Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hartmann über das Leben

den Kreis seiner Erfahrungen durchlaufen; ihm ist alles schon bekannt, und
das Bekannte erweckt geringeres Interesse. Das alte Bewußtsein vollzieht
gleichsam mechanisch immer wieder die längst gewohnten Verrichtungen, findet
die Welt immer interesseloser und langweiliger und wird immer abgestumpfter;
dem jungen Bewußtsein dagegen sind alle Reize neu. alle Eindrücke frisch, alle
Lebenserfahrungen interessant. Der Ersatz erfahrungsreicher Bewußtseiue durch
erfahrungsarme, satter durch hungrige, gelangweilter durch interessierte, ent¬
täuschter durch illusionsfühige, das ist in der Tat ein wichtiger Naturzweck.
Die Natur arbeitet nicht nur mit Stoffwechsel im Organismus, sondern auch
mit Vewußtseinswechsel im Organismenreiche." Damit dieser für die höchste
Organisationsstufe sichergestellt'werde, dürfe er nicht ausschließlich von den
Zufällen abhängig gemacht werden, die einen gewaltsamen Tod herbeiführen,
und es mußte darum auf den niedern Stufen die Disposition zum Alterstodc
geschaffen werden, die sich dann auf die Individuen der höchsten Stufe vererbt
hat. "Im Einzelfall mag man aufs tiefste bedauern, daß ein reiches Wissen
und Können dnrch Altersschwäche und Tod ihres Trägers den Mitlebenden
geraubt wird; aber die Natur trifft ihre typischen Einrichtungen als allgemein
giltige, und da muß man zugestehn. daß der Wechsel der Generationen für die
Entwicklung unentbehrlich ist." Auch der genialste Kopf bleibe mit seiner
Anpassungsfähigkeit hinter den Ansprüche" der Zeit zurück, weck er zu fest
in deu Eindrücken seiner Jugend wurzele, und überlebe em Mann zwei.
drei Generationen, dann sei er ein Anachronismus, ein den Fortschritt
hemmender Nest einer überwundncn Entwicklungsstufe. Sehr richtig, wird
der Baccalaureus sagen:

Das Kapitel, das von der Stammesgeschichte der Säugetiere und der
Menschen handelt, wird mit den Sätze., eingeleitet: ..Wenn man eine engere
Gruppe höherer Tiere betrachtet, so darf man sich mit einiger Wahrscheinlich¬
keit der Nermutuug hingeben, daß die nahe systematische Verwandtschaf an
Abstammung von gemeinsamen Vorfahren zurückweist. Aber "geno ^Sicherheit bietet dieser Schluß selbst hier uicht. Wir werden Zon ^sprel
niemals beweisen können, daß alle Menschen von einem Paar und nickt von
mehreren abstammen, da der Übergang tierischer Vorfahren zum menschlichen
Typus sich nur an einer einzigen Stelle der Erde und nicht an mehreren


Hartmann über das Leben

den Kreis seiner Erfahrungen durchlaufen; ihm ist alles schon bekannt, und
das Bekannte erweckt geringeres Interesse. Das alte Bewußtsein vollzieht
gleichsam mechanisch immer wieder die längst gewohnten Verrichtungen, findet
die Welt immer interesseloser und langweiliger und wird immer abgestumpfter;
dem jungen Bewußtsein dagegen sind alle Reize neu. alle Eindrücke frisch, alle
Lebenserfahrungen interessant. Der Ersatz erfahrungsreicher Bewußtseiue durch
erfahrungsarme, satter durch hungrige, gelangweilter durch interessierte, ent¬
täuschter durch illusionsfühige, das ist in der Tat ein wichtiger Naturzweck.
Die Natur arbeitet nicht nur mit Stoffwechsel im Organismus, sondern auch
mit Vewußtseinswechsel im Organismenreiche." Damit dieser für die höchste
Organisationsstufe sichergestellt'werde, dürfe er nicht ausschließlich von den
Zufällen abhängig gemacht werden, die einen gewaltsamen Tod herbeiführen,
und es mußte darum auf den niedern Stufen die Disposition zum Alterstodc
geschaffen werden, die sich dann auf die Individuen der höchsten Stufe vererbt
hat. „Im Einzelfall mag man aufs tiefste bedauern, daß ein reiches Wissen
und Können dnrch Altersschwäche und Tod ihres Trägers den Mitlebenden
geraubt wird; aber die Natur trifft ihre typischen Einrichtungen als allgemein
giltige, und da muß man zugestehn. daß der Wechsel der Generationen für die
Entwicklung unentbehrlich ist." Auch der genialste Kopf bleibe mit seiner
Anpassungsfähigkeit hinter den Ansprüche» der Zeit zurück, weck er zu fest
in deu Eindrücken seiner Jugend wurzele, und überlebe em Mann zwei.
drei Generationen, dann sei er ein Anachronismus, ein den Fortschritt
hemmender Nest einer überwundncn Entwicklungsstufe. Sehr richtig, wird
der Baccalaureus sagen:

Das Kapitel, das von der Stammesgeschichte der Säugetiere und der
Menschen handelt, wird mit den Sätze., eingeleitet: ..Wenn man eine engere
Gruppe höherer Tiere betrachtet, so darf man sich mit einiger Wahrscheinlich¬
keit der Nermutuug hingeben, daß die nahe systematische Verwandtschaf an
Abstammung von gemeinsamen Vorfahren zurückweist. Aber "geno ^Sicherheit bietet dieser Schluß selbst hier uicht. Wir werden Zon ^sprel
niemals beweisen können, daß alle Menschen von einem Paar und nickt von
mehreren abstammen, da der Übergang tierischer Vorfahren zum menschlichen
Typus sich nur an einer einzigen Stelle der Erde und nicht an mehreren


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300912"/>
          <fw type="header" place="top"> Hartmann über das Leben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1704" prev="#ID_1703"> den Kreis seiner Erfahrungen durchlaufen; ihm ist alles schon bekannt, und<lb/>
das Bekannte erweckt geringeres Interesse. Das alte Bewußtsein vollzieht<lb/>
gleichsam mechanisch immer wieder die längst gewohnten Verrichtungen, findet<lb/>
die Welt immer interesseloser und langweiliger und wird immer abgestumpfter;<lb/>
dem jungen Bewußtsein dagegen sind alle Reize neu. alle Eindrücke frisch, alle<lb/>
Lebenserfahrungen interessant. Der Ersatz erfahrungsreicher Bewußtseiue durch<lb/>
erfahrungsarme, satter durch hungrige, gelangweilter durch interessierte, ent¬<lb/>
täuschter durch illusionsfühige, das ist in der Tat ein wichtiger Naturzweck.<lb/>
Die Natur arbeitet nicht nur mit Stoffwechsel im Organismus, sondern auch<lb/>
mit Vewußtseinswechsel im Organismenreiche." Damit dieser für die höchste<lb/>
Organisationsstufe sichergestellt'werde, dürfe er nicht ausschließlich von den<lb/>
Zufällen abhängig gemacht werden, die einen gewaltsamen Tod herbeiführen,<lb/>
und es mußte darum auf den niedern Stufen die Disposition zum Alterstodc<lb/>
geschaffen werden, die sich dann auf die Individuen der höchsten Stufe vererbt<lb/>
hat. &#x201E;Im Einzelfall mag man aufs tiefste bedauern, daß ein reiches Wissen<lb/>
und Können dnrch Altersschwäche und Tod ihres Trägers den Mitlebenden<lb/>
geraubt wird; aber die Natur trifft ihre typischen Einrichtungen als allgemein<lb/>
giltige, und da muß man zugestehn. daß der Wechsel der Generationen für die<lb/>
Entwicklung unentbehrlich ist." Auch der genialste Kopf bleibe mit seiner<lb/>
Anpassungsfähigkeit hinter den Ansprüche» der Zeit zurück, weck er zu fest<lb/>
in deu Eindrücken seiner Jugend wurzele, und überlebe em Mann zwei.<lb/>
drei Generationen, dann sei er ein Anachronismus, ein den Fortschritt<lb/>
hemmender Nest einer überwundncn Entwicklungsstufe. Sehr richtig, wird<lb/>
der Baccalaureus sagen:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_6" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1705" next="#ID_1706"> Das Kapitel, das von der Stammesgeschichte der Säugetiere und der<lb/>
Menschen handelt, wird mit den Sätze., eingeleitet: ..Wenn man eine engere<lb/>
Gruppe höherer Tiere betrachtet, so darf man sich mit einiger Wahrscheinlich¬<lb/>
keit der Nermutuug hingeben, daß die nahe systematische Verwandtschaf an<lb/>
Abstammung von gemeinsamen Vorfahren zurückweist. Aber "geno ^Sicherheit bietet dieser Schluß selbst hier uicht. Wir werden Zon ^sprel<lb/>
niemals beweisen können, daß alle Menschen von einem Paar und nickt von<lb/>
mehreren abstammen, da der Übergang tierischer Vorfahren zum menschlichen<lb/>
Typus sich nur an einer einzigen Stelle der Erde und nicht an mehreren</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Hartmann über das Leben den Kreis seiner Erfahrungen durchlaufen; ihm ist alles schon bekannt, und das Bekannte erweckt geringeres Interesse. Das alte Bewußtsein vollzieht gleichsam mechanisch immer wieder die längst gewohnten Verrichtungen, findet die Welt immer interesseloser und langweiliger und wird immer abgestumpfter; dem jungen Bewußtsein dagegen sind alle Reize neu. alle Eindrücke frisch, alle Lebenserfahrungen interessant. Der Ersatz erfahrungsreicher Bewußtseiue durch erfahrungsarme, satter durch hungrige, gelangweilter durch interessierte, ent¬ täuschter durch illusionsfühige, das ist in der Tat ein wichtiger Naturzweck. Die Natur arbeitet nicht nur mit Stoffwechsel im Organismus, sondern auch mit Vewußtseinswechsel im Organismenreiche." Damit dieser für die höchste Organisationsstufe sichergestellt'werde, dürfe er nicht ausschließlich von den Zufällen abhängig gemacht werden, die einen gewaltsamen Tod herbeiführen, und es mußte darum auf den niedern Stufen die Disposition zum Alterstodc geschaffen werden, die sich dann auf die Individuen der höchsten Stufe vererbt hat. „Im Einzelfall mag man aufs tiefste bedauern, daß ein reiches Wissen und Können dnrch Altersschwäche und Tod ihres Trägers den Mitlebenden geraubt wird; aber die Natur trifft ihre typischen Einrichtungen als allgemein giltige, und da muß man zugestehn. daß der Wechsel der Generationen für die Entwicklung unentbehrlich ist." Auch der genialste Kopf bleibe mit seiner Anpassungsfähigkeit hinter den Ansprüche» der Zeit zurück, weck er zu fest in deu Eindrücken seiner Jugend wurzele, und überlebe em Mann zwei. drei Generationen, dann sei er ein Anachronismus, ein den Fortschritt hemmender Nest einer überwundncn Entwicklungsstufe. Sehr richtig, wird der Baccalaureus sagen: Das Kapitel, das von der Stammesgeschichte der Säugetiere und der Menschen handelt, wird mit den Sätze., eingeleitet: ..Wenn man eine engere Gruppe höherer Tiere betrachtet, so darf man sich mit einiger Wahrscheinlich¬ keit der Nermutuug hingeben, daß die nahe systematische Verwandtschaf an Abstammung von gemeinsamen Vorfahren zurückweist. Aber "geno ^Sicherheit bietet dieser Schluß selbst hier uicht. Wir werden Zon ^sprel niemals beweisen können, daß alle Menschen von einem Paar und nickt von mehreren abstammen, da der Übergang tierischer Vorfahren zum menschlichen Typus sich nur an einer einzigen Stelle der Erde und nicht an mehreren

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/413>, abgerufen am 23.07.2024.