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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

gierige Begehrlichkeit unter allerlei "historischen Rechten" oder den "Forderungen
der Kultur" verstecken zu müssen. Obschon bei dem marokkanischen Reorgani¬
sationswerke Frankreich und Spanien eine vorherrschende Stellung eingeräumt
wurde, zunächst in der wichtigen Polizeifrage, konnte ein solches Zugeständnis
doch gewisse Pariser Geschäftspolitiker und Kolonialspekulanten nur wenig be¬
friedigen, die seit Jahrzehnten bei allen feierlichen Gelegenheiten immer des
Beifalls ihrer Zuhörer sicher waren, wenn sie im Brustton der Überzeugung
von der hohen Kulturmission Frankreichs in Marokko sprachen und weiter
ausführten, daß der Besitz Algeriens der Republik hierzu Rechte gäbe und
Pflichten vor allen andern Staaten auferlege; daß die Sicherheit des französischen
Nordafrikas durchaus die Errichtung einer französischen Schutzherrschaft über
das Scherifreich fordre, denn von Tripolis bis zum Ozean und zum Niger
könne und dürfe Frankreich keiner andern Macht Einfluß gestatten. Mit dem
Besitz der Hälfte des Maghrib-el-aska (des arabischen ?ar "Wsst) forderte und
begründete man so ein Anrecht auf ein seit ältesten Zeiten immer unab¬
hängiges Land nur deshalb, weil es der Grenznachbar von Algerien ist. Zur
Beruhigung der französischen Steuerzahler erfand man die pövstrgUor,, xavi-
üous, obgleich in Wahrheit Frankreich weniger als jede andre christliche Gro߬
macht in der Lage wäre, eine solche "Kulturmission" auf friedlichem Wege
durchzuführen, da die fanatisch freiheitliebende Bevölkerung Marokkos in
Spanien und Frankreich recht wohl die eigentlichen Bedroher ihrer natio¬
nalen Selbständigkeit erkannte. Auch kann man den Marokkanern gewiß nicht
ganz Unrecht geben, wenn sie in jedem europäischen, besonders französischen
Reisenden einen Spion und Vorläufer der Eroberungskolonnen zu sehen
glaubten!

Offiziös wird hervorgehoben, daß die Frage der Sicherheit der süd-
orcmischen Grenze außerhalb des Programms der Arbeiten der Konferenz von
Algeciras geblieben ist. Frankreich hat sich dort seine volle Aktionsfreiheit
bewahrt. Während nun die offiziellen Berichte im allgemeinen beruhigend
lauten und eine friedliche Ordnung der verworrenen Verhältnisse erhoffen
lassen, kommen aus diesen mißvergnügten französischen Kolonial- und Speku-
lantenkreiseu neuerdings zahlreiche alarmierende Nachrichten über die Zustände
in jenen Grenzgebieten, marokkanische Rüstungen zum "heiligen Kriege" und
bald zu erwartende militärische Gegenmaßregeln der Franzosen. Freilich er¬
klärt man, solche vermeiden zu wollen, "solange es die nationale Würde
und die Wahrung der legitimen Interessen und historischen Rechte irgend er¬
lauben". Wer kennt nicht den Wert solcher Phrasen und, sobald die offizielle
Diplomatie sie aufnimmt, ihre unausbleiblichen Folgen? Hat man die Unab¬
hängigkeit des Gesamtreiches, im besondern des Vled-el-Maghzen, d. h. des
der Regierung des Scherifs direkt unterworfnen Gebiets anerkennen müssen,
so bieten doch, nach Ansicht jener französischen Kolonialpolitiker, Bled-es-Sida,
das Jnsnrrektionsgebiet der fast ganz unabhängigen Stämme, die Oasen und


Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

gierige Begehrlichkeit unter allerlei „historischen Rechten" oder den „Forderungen
der Kultur" verstecken zu müssen. Obschon bei dem marokkanischen Reorgani¬
sationswerke Frankreich und Spanien eine vorherrschende Stellung eingeräumt
wurde, zunächst in der wichtigen Polizeifrage, konnte ein solches Zugeständnis
doch gewisse Pariser Geschäftspolitiker und Kolonialspekulanten nur wenig be¬
friedigen, die seit Jahrzehnten bei allen feierlichen Gelegenheiten immer des
Beifalls ihrer Zuhörer sicher waren, wenn sie im Brustton der Überzeugung
von der hohen Kulturmission Frankreichs in Marokko sprachen und weiter
ausführten, daß der Besitz Algeriens der Republik hierzu Rechte gäbe und
Pflichten vor allen andern Staaten auferlege; daß die Sicherheit des französischen
Nordafrikas durchaus die Errichtung einer französischen Schutzherrschaft über
das Scherifreich fordre, denn von Tripolis bis zum Ozean und zum Niger
könne und dürfe Frankreich keiner andern Macht Einfluß gestatten. Mit dem
Besitz der Hälfte des Maghrib-el-aska (des arabischen ?ar "Wsst) forderte und
begründete man so ein Anrecht auf ein seit ältesten Zeiten immer unab¬
hängiges Land nur deshalb, weil es der Grenznachbar von Algerien ist. Zur
Beruhigung der französischen Steuerzahler erfand man die pövstrgUor,, xavi-
üous, obgleich in Wahrheit Frankreich weniger als jede andre christliche Gro߬
macht in der Lage wäre, eine solche „Kulturmission" auf friedlichem Wege
durchzuführen, da die fanatisch freiheitliebende Bevölkerung Marokkos in
Spanien und Frankreich recht wohl die eigentlichen Bedroher ihrer natio¬
nalen Selbständigkeit erkannte. Auch kann man den Marokkanern gewiß nicht
ganz Unrecht geben, wenn sie in jedem europäischen, besonders französischen
Reisenden einen Spion und Vorläufer der Eroberungskolonnen zu sehen
glaubten!

Offiziös wird hervorgehoben, daß die Frage der Sicherheit der süd-
orcmischen Grenze außerhalb des Programms der Arbeiten der Konferenz von
Algeciras geblieben ist. Frankreich hat sich dort seine volle Aktionsfreiheit
bewahrt. Während nun die offiziellen Berichte im allgemeinen beruhigend
lauten und eine friedliche Ordnung der verworrenen Verhältnisse erhoffen
lassen, kommen aus diesen mißvergnügten französischen Kolonial- und Speku-
lantenkreiseu neuerdings zahlreiche alarmierende Nachrichten über die Zustände
in jenen Grenzgebieten, marokkanische Rüstungen zum „heiligen Kriege" und
bald zu erwartende militärische Gegenmaßregeln der Franzosen. Freilich er¬
klärt man, solche vermeiden zu wollen, „solange es die nationale Würde
und die Wahrung der legitimen Interessen und historischen Rechte irgend er¬
lauben". Wer kennt nicht den Wert solcher Phrasen und, sobald die offizielle
Diplomatie sie aufnimmt, ihre unausbleiblichen Folgen? Hat man die Unab¬
hängigkeit des Gesamtreiches, im besondern des Vled-el-Maghzen, d. h. des
der Regierung des Scherifs direkt unterworfnen Gebiets anerkennen müssen,
so bieten doch, nach Ansicht jener französischen Kolonialpolitiker, Bled-es-Sida,
das Jnsnrrektionsgebiet der fast ganz unabhängigen Stämme, die Oasen und


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[0636] Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze gierige Begehrlichkeit unter allerlei „historischen Rechten" oder den „Forderungen der Kultur" verstecken zu müssen. Obschon bei dem marokkanischen Reorgani¬ sationswerke Frankreich und Spanien eine vorherrschende Stellung eingeräumt wurde, zunächst in der wichtigen Polizeifrage, konnte ein solches Zugeständnis doch gewisse Pariser Geschäftspolitiker und Kolonialspekulanten nur wenig be¬ friedigen, die seit Jahrzehnten bei allen feierlichen Gelegenheiten immer des Beifalls ihrer Zuhörer sicher waren, wenn sie im Brustton der Überzeugung von der hohen Kulturmission Frankreichs in Marokko sprachen und weiter ausführten, daß der Besitz Algeriens der Republik hierzu Rechte gäbe und Pflichten vor allen andern Staaten auferlege; daß die Sicherheit des französischen Nordafrikas durchaus die Errichtung einer französischen Schutzherrschaft über das Scherifreich fordre, denn von Tripolis bis zum Ozean und zum Niger könne und dürfe Frankreich keiner andern Macht Einfluß gestatten. Mit dem Besitz der Hälfte des Maghrib-el-aska (des arabischen ?ar "Wsst) forderte und begründete man so ein Anrecht auf ein seit ältesten Zeiten immer unab¬ hängiges Land nur deshalb, weil es der Grenznachbar von Algerien ist. Zur Beruhigung der französischen Steuerzahler erfand man die pövstrgUor,, xavi- üous, obgleich in Wahrheit Frankreich weniger als jede andre christliche Gro߬ macht in der Lage wäre, eine solche „Kulturmission" auf friedlichem Wege durchzuführen, da die fanatisch freiheitliebende Bevölkerung Marokkos in Spanien und Frankreich recht wohl die eigentlichen Bedroher ihrer natio¬ nalen Selbständigkeit erkannte. Auch kann man den Marokkanern gewiß nicht ganz Unrecht geben, wenn sie in jedem europäischen, besonders französischen Reisenden einen Spion und Vorläufer der Eroberungskolonnen zu sehen glaubten! Offiziös wird hervorgehoben, daß die Frage der Sicherheit der süd- orcmischen Grenze außerhalb des Programms der Arbeiten der Konferenz von Algeciras geblieben ist. Frankreich hat sich dort seine volle Aktionsfreiheit bewahrt. Während nun die offiziellen Berichte im allgemeinen beruhigend lauten und eine friedliche Ordnung der verworrenen Verhältnisse erhoffen lassen, kommen aus diesen mißvergnügten französischen Kolonial- und Speku- lantenkreiseu neuerdings zahlreiche alarmierende Nachrichten über die Zustände in jenen Grenzgebieten, marokkanische Rüstungen zum „heiligen Kriege" und bald zu erwartende militärische Gegenmaßregeln der Franzosen. Freilich er¬ klärt man, solche vermeiden zu wollen, „solange es die nationale Würde und die Wahrung der legitimen Interessen und historischen Rechte irgend er¬ lauben". Wer kennt nicht den Wert solcher Phrasen und, sobald die offizielle Diplomatie sie aufnimmt, ihre unausbleiblichen Folgen? Hat man die Unab¬ hängigkeit des Gesamtreiches, im besondern des Vled-el-Maghzen, d. h. des der Regierung des Scherifs direkt unterworfnen Gebiets anerkennen müssen, so bieten doch, nach Ansicht jener französischen Kolonialpolitiker, Bled-es-Sida, das Jnsnrrektionsgebiet der fast ganz unabhängigen Stämme, die Oasen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/636>, abgerufen am 25.08.2024.