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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Hartmann über das Leben

die Folgerung, daß die Intelligenz, die das leistet, unbewußt sein müsse,
sondern nur, daß ihr Bewußtsein eine Form haben müsse, von der wir uns
so wenig eine Vorstellung machen können als von ihrem Wesen und von ihrer
ganzen Daseinsweise. Wenn Hartmann in seinen spätern Lebensjahren für
"unbewußt" manchmal "überbewußt" gesagt hat, so können wir uns der damit
angedeuteten Auffassung anschließen.

In den folgenden Abschnitten werden die stammesgeschichtliche Entwicklung
der mehrzelligen Organismen, die regulatorischen (Störungen beseitigenden)
Leistungen des Organismus, der Tod, die Vererbung, die Bedeutung der
geschlechtlichen Fortpflanzung, die stammesgeschichtliche Entwicklung der Säuge¬
tiere und des Menschen behandelt. Wenn wir uns an die beschriebne
Wirkungsweise und die wunderbaren Leistungen der Zelle erinnern, so finden
wir, daß wir zur Erklärung (was man so Erklärung nennt) der Vererbung
und der Entwicklung des Keims zum vollständigen Individuum der mancherlei
Hypothesen, die zu diesem Zweck aufgestellt worden sind: der Einschachtelungs-
theorie, der Lehre vou kleinsten Teilchen im Keimplasma -- Weismann nennt
sie Determinanten --, deren jedes die Aufgabe haben soll, den Bau eines
bestimmten Körperteils zu leiten, daß wir aller dieser Hypothesen nicht be¬
dürfen. Jede Zelle hat die Fähigkeit, das für die Ausbildung und Erhaltung
des Organismus Notwendige zu leisten, und es zur rechten und passenden Zeit
zu leiste". Das wird für die Entfaltung des Keims zum organisierten Leibe
so gut gelten wie für das Wachstum und die Erhaltung dieses Leibes, und
vererbt werden die Dispositionen der Zellen zu ihren Leistungen. Alle diese
Leistungen sind nur einzelne Akte der das ganze Universum durchwaltenden
Macht, die, wie Hartmann es ausdrückt, nicht eine prüstabilierte Harmonie
begründet hat, sondern das Universum in jedem Augenblicke und fortwährend
harmonisiert, indem sie jeden Teil auf jeden Reiz richtig reagieren läßt, eine
wechselseitige zweckmäßige Anpassung bewirkt. Das ist selbstverständlich ein
jede geschöpfliche Fassungskraft übersteigendes fortwährendes Wunder, dem
gegenüber die menschliche Intelligenz nichts tun kann als sein tatsächliches
Vorhandensein anerkennen und seinen Verlauf im einzelnen verfolgen, und
durch Hypothesen wie die oben erwähnten wird es nicht erklärt und nicht
einmal vorstellbarer gemacht; im Gegenteil verwickeln und verwirren sie die
Vorstellung, die wir uus allenfalls davon machen können, nur noch mehr. In
Beziehung auf den nicht gewaltsamen, den Alterstvd, beweist Hartmann, daß
er weder aus dem Organismus erklärt werden kann noch durch irgendeinen
im Bereich des organischen Lebens liegenden Zweck gefordert wird, vom rein
naturalistischen Standpunkt ans gesehen also rätselhaft bleibt. Sein Grund
müsse also im psychologischen Gebiete gesucht werden. "Für die äußern Natur-
vorgünge ist es gleichgiltig, ob ein uraltes, aber nicht gealtertes, oder ein
junges Individuum dieselben Verrichtungen vollzieht; für den seelischen Zustand
aber macht das einen großen Unterschied. Das alte Bewußtsein hat schon oft


Hartmann über das Leben

die Folgerung, daß die Intelligenz, die das leistet, unbewußt sein müsse,
sondern nur, daß ihr Bewußtsein eine Form haben müsse, von der wir uns
so wenig eine Vorstellung machen können als von ihrem Wesen und von ihrer
ganzen Daseinsweise. Wenn Hartmann in seinen spätern Lebensjahren für
„unbewußt" manchmal „überbewußt" gesagt hat, so können wir uns der damit
angedeuteten Auffassung anschließen.

In den folgenden Abschnitten werden die stammesgeschichtliche Entwicklung
der mehrzelligen Organismen, die regulatorischen (Störungen beseitigenden)
Leistungen des Organismus, der Tod, die Vererbung, die Bedeutung der
geschlechtlichen Fortpflanzung, die stammesgeschichtliche Entwicklung der Säuge¬
tiere und des Menschen behandelt. Wenn wir uns an die beschriebne
Wirkungsweise und die wunderbaren Leistungen der Zelle erinnern, so finden
wir, daß wir zur Erklärung (was man so Erklärung nennt) der Vererbung
und der Entwicklung des Keims zum vollständigen Individuum der mancherlei
Hypothesen, die zu diesem Zweck aufgestellt worden sind: der Einschachtelungs-
theorie, der Lehre vou kleinsten Teilchen im Keimplasma — Weismann nennt
sie Determinanten —, deren jedes die Aufgabe haben soll, den Bau eines
bestimmten Körperteils zu leiten, daß wir aller dieser Hypothesen nicht be¬
dürfen. Jede Zelle hat die Fähigkeit, das für die Ausbildung und Erhaltung
des Organismus Notwendige zu leisten, und es zur rechten und passenden Zeit
zu leiste». Das wird für die Entfaltung des Keims zum organisierten Leibe
so gut gelten wie für das Wachstum und die Erhaltung dieses Leibes, und
vererbt werden die Dispositionen der Zellen zu ihren Leistungen. Alle diese
Leistungen sind nur einzelne Akte der das ganze Universum durchwaltenden
Macht, die, wie Hartmann es ausdrückt, nicht eine prüstabilierte Harmonie
begründet hat, sondern das Universum in jedem Augenblicke und fortwährend
harmonisiert, indem sie jeden Teil auf jeden Reiz richtig reagieren läßt, eine
wechselseitige zweckmäßige Anpassung bewirkt. Das ist selbstverständlich ein
jede geschöpfliche Fassungskraft übersteigendes fortwährendes Wunder, dem
gegenüber die menschliche Intelligenz nichts tun kann als sein tatsächliches
Vorhandensein anerkennen und seinen Verlauf im einzelnen verfolgen, und
durch Hypothesen wie die oben erwähnten wird es nicht erklärt und nicht
einmal vorstellbarer gemacht; im Gegenteil verwickeln und verwirren sie die
Vorstellung, die wir uus allenfalls davon machen können, nur noch mehr. In
Beziehung auf den nicht gewaltsamen, den Alterstvd, beweist Hartmann, daß
er weder aus dem Organismus erklärt werden kann noch durch irgendeinen
im Bereich des organischen Lebens liegenden Zweck gefordert wird, vom rein
naturalistischen Standpunkt ans gesehen also rätselhaft bleibt. Sein Grund
müsse also im psychologischen Gebiete gesucht werden. „Für die äußern Natur-
vorgünge ist es gleichgiltig, ob ein uraltes, aber nicht gealtertes, oder ein
junges Individuum dieselben Verrichtungen vollzieht; für den seelischen Zustand
aber macht das einen großen Unterschied. Das alte Bewußtsein hat schon oft


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[0412] Hartmann über das Leben die Folgerung, daß die Intelligenz, die das leistet, unbewußt sein müsse, sondern nur, daß ihr Bewußtsein eine Form haben müsse, von der wir uns so wenig eine Vorstellung machen können als von ihrem Wesen und von ihrer ganzen Daseinsweise. Wenn Hartmann in seinen spätern Lebensjahren für „unbewußt" manchmal „überbewußt" gesagt hat, so können wir uns der damit angedeuteten Auffassung anschließen. In den folgenden Abschnitten werden die stammesgeschichtliche Entwicklung der mehrzelligen Organismen, die regulatorischen (Störungen beseitigenden) Leistungen des Organismus, der Tod, die Vererbung, die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung, die stammesgeschichtliche Entwicklung der Säuge¬ tiere und des Menschen behandelt. Wenn wir uns an die beschriebne Wirkungsweise und die wunderbaren Leistungen der Zelle erinnern, so finden wir, daß wir zur Erklärung (was man so Erklärung nennt) der Vererbung und der Entwicklung des Keims zum vollständigen Individuum der mancherlei Hypothesen, die zu diesem Zweck aufgestellt worden sind: der Einschachtelungs- theorie, der Lehre vou kleinsten Teilchen im Keimplasma — Weismann nennt sie Determinanten —, deren jedes die Aufgabe haben soll, den Bau eines bestimmten Körperteils zu leiten, daß wir aller dieser Hypothesen nicht be¬ dürfen. Jede Zelle hat die Fähigkeit, das für die Ausbildung und Erhaltung des Organismus Notwendige zu leisten, und es zur rechten und passenden Zeit zu leiste». Das wird für die Entfaltung des Keims zum organisierten Leibe so gut gelten wie für das Wachstum und die Erhaltung dieses Leibes, und vererbt werden die Dispositionen der Zellen zu ihren Leistungen. Alle diese Leistungen sind nur einzelne Akte der das ganze Universum durchwaltenden Macht, die, wie Hartmann es ausdrückt, nicht eine prüstabilierte Harmonie begründet hat, sondern das Universum in jedem Augenblicke und fortwährend harmonisiert, indem sie jeden Teil auf jeden Reiz richtig reagieren läßt, eine wechselseitige zweckmäßige Anpassung bewirkt. Das ist selbstverständlich ein jede geschöpfliche Fassungskraft übersteigendes fortwährendes Wunder, dem gegenüber die menschliche Intelligenz nichts tun kann als sein tatsächliches Vorhandensein anerkennen und seinen Verlauf im einzelnen verfolgen, und durch Hypothesen wie die oben erwähnten wird es nicht erklärt und nicht einmal vorstellbarer gemacht; im Gegenteil verwickeln und verwirren sie die Vorstellung, die wir uus allenfalls davon machen können, nur noch mehr. In Beziehung auf den nicht gewaltsamen, den Alterstvd, beweist Hartmann, daß er weder aus dem Organismus erklärt werden kann noch durch irgendeinen im Bereich des organischen Lebens liegenden Zweck gefordert wird, vom rein naturalistischen Standpunkt ans gesehen also rätselhaft bleibt. Sein Grund müsse also im psychologischen Gebiete gesucht werden. „Für die äußern Natur- vorgünge ist es gleichgiltig, ob ein uraltes, aber nicht gealtertes, oder ein junges Individuum dieselben Verrichtungen vollzieht; für den seelischen Zustand aber macht das einen großen Unterschied. Das alte Bewußtsein hat schon oft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/412>, abgerufen am 23.07.2024.