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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

niemals -- ahnte sie doch den Grund und fürchtete das Ende. Nun sagt ihr
die innere Stimme, was geschehen ist. Sie entdeckt das Bild, und ihr Mann
muß ihr den schmählichen Pakt eingestehn. Da macht sie sich selbst bei Nacht
und Nebel nach ihrer Heimat, nach Krems auf, und da ein Verwandter ihr
die schuldige Summe nicht zahlt, die ihres Mannes Verlegenheit abhelfen würde,
geht sie zu den Jesuiten. Sie verklagt zugleich Jesse. dessen Verführung rings
um sie her sie mit Grauen erfüllt. Die Folge ist die Entsendung einer Religions¬
kommission nach Pechlarn. Vor ihr muß sich Jesse verantworten, und in seiner
Leidenschaftlichkeit führt er einen strengen Spruch über sich heraus -- er soll
Ms Gefängnis gebracht werden. Da greift er zur Pistole und schießt auf
den Vorsitzenden Abt. Das besiegelt sein Geschick, ein weltliches Gericht ver¬
urteilt ihn zum Tode, und der Kaiser gibt seine Bestätigung. Nun aber kommt
es über Maria mit furchtbarer Gewalt. Sie, die aus heiligem Zorn über die Ver¬
führung des Mannes und ihrer Glaubensgenossen gehandelt zu haben glaubt, und
der man dafür Ruhm und Ehre zollte, findet sich jetzt schuldig an der Verderbung
des Ritters, seines jungen Weibes und des erwarteten Kindes. Und wieder
folgt sie der innern Stimme, und wieder geht sie vor Tau und Tage aus, um
Jesse im Gefängnis vor der Hinrichtung aufzusuchen und seine Seele zur Buße,
Zur Umkehr zu retten. Er weist sie höhnisch ab. Sie sieht, daß er nur auf
eine Botschaft harrt, auf Nachricht von seiner Frau und ihrer Schmerzens-
stunde. Da macht sie den dritten Weg, und hart vor dem Tode bringt sie
ihm die Botschaft, daß ihm ein Sohn geboren sei, dem sie als erste Erbarmen"
die Brust gereicht hat. Das gibt ihm Mut und Kraft. In Gott gefaßt,
schreitet der einst so Ungebärdige zum Schafott, und Segen spricht er zuletzt
"ber sie, die doch das an der Richtstätte verkehre Urteil als seine Denunziantin
preist. Während sein Haupt fällt, liegt Maria in qualvollen Gebet um sein
Leben vor dem Altar der schmerzenreichen Mutter Maria.

Was Enrica von Handel-Mazzetti aus diesem hier kurz umrissenen Stoff
gemacht hat, stellt sie in die erste Reihe unsrer Schriftstellerinnen. Mit über¬
zeugender Gewalt ist alles dargestellt, ohne historischen Kleinkram wird ein Bild
der Zeit gegeben, und die tiefe Leidenschaft beider Naturen tritt in wirklicher
Charakteristik ans volle Licht. Dabei umwogt diese zwei eine Fülle andrer
Gestalten, jede echt und treu, und mit der höchsten Unparteilichkeit des Dichters
sind hier die religiösen Probleme behandelt, nicht lau und flau, nicht mit irgend¬
einer vorgefaßten Tendenz, sondern aus den Tiefen eines Herzens, das sich zu
der einen Seite bekennt, ohne das Recht der andern zu verkennen. Enrica von
Handel-Mazzetti ist Katholikin, unter den Schriftstellerinnen der deutschen Gegen¬
wart die erste, die bewußt als Katholikin auf den Plan tritt. Sie wird fortan
mit an der Spitze stehn, und wenn dem Kritiker denn einmal erlaubt sem darf,
schlechthin begeistert zu sein, so darf er wohl dieser Dichterin ein freudiges
Willkommen zurufen und ihr und uns wünschen, daß reiche Ernte dieser Frucht
folgen möge.


Neue Romane und Novellen

niemals — ahnte sie doch den Grund und fürchtete das Ende. Nun sagt ihr
die innere Stimme, was geschehen ist. Sie entdeckt das Bild, und ihr Mann
muß ihr den schmählichen Pakt eingestehn. Da macht sie sich selbst bei Nacht
und Nebel nach ihrer Heimat, nach Krems auf, und da ein Verwandter ihr
die schuldige Summe nicht zahlt, die ihres Mannes Verlegenheit abhelfen würde,
geht sie zu den Jesuiten. Sie verklagt zugleich Jesse. dessen Verführung rings
um sie her sie mit Grauen erfüllt. Die Folge ist die Entsendung einer Religions¬
kommission nach Pechlarn. Vor ihr muß sich Jesse verantworten, und in seiner
Leidenschaftlichkeit führt er einen strengen Spruch über sich heraus — er soll
Ms Gefängnis gebracht werden. Da greift er zur Pistole und schießt auf
den Vorsitzenden Abt. Das besiegelt sein Geschick, ein weltliches Gericht ver¬
urteilt ihn zum Tode, und der Kaiser gibt seine Bestätigung. Nun aber kommt
es über Maria mit furchtbarer Gewalt. Sie, die aus heiligem Zorn über die Ver¬
führung des Mannes und ihrer Glaubensgenossen gehandelt zu haben glaubt, und
der man dafür Ruhm und Ehre zollte, findet sich jetzt schuldig an der Verderbung
des Ritters, seines jungen Weibes und des erwarteten Kindes. Und wieder
folgt sie der innern Stimme, und wieder geht sie vor Tau und Tage aus, um
Jesse im Gefängnis vor der Hinrichtung aufzusuchen und seine Seele zur Buße,
Zur Umkehr zu retten. Er weist sie höhnisch ab. Sie sieht, daß er nur auf
eine Botschaft harrt, auf Nachricht von seiner Frau und ihrer Schmerzens-
stunde. Da macht sie den dritten Weg, und hart vor dem Tode bringt sie
ihm die Botschaft, daß ihm ein Sohn geboren sei, dem sie als erste Erbarmen«
die Brust gereicht hat. Das gibt ihm Mut und Kraft. In Gott gefaßt,
schreitet der einst so Ungebärdige zum Schafott, und Segen spricht er zuletzt
"ber sie, die doch das an der Richtstätte verkehre Urteil als seine Denunziantin
preist. Während sein Haupt fällt, liegt Maria in qualvollen Gebet um sein
Leben vor dem Altar der schmerzenreichen Mutter Maria.

Was Enrica von Handel-Mazzetti aus diesem hier kurz umrissenen Stoff
gemacht hat, stellt sie in die erste Reihe unsrer Schriftstellerinnen. Mit über¬
zeugender Gewalt ist alles dargestellt, ohne historischen Kleinkram wird ein Bild
der Zeit gegeben, und die tiefe Leidenschaft beider Naturen tritt in wirklicher
Charakteristik ans volle Licht. Dabei umwogt diese zwei eine Fülle andrer
Gestalten, jede echt und treu, und mit der höchsten Unparteilichkeit des Dichters
sind hier die religiösen Probleme behandelt, nicht lau und flau, nicht mit irgend¬
einer vorgefaßten Tendenz, sondern aus den Tiefen eines Herzens, das sich zu
der einen Seite bekennt, ohne das Recht der andern zu verkennen. Enrica von
Handel-Mazzetti ist Katholikin, unter den Schriftstellerinnen der deutschen Gegen¬
wart die erste, die bewußt als Katholikin auf den Plan tritt. Sie wird fortan
mit an der Spitze stehn, und wenn dem Kritiker denn einmal erlaubt sem darf,
schlechthin begeistert zu sein, so darf er wohl dieser Dichterin ein freudiges
Willkommen zurufen und ihr und uns wünschen, daß reiche Ernte dieser Frucht
folgen möge.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/419>, abgerufen am 23.07.2024.