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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

nicht stehn. Er dreht und wendet die Phrase so lange, bis es ihm gelingt,
damit sein nervöses Leiden als gewollte Qual, als Strafe, die er sich selbst
auferlegt habe, zu deuten. Der unbeugsame Stolz dieses Kranken vermag sich
nur dadurch aufrecht zu erhalten, "daß er sich an einen erheuchelten Soter ein¬
gebildeten! Optimismus klammert und sich für seinen eignen Henker erklärt".
Wie kann er nun bei einer Anschauung, die das Martyrium zur Substanz des
Lebens des höhern, des Übermenschen, des vornehmen, des Edelmenschen
macht, gegen das Christentum wüten? "Hat er das Recht, dem Christentum
einen Vorwurf daraus zu machen, daß es die Selbstverstümmelung fordere?"
Was ja wieder ungeheuerliche Übertreibung ist, denn wenn auch viele Christen
die Selbstpeinigung für Pflicht angesehen haben, ist diese doch von der Mehr¬
zahl der christlichen Lehrer niemals für das Wesentliche des Christentums er¬
klärt worden, und Selbstverstümmelung wird sogar ausdrücklich verboten. Wie
er sich windet, um seinen unsinnigen Haß gegen das Christentum zu recht¬
fertigen, wie er bald Jesum als Jmmoralisten belobt und Paulus als Ethnisierer
der Judenlehre tadelt, bald Jesus mit Schmähungen überhäuft und Paulus als
echten Juden, als einen zweiten Esra verwünscht, wird gebührend hervor¬
gehoben. Es sind dies eben alles nur Zuckungen eines Kranken, den sein Ge¬
schick in einen Zustand geistiger Epilepsie versetzt hat. "Der Grundcharakter
des dionysischen Übermenschen ist Kraft, und nichts schreckt darum Nietzsche mehr
als der mögliche Verdacht einer Schwächung seiner seelischen oder körperlichen
Kräfte. Er empfindet es nur zu lebhaft, daß eine Philosophie der Kraft schon
widerlegt ist, wenn sich ihre Apostel schwach zeigen. Daher sein krampfhaftes
Entsetzen vor dem tückischen Pessimismus und mehr noch vor dem drohenden
Wahnsinn." Stimmt ihn sein augenblicklicher Zustand nichtsdestoweniger pessi¬
mistisch, dann gibt er wenigstens nicht zu, daß dieser sein Pessimismus mit dem
andrer Leute etwas gemein habe; er ist sein ausschließliches persönliches Eigen¬
tum, ist dionysischer Pessimismus. Dieser ist ein Pessimismus nicht der Schwäche,
sondern der Kraft, und daß er zu den Pessimisten der Kraft gehöre, zeigt er
in einer seltsamen Vorrede vom Jahre 1886 "durch eine Tanzmeisterpirvuette;
und er ist davon überzeugt, daß er sich selbst jetzt endlich richtig verstanden
habe". Seine Krankheit ist die eigentliche Gesundheit. "Erkrankungen können
wir gar nicht entbehren, und der Wille zur Gesundheit ist ein Vorurteil, eine
Feigheit, ein Stück feigster Barbarei und Rückständigkeit." Damit wären ja
eigentlich der Satyr und die prachtvolle blonde Bestie preisgegeben, aber die
neuen Paradoxen "hindern den armen Philosophen nicht, unaufhörlich von der
großen, stärkern, gewitzigten, zähem, verwegnen, lustigern Gesundheit zu
träumen, sich dank dem zähen Willen zur Gesundheit, der sich schon oft als
Gesundheit zu verkleiden wagte, auf dem Wege zu ihr zu glauben und schlie߬
lich zu erklären, er besitze diese Gesundheit, und zwar für immer". Das Leben
des gesunden Übermenschen ist ein Schweben, Fliegen. Tanzen, Lachen, und
das Christentum unter anderm auch deswegen zu hassen, weil es das Bacchanal


Apollo und Dionysos

nicht stehn. Er dreht und wendet die Phrase so lange, bis es ihm gelingt,
damit sein nervöses Leiden als gewollte Qual, als Strafe, die er sich selbst
auferlegt habe, zu deuten. Der unbeugsame Stolz dieses Kranken vermag sich
nur dadurch aufrecht zu erhalten, „daß er sich an einen erheuchelten Soter ein¬
gebildeten! Optimismus klammert und sich für seinen eignen Henker erklärt".
Wie kann er nun bei einer Anschauung, die das Martyrium zur Substanz des
Lebens des höhern, des Übermenschen, des vornehmen, des Edelmenschen
macht, gegen das Christentum wüten? „Hat er das Recht, dem Christentum
einen Vorwurf daraus zu machen, daß es die Selbstverstümmelung fordere?"
Was ja wieder ungeheuerliche Übertreibung ist, denn wenn auch viele Christen
die Selbstpeinigung für Pflicht angesehen haben, ist diese doch von der Mehr¬
zahl der christlichen Lehrer niemals für das Wesentliche des Christentums er¬
klärt worden, und Selbstverstümmelung wird sogar ausdrücklich verboten. Wie
er sich windet, um seinen unsinnigen Haß gegen das Christentum zu recht¬
fertigen, wie er bald Jesum als Jmmoralisten belobt und Paulus als Ethnisierer
der Judenlehre tadelt, bald Jesus mit Schmähungen überhäuft und Paulus als
echten Juden, als einen zweiten Esra verwünscht, wird gebührend hervor¬
gehoben. Es sind dies eben alles nur Zuckungen eines Kranken, den sein Ge¬
schick in einen Zustand geistiger Epilepsie versetzt hat. „Der Grundcharakter
des dionysischen Übermenschen ist Kraft, und nichts schreckt darum Nietzsche mehr
als der mögliche Verdacht einer Schwächung seiner seelischen oder körperlichen
Kräfte. Er empfindet es nur zu lebhaft, daß eine Philosophie der Kraft schon
widerlegt ist, wenn sich ihre Apostel schwach zeigen. Daher sein krampfhaftes
Entsetzen vor dem tückischen Pessimismus und mehr noch vor dem drohenden
Wahnsinn." Stimmt ihn sein augenblicklicher Zustand nichtsdestoweniger pessi¬
mistisch, dann gibt er wenigstens nicht zu, daß dieser sein Pessimismus mit dem
andrer Leute etwas gemein habe; er ist sein ausschließliches persönliches Eigen¬
tum, ist dionysischer Pessimismus. Dieser ist ein Pessimismus nicht der Schwäche,
sondern der Kraft, und daß er zu den Pessimisten der Kraft gehöre, zeigt er
in einer seltsamen Vorrede vom Jahre 1886 „durch eine Tanzmeisterpirvuette;
und er ist davon überzeugt, daß er sich selbst jetzt endlich richtig verstanden
habe". Seine Krankheit ist die eigentliche Gesundheit. „Erkrankungen können
wir gar nicht entbehren, und der Wille zur Gesundheit ist ein Vorurteil, eine
Feigheit, ein Stück feigster Barbarei und Rückständigkeit." Damit wären ja
eigentlich der Satyr und die prachtvolle blonde Bestie preisgegeben, aber die
neuen Paradoxen „hindern den armen Philosophen nicht, unaufhörlich von der
großen, stärkern, gewitzigten, zähem, verwegnen, lustigern Gesundheit zu
träumen, sich dank dem zähen Willen zur Gesundheit, der sich schon oft als
Gesundheit zu verkleiden wagte, auf dem Wege zu ihr zu glauben und schlie߬
lich zu erklären, er besitze diese Gesundheit, und zwar für immer". Das Leben
des gesunden Übermenschen ist ein Schweben, Fliegen. Tanzen, Lachen, und
das Christentum unter anderm auch deswegen zu hassen, weil es das Bacchanal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/41>, abgerufen am 23.07.2024.