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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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ältere Generation, die sich gegen die Darwinschen Lehren in Barsch und Bogen
sträubte, wurde als veraltet beiseite geschoben. Wer zwischen Wahrheit und
Irrtum im Darwinismus zu scheiden suchte, fand jahrzehntelang nur taube
Ohren; denn die ältere Generation wollte auch nicht einmal die Abstammungs¬
lehre gelten lassen, und die jüngere ging mit Darwin durch dick und dünn."
Darwin sah im Laufe der Zeit selbst ein, daß die natürliche Zuchtwahl, die
Auslese des Angepaßten im Kampfe ums Dasein nicht genügte, die Entstehung
der Arten zu erklären, und nahm zunächst die geschlechtliche Zuchtwahl, dann
die Erklärungsweise der beiden Franzosen zu Hilfe, Ihn zeichnete unbestechliche
Wahrheitsliebe aus und die vorsichtige Zurückhaltung, mit der er seine Hypo¬
thesen für nichts andres ausgab als für Hypothesen und nicht weiter erstreckte,
als er sie durch Erfahrung gesichert zu haben glaubte. Er sei, meint Hart¬
mann, und wir haben wiederholt dasselbe hervorgehoben, durch diese Eigen¬
schaften der Schule, die sich in Deutschland nach ihm nennt, entschieden über¬
legen und für die dogmatischen Ausschreitungen nicht verantwortlich, die unter seiner
Fahne begangen wurden. Am ärgsten hat es damit bekanntlich Haeckel getrieben,
der frischweg den Stammbaum des Menschen konstruierte und diese wie andre
Konstruktionen als unfehlbare Dogmen verkündete. "Den Menschen läßt er
von den echten Affen abstammen, hält an einer Urzeugung fest und glaubt in
Huxleys Bathybius Haeckelii den organischen Urschleim vor sich zu haben, der
ans rein mechanischem Wege aus unorganischen Stoffen entstanden sein soll.
Während Darwin an einen Gott-Schöpfer glaubt, der die Typen des mehr-
stämmigen Stammbaums bestimmt hat, führt Haeckel die organische Natur auf
die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs jdie diesen zu sehr vielen verschiednen Ver¬
bindungen befähigt zurück."

Hartmann zählt eine Reihe von Lehren Haeckels auf, die durch neuere
Forschungen widerlegt worden sind, und hebt dann seine Verdienste hervor: daß
er die damals in Deutschland noch verpönte Abstammungslehre zum Siege
geführt, an die Stelle des Kreislaufs der Natur die Entwicklung gesetzt hat,
die selbst Hegel noch bloß im Gebiete des Geistes gelten lassen wollte; ferner
ist er vom rein mechanistischen Materialismus zum Hylozoismus fortgeschritten,
indem er die Zellen und die Atome beseelt denkt, und hat die Beschränktheit
der rein fachmännischer Naturwissenschaft, die er vorfand, durch eine neue Natur¬
philosophie durchbrochen und so neues Leben in die Naturwissenschaft gebracht.
"Diese Verdienste sind groß genug, des Mannes wissenschaftliche und mensch¬
liche Schwächen erträglich erscheinen zu lassen. Daß er Spinoza und Kant,
Goethe und Schelling nicht richtig auffaßte, die christliche Dogmcitik mit unzuläng¬
lichen Verständnis kritisierte, darüber wäre man schweigend hinweggegangen,
wenn sich nicht zu viele auf ihn als eine Autorität verlassen Hütten. Sein
Hauptfehler ist, daß er die Naturphilosophie mit der Naturwissenschaft identifi¬
zieren und die zweite zur ersten aufbauschen will, anstatt beide deutlich zu
unterscheiden. Daher stammt einerseits seine antiteleologische, mechanistische Welt-


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ältere Generation, die sich gegen die Darwinschen Lehren in Barsch und Bogen
sträubte, wurde als veraltet beiseite geschoben. Wer zwischen Wahrheit und
Irrtum im Darwinismus zu scheiden suchte, fand jahrzehntelang nur taube
Ohren; denn die ältere Generation wollte auch nicht einmal die Abstammungs¬
lehre gelten lassen, und die jüngere ging mit Darwin durch dick und dünn."
Darwin sah im Laufe der Zeit selbst ein, daß die natürliche Zuchtwahl, die
Auslese des Angepaßten im Kampfe ums Dasein nicht genügte, die Entstehung
der Arten zu erklären, und nahm zunächst die geschlechtliche Zuchtwahl, dann
die Erklärungsweise der beiden Franzosen zu Hilfe, Ihn zeichnete unbestechliche
Wahrheitsliebe aus und die vorsichtige Zurückhaltung, mit der er seine Hypo¬
thesen für nichts andres ausgab als für Hypothesen und nicht weiter erstreckte,
als er sie durch Erfahrung gesichert zu haben glaubte. Er sei, meint Hart¬
mann, und wir haben wiederholt dasselbe hervorgehoben, durch diese Eigen¬
schaften der Schule, die sich in Deutschland nach ihm nennt, entschieden über¬
legen und für die dogmatischen Ausschreitungen nicht verantwortlich, die unter seiner
Fahne begangen wurden. Am ärgsten hat es damit bekanntlich Haeckel getrieben,
der frischweg den Stammbaum des Menschen konstruierte und diese wie andre
Konstruktionen als unfehlbare Dogmen verkündete. „Den Menschen läßt er
von den echten Affen abstammen, hält an einer Urzeugung fest und glaubt in
Huxleys Bathybius Haeckelii den organischen Urschleim vor sich zu haben, der
ans rein mechanischem Wege aus unorganischen Stoffen entstanden sein soll.
Während Darwin an einen Gott-Schöpfer glaubt, der die Typen des mehr-
stämmigen Stammbaums bestimmt hat, führt Haeckel die organische Natur auf
die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs jdie diesen zu sehr vielen verschiednen Ver¬
bindungen befähigt zurück."

Hartmann zählt eine Reihe von Lehren Haeckels auf, die durch neuere
Forschungen widerlegt worden sind, und hebt dann seine Verdienste hervor: daß
er die damals in Deutschland noch verpönte Abstammungslehre zum Siege
geführt, an die Stelle des Kreislaufs der Natur die Entwicklung gesetzt hat,
die selbst Hegel noch bloß im Gebiete des Geistes gelten lassen wollte; ferner
ist er vom rein mechanistischen Materialismus zum Hylozoismus fortgeschritten,
indem er die Zellen und die Atome beseelt denkt, und hat die Beschränktheit
der rein fachmännischer Naturwissenschaft, die er vorfand, durch eine neue Natur¬
philosophie durchbrochen und so neues Leben in die Naturwissenschaft gebracht.
„Diese Verdienste sind groß genug, des Mannes wissenschaftliche und mensch¬
liche Schwächen erträglich erscheinen zu lassen. Daß er Spinoza und Kant,
Goethe und Schelling nicht richtig auffaßte, die christliche Dogmcitik mit unzuläng¬
lichen Verständnis kritisierte, darüber wäre man schweigend hinweggegangen,
wenn sich nicht zu viele auf ihn als eine Autorität verlassen Hütten. Sein
Hauptfehler ist, daß er die Naturphilosophie mit der Naturwissenschaft identifi¬
zieren und die zweite zur ersten aufbauschen will, anstatt beide deutlich zu
unterscheiden. Daher stammt einerseits seine antiteleologische, mechanistische Welt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/372>, abgerufen am 23.07.2024.