die sich in den Küstenplätzen etabliert<lb/>
hatten, und durch deren zügelloses Treiben Zwistigkeiten entstanden. Mit der<lb/>
Eroberung von Algier, 1830, änderte sich die Lage: wenn der erste Angriff<lb/>
damals auch von Marokko ausging, so haben doch auch viele unabhängig<lb/>
urteilende Franzosen offen unerkannt, daß Frankreich für das Scherisreich<lb/>
später immer ein gewalttätiger, treuloser Nachbar gewesen ist, der sein Ver¬<lb/>
halten durchaus nach dem Grundsatz: 1a toroo xriins Is äroit geregelt hat.<lb/>
Obgleich die Marokkaner früher oft blutige Kriege mit ihren algerischen Nach¬<lb/>
barn, besonders dem Snltcmat Tlcmcen, geführt hatten, sahen sie dennoch die<lb/>
Unterjochung ihrer dortigen Glaubensgenossen nur mit Ingrimm. Der Sultan<lb/>
Mulei-Abderrhaman wurde, wie es scheint, erst nach langem Widerstreben<lb/>
durch seine fanatische Umgebung gezwungen, den über die algerische Grenze<lb/>
geflohenen Abd-el-Kader, den er mehr als Nebenbuhler fürchtete als als<lb/>
Glaubensstreiter verehrte, Zuflucht und Unterstützung zu gewähren. Nachdem<lb/>
Marschall Bugecmd ein durch und sür den algerischen Emir aufgebrachtes<lb/>
marokkanisches Heer unter Sidi Mohammed, dem Sohn des Sultans, am<lb/>
14. August 1844 bei Jsly geschlagen hatte, Tanger und Mogador von der<lb/>
französischen Flotte unter dem Prinzen von Joinville bombardiert worden<lb/>
waren, erfolgte alsbald der Abschluß einer Konvention, die im nächsten Jahre</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0637] Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze die unbestimmten Grenzen noch mancherlei Gelegenheit zur Erwerbung großer, auch an Mineralschätzen reicher Grenzgebiete. Deshalb tragen an der unbe¬ streitbar unbefriedigender Lage der Dinge an der algerischen Westgrenze die Marokkaner keineswegs die Hauptschuld, wie man es nach den französischen Zeitungsmeldungen annehmen müßte. Zwischen beiden Staaten bestanden friedliche Handelsbeziehungen, vor allem auch mit Marseille, schon seit Jahrhunderten. Erst mit dem Vordringen der Türken und dem Wüten der Inquisition in Spanien machte sich während des sechzehnten Jahrhunderts ein Anwachsen des Fanatismus, der Barbarei und des Piratenunwesens bemerkbar. Unter den Seeräubern waren aber Italiener, Spanier und Franzosen mindestens ebenso zahlreich vertreten wie die Marokkaner, und oft übertrafen die Christen diese an Grausamkeit und Treulosigkeit. Unter Ludwig dem Vierzehnten erfolgten verschiedne Gcsandtschaftsreisen, die eher Theatervorstellungen glichen, da beide Herrscher sich gegenseitig als »Barbaren" erachteten und jeder glaubte, dem andern mit diesen Entsendungen eine übergroße Ehrung zu erweisen. Um den stolzen „Sonnenkönig" hierüber zu täuschen, las man ihm, wie Se. Simon berichtet, gefälschte Übersetzungen der Briefe des Sultans vor. Immerhin wurde Frankreichs Stellung im Mittelmeer durch die Freundschaft mit Marokko gefördert, während es diesem so gelang, sich der Spanier zu entledigen, die damals noch zahlreiche Küsten- Plätze besetzt hielten. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verfiel der freundschaftliche Verkehr und Handel, hauptsächlich infolge der Unsolidität der französischen Kaufleute und Abenteurer, die sich in den Küstenplätzen etabliert hatten, und durch deren zügelloses Treiben Zwistigkeiten entstanden. Mit der Eroberung von Algier, 1830, änderte sich die Lage: wenn der erste Angriff damals auch von Marokko ausging, so haben doch auch viele unabhängig urteilende Franzosen offen unerkannt, daß Frankreich für das Scherisreich später immer ein gewalttätiger, treuloser Nachbar gewesen ist, der sein Ver¬ halten durchaus nach dem Grundsatz: 1a toroo xriins Is äroit geregelt hat. Obgleich die Marokkaner früher oft blutige Kriege mit ihren algerischen Nach¬ barn, besonders dem Snltcmat Tlcmcen, geführt hatten, sahen sie dennoch die Unterjochung ihrer dortigen Glaubensgenossen nur mit Ingrimm. Der Sultan Mulei-Abderrhaman wurde, wie es scheint, erst nach langem Widerstreben durch seine fanatische Umgebung gezwungen, den über die algerische Grenze geflohenen Abd-el-Kader, den er mehr als Nebenbuhler fürchtete als als Glaubensstreiter verehrte, Zuflucht und Unterstützung zu gewähren. Nachdem Marschall Bugecmd ein durch und sür den algerischen Emir aufgebrachtes marokkanisches Heer unter Sidi Mohammed, dem Sohn des Sultans, am 14. August 1844 bei Jsly geschlagen hatte, Tanger und Mogador von der französischen Flotte unter dem Prinzen von Joinville bombardiert worden waren, erfolgte alsbald der Abschluß einer Konvention, die im nächsten Jahre

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/637
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/637>, abgerufen am 23.07.2024.