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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

Wechsel mit meinem Vater stand, so erhielt ich fortwährend Kunde auch aus
Sachsen.

Ju den ersten Tagen war die Stimmung noch ziemlich ruhig, die Hoffnung
auf Erhaltung des Friedens hielt man fest. Aber schon gegen Ende des
Monats begann diese Hoffnung zu schwinden, und die am 5. Mai verfügte
Mobilisierung der preußischen Armee, der scharfe Notenwechsel zwischen Berlin
und Dresden, die Einziehung auch der sächsischen Urlauber, von der mir mein
Vater schrieb, die Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses (10. Mai)
zeigten bald den schweren Ernst der Lage. Schon erhielten auch die hier
studierenden Preußen, darunter mehrere Mitglieder des Waitzischen Seminars,
ihre Einberusungsorder, andre erwarteten sie täglich. "Ich habe nicht ge¬
funden, schrieb ich am 23. Mai, als einer nach dem andern aus meinem kleinen
Kreise zur Armee abging, daß die Leute mit Widerstreben gingen. Sie lassen
hier vieles, ja alles im Stich, sie gehn möglicherweise in den Tod, aber sie
sind politisch und moralisch so gebildet, daß sie es aus voller Überzeugung
tun. "Ich habe meinem Vater geschrieben, sagte einer, ich wolle mitziehen,
wenn es zum Kriege käme für die Existenz und die Größe Preußens; er ant¬
wortete mir, ich solle es in Gottes Namen tun." Er war völlig gefaßt, ruhig,
ohne Übermut, aber zuversichtlich." Damals ist mir zuerst die Größe der
allgemeinen Wehrpflicht greifbar entgegengetreten und die Stärke des preußischen
Staatsbewußtseins.

Auch Hannover begann (seit 5. Mai) seine Reserven einzuziehen; ja man
erfuhr, daß die Preußen demnächst ihre vertragsmäßigen Etappenstraßen durch
Hannover besetzen würden. Unter solchen Umständen war auf dem Museum
der Krieg das alltägliche Thema der Unterhaltung. Auch Männer wie Ernst
Curtius, der Intimeres wissen konnte, begannen an den Krieg zu glauben;
dazu erhielt ich aus Leipzig, ich weiß nicht mehr von wem, doch ganz authentisch
(vor dem 13. Mai) die Nachricht, Heinrich von Treitschke (seit Herbst 1863
in Freiburg) sei kürzlich in Berlin gewesen, habe dabei eine Audienz bei Bismarck
gehabt, und dieser habe ihm gesagt: "Wenn nicht ein Wunder geschieht, so
wird es diesesmal zum Ausbruch kommen"; davon habe er auf der Rückreise
in seinem alten Leipziger Kreise erzählt.") Die Stimmung um mich herum
war, soweit ich erkennen konnte, nirgends für Österreich, vielfach direkt für
Preußen, wenn nicht einfach welfisch partikularistisch oder philisterhaft gleich-
giltig. Daß Hannover in den Krieg hineingerissen werden könne, oder daß es sich



Treitschke war um Ostern nach Dresden und von dort nach Berlin gegangen, um hier
für seine deutsche Geschichte im Archiv zu arbeiten. Von Berlin aus schrieb er seinen ersten
Brief an seinen Vater am 8. April, vgl. Th. Schiemann, Heinrich von Treitschkes Lehr- und
Wanderjahre (1898), S. 248 f. Von einer persönlichen Begegnung mit Bismarck erzählt auch
Schiemann, aber ohne jede nähere Angabe; den Ausenthalt in Leipzig erwähnt er S. 2ö0. Die
Verhandlungen Treitschkes mit Bismarck über dessen Antrag, das königliche Kriegsmanifest zu
verfassen, fallen erst in die Zeit vom 7. bis zum 14. Juni, s. Schiemann S. 251 ff.
vor vierzig Jahren

Wechsel mit meinem Vater stand, so erhielt ich fortwährend Kunde auch aus
Sachsen.

Ju den ersten Tagen war die Stimmung noch ziemlich ruhig, die Hoffnung
auf Erhaltung des Friedens hielt man fest. Aber schon gegen Ende des
Monats begann diese Hoffnung zu schwinden, und die am 5. Mai verfügte
Mobilisierung der preußischen Armee, der scharfe Notenwechsel zwischen Berlin
und Dresden, die Einziehung auch der sächsischen Urlauber, von der mir mein
Vater schrieb, die Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses (10. Mai)
zeigten bald den schweren Ernst der Lage. Schon erhielten auch die hier
studierenden Preußen, darunter mehrere Mitglieder des Waitzischen Seminars,
ihre Einberusungsorder, andre erwarteten sie täglich. „Ich habe nicht ge¬
funden, schrieb ich am 23. Mai, als einer nach dem andern aus meinem kleinen
Kreise zur Armee abging, daß die Leute mit Widerstreben gingen. Sie lassen
hier vieles, ja alles im Stich, sie gehn möglicherweise in den Tod, aber sie
sind politisch und moralisch so gebildet, daß sie es aus voller Überzeugung
tun. »Ich habe meinem Vater geschrieben, sagte einer, ich wolle mitziehen,
wenn es zum Kriege käme für die Existenz und die Größe Preußens; er ant¬
wortete mir, ich solle es in Gottes Namen tun.« Er war völlig gefaßt, ruhig,
ohne Übermut, aber zuversichtlich." Damals ist mir zuerst die Größe der
allgemeinen Wehrpflicht greifbar entgegengetreten und die Stärke des preußischen
Staatsbewußtseins.

Auch Hannover begann (seit 5. Mai) seine Reserven einzuziehen; ja man
erfuhr, daß die Preußen demnächst ihre vertragsmäßigen Etappenstraßen durch
Hannover besetzen würden. Unter solchen Umständen war auf dem Museum
der Krieg das alltägliche Thema der Unterhaltung. Auch Männer wie Ernst
Curtius, der Intimeres wissen konnte, begannen an den Krieg zu glauben;
dazu erhielt ich aus Leipzig, ich weiß nicht mehr von wem, doch ganz authentisch
(vor dem 13. Mai) die Nachricht, Heinrich von Treitschke (seit Herbst 1863
in Freiburg) sei kürzlich in Berlin gewesen, habe dabei eine Audienz bei Bismarck
gehabt, und dieser habe ihm gesagt: „Wenn nicht ein Wunder geschieht, so
wird es diesesmal zum Ausbruch kommen"; davon habe er auf der Rückreise
in seinem alten Leipziger Kreise erzählt.") Die Stimmung um mich herum
war, soweit ich erkennen konnte, nirgends für Österreich, vielfach direkt für
Preußen, wenn nicht einfach welfisch partikularistisch oder philisterhaft gleich-
giltig. Daß Hannover in den Krieg hineingerissen werden könne, oder daß es sich



Treitschke war um Ostern nach Dresden und von dort nach Berlin gegangen, um hier
für seine deutsche Geschichte im Archiv zu arbeiten. Von Berlin aus schrieb er seinen ersten
Brief an seinen Vater am 8. April, vgl. Th. Schiemann, Heinrich von Treitschkes Lehr- und
Wanderjahre (1898), S. 248 f. Von einer persönlichen Begegnung mit Bismarck erzählt auch
Schiemann, aber ohne jede nähere Angabe; den Ausenthalt in Leipzig erwähnt er S. 2ö0. Die
Verhandlungen Treitschkes mit Bismarck über dessen Antrag, das königliche Kriegsmanifest zu
verfassen, fallen erst in die Zeit vom 7. bis zum 14. Juni, s. Schiemann S. 251 ff.
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[0307] vor vierzig Jahren Wechsel mit meinem Vater stand, so erhielt ich fortwährend Kunde auch aus Sachsen. Ju den ersten Tagen war die Stimmung noch ziemlich ruhig, die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens hielt man fest. Aber schon gegen Ende des Monats begann diese Hoffnung zu schwinden, und die am 5. Mai verfügte Mobilisierung der preußischen Armee, der scharfe Notenwechsel zwischen Berlin und Dresden, die Einziehung auch der sächsischen Urlauber, von der mir mein Vater schrieb, die Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses (10. Mai) zeigten bald den schweren Ernst der Lage. Schon erhielten auch die hier studierenden Preußen, darunter mehrere Mitglieder des Waitzischen Seminars, ihre Einberusungsorder, andre erwarteten sie täglich. „Ich habe nicht ge¬ funden, schrieb ich am 23. Mai, als einer nach dem andern aus meinem kleinen Kreise zur Armee abging, daß die Leute mit Widerstreben gingen. Sie lassen hier vieles, ja alles im Stich, sie gehn möglicherweise in den Tod, aber sie sind politisch und moralisch so gebildet, daß sie es aus voller Überzeugung tun. »Ich habe meinem Vater geschrieben, sagte einer, ich wolle mitziehen, wenn es zum Kriege käme für die Existenz und die Größe Preußens; er ant¬ wortete mir, ich solle es in Gottes Namen tun.« Er war völlig gefaßt, ruhig, ohne Übermut, aber zuversichtlich." Damals ist mir zuerst die Größe der allgemeinen Wehrpflicht greifbar entgegengetreten und die Stärke des preußischen Staatsbewußtseins. Auch Hannover begann (seit 5. Mai) seine Reserven einzuziehen; ja man erfuhr, daß die Preußen demnächst ihre vertragsmäßigen Etappenstraßen durch Hannover besetzen würden. Unter solchen Umständen war auf dem Museum der Krieg das alltägliche Thema der Unterhaltung. Auch Männer wie Ernst Curtius, der Intimeres wissen konnte, begannen an den Krieg zu glauben; dazu erhielt ich aus Leipzig, ich weiß nicht mehr von wem, doch ganz authentisch (vor dem 13. Mai) die Nachricht, Heinrich von Treitschke (seit Herbst 1863 in Freiburg) sei kürzlich in Berlin gewesen, habe dabei eine Audienz bei Bismarck gehabt, und dieser habe ihm gesagt: „Wenn nicht ein Wunder geschieht, so wird es diesesmal zum Ausbruch kommen"; davon habe er auf der Rückreise in seinem alten Leipziger Kreise erzählt.") Die Stimmung um mich herum war, soweit ich erkennen konnte, nirgends für Österreich, vielfach direkt für Preußen, wenn nicht einfach welfisch partikularistisch oder philisterhaft gleich- giltig. Daß Hannover in den Krieg hineingerissen werden könne, oder daß es sich Treitschke war um Ostern nach Dresden und von dort nach Berlin gegangen, um hier für seine deutsche Geschichte im Archiv zu arbeiten. Von Berlin aus schrieb er seinen ersten Brief an seinen Vater am 8. April, vgl. Th. Schiemann, Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre (1898), S. 248 f. Von einer persönlichen Begegnung mit Bismarck erzählt auch Schiemann, aber ohne jede nähere Angabe; den Ausenthalt in Leipzig erwähnt er S. 2ö0. Die Verhandlungen Treitschkes mit Bismarck über dessen Antrag, das königliche Kriegsmanifest zu verfassen, fallen erst in die Zeit vom 7. bis zum 14. Juni, s. Schiemann S. 251 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/307>, abgerufen am 23.07.2024.