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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Wissenschaft die allergrößten Dienste geleistet, aber seit Jahren ist er nicht allein
unfruchtbar geworden, sondern auch verderblich."

Da sich die Mittel, mit denen nach Darwins Ansicht die Natur neue
Arten hervorbringen sollte, teils als unzureichend, teils, wie die geschlechtliche
Zuchtwahl, als leere Phantasien erwiesen, wandten sich eine Menge Forscher,
von denen wir nur die allgemein bekannten nennen: Spencer, Nügeli, Eimer,
Kassowitz, zu Lamarck zurück. Der Neulamarckismus, den, wie unsre Leser
wissen, Weismann bekämpft, und gegen den Ammon und Tille aus sozialpoli¬
tischen Gründen mit Leidenschaft polemisieren, "vereinigt in seinem Prinzip der
direkten Anpassung das Lamarcksche Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs
der Organe und das Hilaireschc Prinzip des Einflusses äußerer Umstände",
zwei Prinzipien übrigens, die, wie Hartmann richtig bemerkt, gar nicht von¬
einander zu trennen sind, da der Gebrauch der Organe nur unter veränderten
äußern Umständen geändert werden kann, die äußern Umstände aber den
Organismus nur ändern können, wenn sich ihnen dieser dnrch Änderung seines
Verhaltens anpaßt. Geschieht dieses nicht, ändert sich der Organismus gar
nicht oder nicht in zweckmäßiger Weise, so vernichtet ihn die Änderung der
Lebensbedingungen, was ja unzähligemal vorkommt, namentlich bei plötzlichen
Änderungen, wie wenn der Frost im Frühling Hunderte von Vögeln tötet.
Außerdem gehört zur biologischen Wirksamkeit der äußern Einflüsse, daß die
dadurch allmählich herbeigeführten Veränderungen vererbt werden. Die Not¬
wendigkeit dieser von den echten Darwinianern bestrittenen Vererbung (vererbt
soll nach denen bloß das Keimplasma werden) betont besonders Kassowitz; dieser
bekämpft u. a. auch die Lehre von der Schutz- und Trutzfärbnng: "auffallend
gefärbte Raupen werden uach Plateaus Versuchen von zahlreichen Tieren gern
gefressen." Nach Johannes Reineke ist die Abstammungslehre bloß eine Hypo¬
these, aber "eine von so hohem Wahrscheinlichkeitswert, daß sie den Charakter
eines allgemein anerkannten Forschungsprinzips angenommen hat. Doch ist sie
weit davon entfernt, die Lösung des Weltrütsels zu sein; sie führt uns vielmehr
in einen Zauberwald, in dem uns aus allen Richtungen eine Fülle ungelöster
und größtenteils unlösbarer Rätsel entgegenstarrt." Er glaubt nicht, daß die
Arten bloß auf einem Wege auseinander entstehen. Die wichtigste Entstehungs-
art scheine die der sprunghafter Abänderungen zu sein, besonders wo es sich
um neue morphologische Merkmale handelt. Physiologische Änderungen können
durch Anpassung entstehn. Dazu kommen die Kreuzung und die Verpflanzung
in ein andres Milieu, was eine besondre Art der Änderung der äußern Um¬
stände ist. "Aber die äußern Umstände können nur als Reiz wirken auf die
Fähigkeit der Pflanzen jund Tiere; Reinkc ist Botanikers in passender Weise
zu variieren. Wo diese Fähigkeit den Arten abhanden gekommen ist, da bleiben
sie trotz starker Veränderung der äußern Umstände unverändert, wenn sie nicht
zugrunde gehen. Wesentlich ablehnend verhält sich Reinke gegen die Entstehung
neuer Arten durch Häufung der kleinsten Abänderungen und durch Auslese. Er


Wissenschaft die allergrößten Dienste geleistet, aber seit Jahren ist er nicht allein
unfruchtbar geworden, sondern auch verderblich."

Da sich die Mittel, mit denen nach Darwins Ansicht die Natur neue
Arten hervorbringen sollte, teils als unzureichend, teils, wie die geschlechtliche
Zuchtwahl, als leere Phantasien erwiesen, wandten sich eine Menge Forscher,
von denen wir nur die allgemein bekannten nennen: Spencer, Nügeli, Eimer,
Kassowitz, zu Lamarck zurück. Der Neulamarckismus, den, wie unsre Leser
wissen, Weismann bekämpft, und gegen den Ammon und Tille aus sozialpoli¬
tischen Gründen mit Leidenschaft polemisieren, „vereinigt in seinem Prinzip der
direkten Anpassung das Lamarcksche Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs
der Organe und das Hilaireschc Prinzip des Einflusses äußerer Umstände",
zwei Prinzipien übrigens, die, wie Hartmann richtig bemerkt, gar nicht von¬
einander zu trennen sind, da der Gebrauch der Organe nur unter veränderten
äußern Umständen geändert werden kann, die äußern Umstände aber den
Organismus nur ändern können, wenn sich ihnen dieser dnrch Änderung seines
Verhaltens anpaßt. Geschieht dieses nicht, ändert sich der Organismus gar
nicht oder nicht in zweckmäßiger Weise, so vernichtet ihn die Änderung der
Lebensbedingungen, was ja unzähligemal vorkommt, namentlich bei plötzlichen
Änderungen, wie wenn der Frost im Frühling Hunderte von Vögeln tötet.
Außerdem gehört zur biologischen Wirksamkeit der äußern Einflüsse, daß die
dadurch allmählich herbeigeführten Veränderungen vererbt werden. Die Not¬
wendigkeit dieser von den echten Darwinianern bestrittenen Vererbung (vererbt
soll nach denen bloß das Keimplasma werden) betont besonders Kassowitz; dieser
bekämpft u. a. auch die Lehre von der Schutz- und Trutzfärbnng: „auffallend
gefärbte Raupen werden uach Plateaus Versuchen von zahlreichen Tieren gern
gefressen." Nach Johannes Reineke ist die Abstammungslehre bloß eine Hypo¬
these, aber „eine von so hohem Wahrscheinlichkeitswert, daß sie den Charakter
eines allgemein anerkannten Forschungsprinzips angenommen hat. Doch ist sie
weit davon entfernt, die Lösung des Weltrütsels zu sein; sie führt uns vielmehr
in einen Zauberwald, in dem uns aus allen Richtungen eine Fülle ungelöster
und größtenteils unlösbarer Rätsel entgegenstarrt." Er glaubt nicht, daß die
Arten bloß auf einem Wege auseinander entstehen. Die wichtigste Entstehungs-
art scheine die der sprunghafter Abänderungen zu sein, besonders wo es sich
um neue morphologische Merkmale handelt. Physiologische Änderungen können
durch Anpassung entstehn. Dazu kommen die Kreuzung und die Verpflanzung
in ein andres Milieu, was eine besondre Art der Änderung der äußern Um¬
stände ist. „Aber die äußern Umstände können nur als Reiz wirken auf die
Fähigkeit der Pflanzen jund Tiere; Reinkc ist Botanikers in passender Weise
zu variieren. Wo diese Fähigkeit den Arten abhanden gekommen ist, da bleiben
sie trotz starker Veränderung der äußern Umstände unverändert, wenn sie nicht
zugrunde gehen. Wesentlich ablehnend verhält sich Reinke gegen die Entstehung
neuer Arten durch Häufung der kleinsten Abänderungen und durch Auslese. Er


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[0378] Wissenschaft die allergrößten Dienste geleistet, aber seit Jahren ist er nicht allein unfruchtbar geworden, sondern auch verderblich." Da sich die Mittel, mit denen nach Darwins Ansicht die Natur neue Arten hervorbringen sollte, teils als unzureichend, teils, wie die geschlechtliche Zuchtwahl, als leere Phantasien erwiesen, wandten sich eine Menge Forscher, von denen wir nur die allgemein bekannten nennen: Spencer, Nügeli, Eimer, Kassowitz, zu Lamarck zurück. Der Neulamarckismus, den, wie unsre Leser wissen, Weismann bekämpft, und gegen den Ammon und Tille aus sozialpoli¬ tischen Gründen mit Leidenschaft polemisieren, „vereinigt in seinem Prinzip der direkten Anpassung das Lamarcksche Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe und das Hilaireschc Prinzip des Einflusses äußerer Umstände", zwei Prinzipien übrigens, die, wie Hartmann richtig bemerkt, gar nicht von¬ einander zu trennen sind, da der Gebrauch der Organe nur unter veränderten äußern Umständen geändert werden kann, die äußern Umstände aber den Organismus nur ändern können, wenn sich ihnen dieser dnrch Änderung seines Verhaltens anpaßt. Geschieht dieses nicht, ändert sich der Organismus gar nicht oder nicht in zweckmäßiger Weise, so vernichtet ihn die Änderung der Lebensbedingungen, was ja unzähligemal vorkommt, namentlich bei plötzlichen Änderungen, wie wenn der Frost im Frühling Hunderte von Vögeln tötet. Außerdem gehört zur biologischen Wirksamkeit der äußern Einflüsse, daß die dadurch allmählich herbeigeführten Veränderungen vererbt werden. Die Not¬ wendigkeit dieser von den echten Darwinianern bestrittenen Vererbung (vererbt soll nach denen bloß das Keimplasma werden) betont besonders Kassowitz; dieser bekämpft u. a. auch die Lehre von der Schutz- und Trutzfärbnng: „auffallend gefärbte Raupen werden uach Plateaus Versuchen von zahlreichen Tieren gern gefressen." Nach Johannes Reineke ist die Abstammungslehre bloß eine Hypo¬ these, aber „eine von so hohem Wahrscheinlichkeitswert, daß sie den Charakter eines allgemein anerkannten Forschungsprinzips angenommen hat. Doch ist sie weit davon entfernt, die Lösung des Weltrütsels zu sein; sie führt uns vielmehr in einen Zauberwald, in dem uns aus allen Richtungen eine Fülle ungelöster und größtenteils unlösbarer Rätsel entgegenstarrt." Er glaubt nicht, daß die Arten bloß auf einem Wege auseinander entstehen. Die wichtigste Entstehungs- art scheine die der sprunghafter Abänderungen zu sein, besonders wo es sich um neue morphologische Merkmale handelt. Physiologische Änderungen können durch Anpassung entstehn. Dazu kommen die Kreuzung und die Verpflanzung in ein andres Milieu, was eine besondre Art der Änderung der äußern Um¬ stände ist. „Aber die äußern Umstände können nur als Reiz wirken auf die Fähigkeit der Pflanzen jund Tiere; Reinkc ist Botanikers in passender Weise zu variieren. Wo diese Fähigkeit den Arten abhanden gekommen ist, da bleiben sie trotz starker Veränderung der äußern Umstände unverändert, wenn sie nicht zugrunde gehen. Wesentlich ablehnend verhält sich Reinke gegen die Entstehung neuer Arten durch Häufung der kleinsten Abänderungen und durch Auslese. Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/378>, abgerufen am 23.07.2024.