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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

hinzu, sein einziges Kind verstoßen, weil dieser Sprößling Gott, dem Gro߬
vater, mißfällt?" Ganz folgerichtig bekämpft Nietzsche das Strafrecht. Weniger
folgerichtig ist es, daß er dann wieder einmal nicht die Verbrecher, sondern die
herrschenden Stände als die Herrenmenschen hinstellt, denen er zur Pflicht
macht, strenge Richter zu sein, die Widersetzlichen zu strafen und niederzuwerfen;
daß man heute den Verbrecher nicht mehr zu strafen wage, Mitleid mit ihm
habe, beklagt er als einen Beweis von Entartung.

Andern Folgerungen ans seinen antimoralischen und seinen Rassentheorien
kann man eine gewisse Originalität nicht absprechen, nur daß es die Originalität
des Irrsinns ist, die sie vom Gewöhnlichen unterscheidet. Es handelt sich dabei
vorzugsweise um die oben angedeuteten Versuche, seine Krankheiten und Leiden,
deren schlimmstes die drohende Erblindung war, und die Vereinsamung, die
Flucht aller Freunde und Verehrer vor dem Sonderlinge, mit seinem Herren-
und Machtbewußtsein in Einklang zu bringen. Er bildete eine Lehre aus, die
Seilliere als moralischen und intellektuellen Sadismus charakterisiert. Das
Mitleid sucht Nietzsche als verkappte Schadenfreude und Grausamkeit zu er¬
klären, als Benutzung eines Anlasses, den Unglücklichen die eigne Überlegenheit
fühlen zu lassen. "Im Aphorismus 113 der Morgenröte kann man mit Er¬
staunen die vorgebliche Entwicklung dieser Grausamkeit gegen den Nächsten ver¬
folgen, die das Streben nach Auszeichnung notwendig mit sich bringe. Um
sich zu befriedigen, bereitet der Mächtige andern Martern, Schläge, Entsetzen,
Verwunderung, Neid, Freude, Heiterkeit, Lachen. Dann wieder kehrt er dieses
alles, um den Feinden ihre Ohnmacht und seine eigne Unüberwindlichkeit zu
zeigen, gegen sich selbst: er duldet Verhöhnung und Martern. Das Schwelgen
im Bewußtsein seiner Unüberwindlichkeit erhebt den Asketen wie den Märtyrer auf
den höchsten Gipfel des Machtgefühls." Und auch wenn solche Helden andern
wehe tun, tun sie dies, um damit sich selber wehe zu tun, welches Wehegefühl
aber dann wieder der andern Schmerz ist, sodaß man unter Nietzsches Führung
in einem beständigen hegelschen Umschlage der Gegensätze ineinander dahin-
taumelt. Das ursprüngliche Ziel der Moralreform wird darüber vergessen; die
neuen Ziele, die unserm Philosophen die Positivisten, die Darwinianer dar¬
bieten, verschwimmen miteinander und mit seinen ziellosen Phantasmen, taumeln
untereinander, verschwinden wieder. Bald erscheint die ganze Welt, bald eine
auserlcsne Gesellschaft von Übermenschen, bald das eigne Ich allein als Zweck
alles Strebens. Bald soll die Gegenwart, bald eine ferne Zukunft der Zweck
sein, bald wird wieder die Sorge für eine ferne Zukunft, für die Dauer des
Geschlechts, als chinesisch abgelehnt. Je länger je mehr verbohrt er sich in
eine Welterklärung, die ausschließlich auf seinen allerpersönlichsten krankhaften
Zustand berechnet ist. Bei Helvetius hatte der Wille zur Macht, der das Losungs¬
wort von Nietzsches letzter Periode geworden ist, einen vernünftigen Sinn: wer
Macht hat, kann viele Menschen zwingen, zu tun, was ihm Freude macht und
Leiden erspart. Bei diesem natürlichen Sinn des Ausdrucks bleibt aber Nietzsche


Apollo und Dionysos

hinzu, sein einziges Kind verstoßen, weil dieser Sprößling Gott, dem Gro߬
vater, mißfällt?" Ganz folgerichtig bekämpft Nietzsche das Strafrecht. Weniger
folgerichtig ist es, daß er dann wieder einmal nicht die Verbrecher, sondern die
herrschenden Stände als die Herrenmenschen hinstellt, denen er zur Pflicht
macht, strenge Richter zu sein, die Widersetzlichen zu strafen und niederzuwerfen;
daß man heute den Verbrecher nicht mehr zu strafen wage, Mitleid mit ihm
habe, beklagt er als einen Beweis von Entartung.

Andern Folgerungen ans seinen antimoralischen und seinen Rassentheorien
kann man eine gewisse Originalität nicht absprechen, nur daß es die Originalität
des Irrsinns ist, die sie vom Gewöhnlichen unterscheidet. Es handelt sich dabei
vorzugsweise um die oben angedeuteten Versuche, seine Krankheiten und Leiden,
deren schlimmstes die drohende Erblindung war, und die Vereinsamung, die
Flucht aller Freunde und Verehrer vor dem Sonderlinge, mit seinem Herren-
und Machtbewußtsein in Einklang zu bringen. Er bildete eine Lehre aus, die
Seilliere als moralischen und intellektuellen Sadismus charakterisiert. Das
Mitleid sucht Nietzsche als verkappte Schadenfreude und Grausamkeit zu er¬
klären, als Benutzung eines Anlasses, den Unglücklichen die eigne Überlegenheit
fühlen zu lassen. „Im Aphorismus 113 der Morgenröte kann man mit Er¬
staunen die vorgebliche Entwicklung dieser Grausamkeit gegen den Nächsten ver¬
folgen, die das Streben nach Auszeichnung notwendig mit sich bringe. Um
sich zu befriedigen, bereitet der Mächtige andern Martern, Schläge, Entsetzen,
Verwunderung, Neid, Freude, Heiterkeit, Lachen. Dann wieder kehrt er dieses
alles, um den Feinden ihre Ohnmacht und seine eigne Unüberwindlichkeit zu
zeigen, gegen sich selbst: er duldet Verhöhnung und Martern. Das Schwelgen
im Bewußtsein seiner Unüberwindlichkeit erhebt den Asketen wie den Märtyrer auf
den höchsten Gipfel des Machtgefühls." Und auch wenn solche Helden andern
wehe tun, tun sie dies, um damit sich selber wehe zu tun, welches Wehegefühl
aber dann wieder der andern Schmerz ist, sodaß man unter Nietzsches Führung
in einem beständigen hegelschen Umschlage der Gegensätze ineinander dahin-
taumelt. Das ursprüngliche Ziel der Moralreform wird darüber vergessen; die
neuen Ziele, die unserm Philosophen die Positivisten, die Darwinianer dar¬
bieten, verschwimmen miteinander und mit seinen ziellosen Phantasmen, taumeln
untereinander, verschwinden wieder. Bald erscheint die ganze Welt, bald eine
auserlcsne Gesellschaft von Übermenschen, bald das eigne Ich allein als Zweck
alles Strebens. Bald soll die Gegenwart, bald eine ferne Zukunft der Zweck
sein, bald wird wieder die Sorge für eine ferne Zukunft, für die Dauer des
Geschlechts, als chinesisch abgelehnt. Je länger je mehr verbohrt er sich in
eine Welterklärung, die ausschließlich auf seinen allerpersönlichsten krankhaften
Zustand berechnet ist. Bei Helvetius hatte der Wille zur Macht, der das Losungs¬
wort von Nietzsches letzter Periode geworden ist, einen vernünftigen Sinn: wer
Macht hat, kann viele Menschen zwingen, zu tun, was ihm Freude macht und
Leiden erspart. Bei diesem natürlichen Sinn des Ausdrucks bleibt aber Nietzsche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/40>, abgerufen am 23.07.2024.