Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das preußische Vffizierkorvs von 1^306 im Lichte neuer Forschungen

Die Sühne, die durch diesen Erlaß des Königs eingeleitet wurde, bildet
einen Teil der Heeresreorganisation, die der König unmittelbar nach der Nieder¬
lage auf dem Rückzug begonnen hatte. Durch die alle Kräfte in Anspruch
nehmenden Kämpfe des Jahres 1307 wurde die Reorganisation verzögert.
Wenige Wochen nach dem Abschlüsse des Friedens zu Tilsit, am 27. Juli 1807
berief der König eine Militär-Reorganisationskommission. Den Vorsitz übertrug
er dem Generalmajor von Scharnhorst, die Arbeit schrieb er der Kommission
in einem eigenhändigen Schriftstücke von neunzehn Punkten vor. Davon lauteten
die ersten beiden: "1. Wird man vor allen Dingen die Offiziere, so ihre
Schuldigkeit offenbar nicht gethan haben, vom Dienst ausschließen und nach
Umständen auf das Strengste zu bestrafen haben. 2. Solche, deren Betragen
zweifelhaft geblieben, zur Rechenschaft ziehen."

Die Größe der Aufgabe, die aus dieser Anordnung erwuchs, forderte eine
eigne Kommission. Die Neorganisationskommission entwarf eine Instruktion für
die Jmmediat-Untersuchungskommission und schlug dem König Offiziere als
Mitglieder der Kommission vor. Der König änderte den Entwurf der Dienst¬
anweisung und die Mitgliederauswahl wesentlich. Den Vorsitz übertrug er
seinen Brüdern, den Prinzen Heinrich und Wilhelm, und dem Generalleutnant
von L'Estocq. Am 6. Dezember 1807 ging die Kommission in Königsberg an
die Arbeit.

Schon die Sammlung und die Sichtung des Materials, das sich durch
die freiwilligen Rechtfertigungsschreiben der Offiziere und durch die Besprechung
der Kriegsereignisse in der Presse ergab, forderte viel Mühe und Zeit. Die
Presse brachte Anklagen und Verleumdungen, daher mußte sie auch Ver¬
teidigungen und Rechtfertigungen der Angegriffnen bringen. Broschüren und
Flugblätter dienten denselben Zwecken. Es war eine Zeit, wo der Wehrstand
geflissentlich herabgesetzt wurde. Blücher sprach diesen Preßstimmen fast jede
Glaubwürdigkeit ab, Major von Pirch, der ehemalige Adjutant des Fürsten
Hohenlohe. erhob gegen die Presse die Anklage: "alle ungünstigen Nachrichten
über Offiziere habe er nur aus den Zeitungen, die jetzt nur Schlechtes über Offi¬
ziere aufnehmen dürften". Der juristische Leiter der Untersuchungskommission,
Generalauditeur von Komm, traf das Richtige, indem er die Sammlung und
die Beiziehung aller Preßstimmen befürwortete, nicht "weil die oft sehr schiefen
und unberufenen Urteile der Skribenten besondere Rücksicht verdienen, sondern
weil in jenen Schriften Tatsachen und Anekdoten, selbst Rechtfertigungen, vor¬
kommen, die vielleicht der Erörterung wert sind".

Aus der Notwendigkeit, über einzelne belastete Offiziere mehrere Aussagen
zu hören, erwuchs eine neue schwierige Arbeit, die Ermittlung der Adressen
der Offiziere, von denen ein großer Teil infolge der Heeresverringerung ver¬
abschiedet, andre ausgewandert oder gefangen waren oder in den vom Feinde
besetzten Provinzen lebten. Schließlich mußte hierzu trotz der Abneigung des
Königs gegen dieses Verfahren die Presse in Anspruch genommen werden. Ein


Das preußische Vffizierkorvs von 1^306 im Lichte neuer Forschungen

Die Sühne, die durch diesen Erlaß des Königs eingeleitet wurde, bildet
einen Teil der Heeresreorganisation, die der König unmittelbar nach der Nieder¬
lage auf dem Rückzug begonnen hatte. Durch die alle Kräfte in Anspruch
nehmenden Kämpfe des Jahres 1307 wurde die Reorganisation verzögert.
Wenige Wochen nach dem Abschlüsse des Friedens zu Tilsit, am 27. Juli 1807
berief der König eine Militär-Reorganisationskommission. Den Vorsitz übertrug
er dem Generalmajor von Scharnhorst, die Arbeit schrieb er der Kommission
in einem eigenhändigen Schriftstücke von neunzehn Punkten vor. Davon lauteten
die ersten beiden: „1. Wird man vor allen Dingen die Offiziere, so ihre
Schuldigkeit offenbar nicht gethan haben, vom Dienst ausschließen und nach
Umständen auf das Strengste zu bestrafen haben. 2. Solche, deren Betragen
zweifelhaft geblieben, zur Rechenschaft ziehen."

Die Größe der Aufgabe, die aus dieser Anordnung erwuchs, forderte eine
eigne Kommission. Die Neorganisationskommission entwarf eine Instruktion für
die Jmmediat-Untersuchungskommission und schlug dem König Offiziere als
Mitglieder der Kommission vor. Der König änderte den Entwurf der Dienst¬
anweisung und die Mitgliederauswahl wesentlich. Den Vorsitz übertrug er
seinen Brüdern, den Prinzen Heinrich und Wilhelm, und dem Generalleutnant
von L'Estocq. Am 6. Dezember 1807 ging die Kommission in Königsberg an
die Arbeit.

Schon die Sammlung und die Sichtung des Materials, das sich durch
die freiwilligen Rechtfertigungsschreiben der Offiziere und durch die Besprechung
der Kriegsereignisse in der Presse ergab, forderte viel Mühe und Zeit. Die
Presse brachte Anklagen und Verleumdungen, daher mußte sie auch Ver¬
teidigungen und Rechtfertigungen der Angegriffnen bringen. Broschüren und
Flugblätter dienten denselben Zwecken. Es war eine Zeit, wo der Wehrstand
geflissentlich herabgesetzt wurde. Blücher sprach diesen Preßstimmen fast jede
Glaubwürdigkeit ab, Major von Pirch, der ehemalige Adjutant des Fürsten
Hohenlohe. erhob gegen die Presse die Anklage: „alle ungünstigen Nachrichten
über Offiziere habe er nur aus den Zeitungen, die jetzt nur Schlechtes über Offi¬
ziere aufnehmen dürften". Der juristische Leiter der Untersuchungskommission,
Generalauditeur von Komm, traf das Richtige, indem er die Sammlung und
die Beiziehung aller Preßstimmen befürwortete, nicht „weil die oft sehr schiefen
und unberufenen Urteile der Skribenten besondere Rücksicht verdienen, sondern
weil in jenen Schriften Tatsachen und Anekdoten, selbst Rechtfertigungen, vor¬
kommen, die vielleicht der Erörterung wert sind".

Aus der Notwendigkeit, über einzelne belastete Offiziere mehrere Aussagen
zu hören, erwuchs eine neue schwierige Arbeit, die Ermittlung der Adressen
der Offiziere, von denen ein großer Teil infolge der Heeresverringerung ver¬
abschiedet, andre ausgewandert oder gefangen waren oder in den vom Feinde
besetzten Provinzen lebten. Schließlich mußte hierzu trotz der Abneigung des
Königs gegen dieses Verfahren die Presse in Anspruch genommen werden. Ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0190" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300689"/>
          <fw type="header" place="top">  Das preußische Vffizierkorvs von 1^306 im Lichte neuer Forschungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_759"> Die Sühne, die durch diesen Erlaß des Königs eingeleitet wurde, bildet<lb/>
einen Teil der Heeresreorganisation, die der König unmittelbar nach der Nieder¬<lb/>
lage auf dem Rückzug begonnen hatte. Durch die alle Kräfte in Anspruch<lb/>
nehmenden Kämpfe des Jahres 1307 wurde die Reorganisation verzögert.<lb/>
Wenige Wochen nach dem Abschlüsse des Friedens zu Tilsit, am 27. Juli 1807<lb/>
berief der König eine Militär-Reorganisationskommission. Den Vorsitz übertrug<lb/>
er dem Generalmajor von Scharnhorst, die Arbeit schrieb er der Kommission<lb/>
in einem eigenhändigen Schriftstücke von neunzehn Punkten vor. Davon lauteten<lb/>
die ersten beiden: &#x201E;1. Wird man vor allen Dingen die Offiziere, so ihre<lb/>
Schuldigkeit offenbar nicht gethan haben, vom Dienst ausschließen und nach<lb/>
Umständen auf das Strengste zu bestrafen haben. 2. Solche, deren Betragen<lb/>
zweifelhaft geblieben, zur Rechenschaft ziehen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_760"> Die Größe der Aufgabe, die aus dieser Anordnung erwuchs, forderte eine<lb/>
eigne Kommission. Die Neorganisationskommission entwarf eine Instruktion für<lb/>
die Jmmediat-Untersuchungskommission und schlug dem König Offiziere als<lb/>
Mitglieder der Kommission vor. Der König änderte den Entwurf der Dienst¬<lb/>
anweisung und die Mitgliederauswahl wesentlich. Den Vorsitz übertrug er<lb/>
seinen Brüdern, den Prinzen Heinrich und Wilhelm, und dem Generalleutnant<lb/>
von L'Estocq. Am 6. Dezember 1807 ging die Kommission in Königsberg an<lb/>
die Arbeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_761"> Schon die Sammlung und die Sichtung des Materials, das sich durch<lb/>
die freiwilligen Rechtfertigungsschreiben der Offiziere und durch die Besprechung<lb/>
der Kriegsereignisse in der Presse ergab, forderte viel Mühe und Zeit. Die<lb/>
Presse brachte Anklagen und Verleumdungen, daher mußte sie auch Ver¬<lb/>
teidigungen und Rechtfertigungen der Angegriffnen bringen. Broschüren und<lb/>
Flugblätter dienten denselben Zwecken. Es war eine Zeit, wo der Wehrstand<lb/>
geflissentlich herabgesetzt wurde. Blücher sprach diesen Preßstimmen fast jede<lb/>
Glaubwürdigkeit ab, Major von Pirch, der ehemalige Adjutant des Fürsten<lb/>
Hohenlohe. erhob gegen die Presse die Anklage: &#x201E;alle ungünstigen Nachrichten<lb/>
über Offiziere habe er nur aus den Zeitungen, die jetzt nur Schlechtes über Offi¬<lb/>
ziere aufnehmen dürften". Der juristische Leiter der Untersuchungskommission,<lb/>
Generalauditeur von Komm, traf das Richtige, indem er die Sammlung und<lb/>
die Beiziehung aller Preßstimmen befürwortete, nicht &#x201E;weil die oft sehr schiefen<lb/>
und unberufenen Urteile der Skribenten besondere Rücksicht verdienen, sondern<lb/>
weil in jenen Schriften Tatsachen und Anekdoten, selbst Rechtfertigungen, vor¬<lb/>
kommen, die vielleicht der Erörterung wert sind".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_762" next="#ID_763"> Aus der Notwendigkeit, über einzelne belastete Offiziere mehrere Aussagen<lb/>
zu hören, erwuchs eine neue schwierige Arbeit, die Ermittlung der Adressen<lb/>
der Offiziere, von denen ein großer Teil infolge der Heeresverringerung ver¬<lb/>
abschiedet, andre ausgewandert oder gefangen waren oder in den vom Feinde<lb/>
besetzten Provinzen lebten. Schließlich mußte hierzu trotz der Abneigung des<lb/>
Königs gegen dieses Verfahren die Presse in Anspruch genommen werden. Ein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0190] Das preußische Vffizierkorvs von 1^306 im Lichte neuer Forschungen Die Sühne, die durch diesen Erlaß des Königs eingeleitet wurde, bildet einen Teil der Heeresreorganisation, die der König unmittelbar nach der Nieder¬ lage auf dem Rückzug begonnen hatte. Durch die alle Kräfte in Anspruch nehmenden Kämpfe des Jahres 1307 wurde die Reorganisation verzögert. Wenige Wochen nach dem Abschlüsse des Friedens zu Tilsit, am 27. Juli 1807 berief der König eine Militär-Reorganisationskommission. Den Vorsitz übertrug er dem Generalmajor von Scharnhorst, die Arbeit schrieb er der Kommission in einem eigenhändigen Schriftstücke von neunzehn Punkten vor. Davon lauteten die ersten beiden: „1. Wird man vor allen Dingen die Offiziere, so ihre Schuldigkeit offenbar nicht gethan haben, vom Dienst ausschließen und nach Umständen auf das Strengste zu bestrafen haben. 2. Solche, deren Betragen zweifelhaft geblieben, zur Rechenschaft ziehen." Die Größe der Aufgabe, die aus dieser Anordnung erwuchs, forderte eine eigne Kommission. Die Neorganisationskommission entwarf eine Instruktion für die Jmmediat-Untersuchungskommission und schlug dem König Offiziere als Mitglieder der Kommission vor. Der König änderte den Entwurf der Dienst¬ anweisung und die Mitgliederauswahl wesentlich. Den Vorsitz übertrug er seinen Brüdern, den Prinzen Heinrich und Wilhelm, und dem Generalleutnant von L'Estocq. Am 6. Dezember 1807 ging die Kommission in Königsberg an die Arbeit. Schon die Sammlung und die Sichtung des Materials, das sich durch die freiwilligen Rechtfertigungsschreiben der Offiziere und durch die Besprechung der Kriegsereignisse in der Presse ergab, forderte viel Mühe und Zeit. Die Presse brachte Anklagen und Verleumdungen, daher mußte sie auch Ver¬ teidigungen und Rechtfertigungen der Angegriffnen bringen. Broschüren und Flugblätter dienten denselben Zwecken. Es war eine Zeit, wo der Wehrstand geflissentlich herabgesetzt wurde. Blücher sprach diesen Preßstimmen fast jede Glaubwürdigkeit ab, Major von Pirch, der ehemalige Adjutant des Fürsten Hohenlohe. erhob gegen die Presse die Anklage: „alle ungünstigen Nachrichten über Offiziere habe er nur aus den Zeitungen, die jetzt nur Schlechtes über Offi¬ ziere aufnehmen dürften". Der juristische Leiter der Untersuchungskommission, Generalauditeur von Komm, traf das Richtige, indem er die Sammlung und die Beiziehung aller Preßstimmen befürwortete, nicht „weil die oft sehr schiefen und unberufenen Urteile der Skribenten besondere Rücksicht verdienen, sondern weil in jenen Schriften Tatsachen und Anekdoten, selbst Rechtfertigungen, vor¬ kommen, die vielleicht der Erörterung wert sind". Aus der Notwendigkeit, über einzelne belastete Offiziere mehrere Aussagen zu hören, erwuchs eine neue schwierige Arbeit, die Ermittlung der Adressen der Offiziere, von denen ein großer Teil infolge der Heeresverringerung ver¬ abschiedet, andre ausgewandert oder gefangen waren oder in den vom Feinde besetzten Provinzen lebten. Schließlich mußte hierzu trotz der Abneigung des Königs gegen dieses Verfahren die Presse in Anspruch genommen werden. Ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/190
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/190>, abgerufen am 23.07.2024.