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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

müßte man an einen denken, dessen Blut schon stark mit deutschem gemischt
gewesen wäre.

Das Opfer seines Seziermessers verhöhnen, das hat übrigens auch Seilliere
nicht gewollt. Er erkennt die glänzende Begabung Nietzsches an. räumt ein,
daß mit den Wahnideen Gedankenblitze wechseln, die tiefe Wahrheiten beleuchten,
und rühmt seinen Charakter. Besonders hebt er hervor, daß alle Exzesse Nietzsches
nur Gedankenexzesse gewesen sind, und daß er im Leben bis an sein Ende
der wahrhaft vornehme, gesittete, sich selbst in strenger Zucht haltende Mensch
geblieben ist, der er schon als Knabe und Jüngling war. Auch den Ausdruck
Sadismus will Seilliere nur intellektuell verstanden wissen, als eine Theorie
der durch Peinigungen zu erzeugenden Lust, nicht im ursprünglichen Sinne des
Wortes, der eine Art perverser Erotik bezeichnet; von Erotik finde sich bei
Nietzsche keine Spur. Über Nietzsches Stil, insbesondre über den Wert der
Form des Zarathustra, will sich Seilliere ein Urteil abzugeben nicht erkühnen.
"Wir wissen, weil wir es bei der Lektüre gewisser deutscher Würdigungen
französischer Schriftwerke erfahren konnten, wie schwierig es für einen Ausländer
ist, den technischen Wert eines poetischen Werkes richtig abzuschätzen. Höchstens
erlauben wir uns zu behaupten, daß Deutschland die Lobsprüche, die sich Nietzsche
selbst spendet, zweifellos nicht gut heißen wird, wie die in dem erstaunlichen
Briefe an Rohde, wo er sagt: Ich bilde mir ein. mit diesem Zarathustra die
deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther
und Goethe, noch ein dritter Schritt zu tun usw."

Einige schätzenswerte Beitrüge zur Charakteristik Nietzsches liefert die (bei
Schuster und Loeffler, Berlin und Leipzig, 1905) erschienene zweite Hälfte des
dritten Bandes von Friedrich Nietzsches gesammelten Briefen. Sie ent¬
hält den Briefwechsel mit Hans von Bülow, Hugo von Senger und Malwida
von Meysenbug. Wir erfahren daraus aufs neue, daß sein Leben abwechselnd
das eines Märtyrers und das eines Asketen gewesen ist, u. a., daß er von
feinen 3000 Franken Pension noch genug erübrigte, um die Druckkosten
seiner Bücher, die niemand kaufte, bezahlen zu können. Ein Brief von Bülow
ist so interessant, daß wir den Anfang und den Schluß abschreiben müssen.

München. 24. Juli 1872.


Hochverehrter Herr Professor!

Ihre gütige Mitteilung und Sendung hat mich in eine Verlegenheit gesetzt,
deren Unbehaglichkeit ich selten in derartigen Fällen so lebhaft empfunden habe.
Ich frage mich, soll ich schweigen, oder eine zivilisierte Banalität zur Erwiderung
geben, oder frei mit der Sprache herausrücken? Zu letzterm gehört ein bis zur
Verwegenheit gesteigerter Mut: um ihn zu fassen, muß ich vorausschicken, erstlich,
daß ich hoffe, Sie seien von der Verehrung, die ich Ihnen als genialschöpferischem
Vertreter der Wissenschaft zolle, sest überzeugt -- ferner muß ich mich auf zwei
Privilegien stützen, zu denen ich begreiflicherweise höchst ungern rekurriere; das eine,
überdies trauriger Natur: die zwei oder drei Lustren, die ich mehr zähle als Sie;
das andre: meine Profession als Musiker. Als letzterer bin ich gewohnt, gleich


Apollo und Dionysos

müßte man an einen denken, dessen Blut schon stark mit deutschem gemischt
gewesen wäre.

Das Opfer seines Seziermessers verhöhnen, das hat übrigens auch Seilliere
nicht gewollt. Er erkennt die glänzende Begabung Nietzsches an. räumt ein,
daß mit den Wahnideen Gedankenblitze wechseln, die tiefe Wahrheiten beleuchten,
und rühmt seinen Charakter. Besonders hebt er hervor, daß alle Exzesse Nietzsches
nur Gedankenexzesse gewesen sind, und daß er im Leben bis an sein Ende
der wahrhaft vornehme, gesittete, sich selbst in strenger Zucht haltende Mensch
geblieben ist, der er schon als Knabe und Jüngling war. Auch den Ausdruck
Sadismus will Seilliere nur intellektuell verstanden wissen, als eine Theorie
der durch Peinigungen zu erzeugenden Lust, nicht im ursprünglichen Sinne des
Wortes, der eine Art perverser Erotik bezeichnet; von Erotik finde sich bei
Nietzsche keine Spur. Über Nietzsches Stil, insbesondre über den Wert der
Form des Zarathustra, will sich Seilliere ein Urteil abzugeben nicht erkühnen.
„Wir wissen, weil wir es bei der Lektüre gewisser deutscher Würdigungen
französischer Schriftwerke erfahren konnten, wie schwierig es für einen Ausländer
ist, den technischen Wert eines poetischen Werkes richtig abzuschätzen. Höchstens
erlauben wir uns zu behaupten, daß Deutschland die Lobsprüche, die sich Nietzsche
selbst spendet, zweifellos nicht gut heißen wird, wie die in dem erstaunlichen
Briefe an Rohde, wo er sagt: Ich bilde mir ein. mit diesem Zarathustra die
deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther
und Goethe, noch ein dritter Schritt zu tun usw."

Einige schätzenswerte Beitrüge zur Charakteristik Nietzsches liefert die (bei
Schuster und Loeffler, Berlin und Leipzig, 1905) erschienene zweite Hälfte des
dritten Bandes von Friedrich Nietzsches gesammelten Briefen. Sie ent¬
hält den Briefwechsel mit Hans von Bülow, Hugo von Senger und Malwida
von Meysenbug. Wir erfahren daraus aufs neue, daß sein Leben abwechselnd
das eines Märtyrers und das eines Asketen gewesen ist, u. a., daß er von
feinen 3000 Franken Pension noch genug erübrigte, um die Druckkosten
seiner Bücher, die niemand kaufte, bezahlen zu können. Ein Brief von Bülow
ist so interessant, daß wir den Anfang und den Schluß abschreiben müssen.

München. 24. Juli 1872.


Hochverehrter Herr Professor!

Ihre gütige Mitteilung und Sendung hat mich in eine Verlegenheit gesetzt,
deren Unbehaglichkeit ich selten in derartigen Fällen so lebhaft empfunden habe.
Ich frage mich, soll ich schweigen, oder eine zivilisierte Banalität zur Erwiderung
geben, oder frei mit der Sprache herausrücken? Zu letzterm gehört ein bis zur
Verwegenheit gesteigerter Mut: um ihn zu fassen, muß ich vorausschicken, erstlich,
daß ich hoffe, Sie seien von der Verehrung, die ich Ihnen als genialschöpferischem
Vertreter der Wissenschaft zolle, sest überzeugt — ferner muß ich mich auf zwei
Privilegien stützen, zu denen ich begreiflicherweise höchst ungern rekurriere; das eine,
überdies trauriger Natur: die zwei oder drei Lustren, die ich mehr zähle als Sie;
das andre: meine Profession als Musiker. Als letzterer bin ich gewohnt, gleich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/43>, abgerufen am 25.08.2024.