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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Tiflis

Leichenzug im Geschwindschritt vor uns durch dieses Labyrinth bewegte. Der
Naturfreund bekommt in der vollzähligen Sammlung kaukasischer Bäume und
Pflanzen, die zum Teil schon in bunter Vlutenpracht prangten, viel Anregung
und Gelegenheit zu gründlicher Orientierung -- die kaukasische Flora ist ebenso
verschieden wie die Bodengestaltung und das Klima des Landes. Andre Besucher
finden mehr Genugtuung in dem Beschauen der darüber liegenden Festungsruine
und in dem Blick vom Festungsberg auf die unter ihm liegende Stadt. Großartiger
noch ist das Panorama von der höchsten Höhe des das Davidskloster tragenden
Berges im Westen der Nussenstadt. Mühsam, steil und von dem Rest der Schnee¬
schmelze noch schlüpfrig war der Pfad, auf dem wir im Zickzack bis zu einer
Höhe von 670 Metern, 216 Meter über Tiflis, emporklettern mußten, da die
inzwischen eröffnete Drahtseilbahn*) nach einigen mißglückter Probefahrten noch
mehrerer Umbauten bedürfte. Zum Teil auf Viadukten mit wohl 40, oben sogar
60 Grad Steigung erbaut, führt sie in schnurgerader Richtung in ein einfaches
Restaurant auf der Höhe und ermöglicht nach wenig Minuten zu schauen, was
wir uns im Schweiße unsers Angesichts, angetan mit dem diesesmal recht un¬
bequemen Pelz, verdienen mußten. Wir wurden jedoch ganz besonders belohnt:
nochmals lud uns der zweigipflige Kasbek im goldroter Abendsonnenschein zum
Besuche, und glänzend lag das schneebedeckte Massiv des Großen Kaukasus in
langer Kette uns gegenüber. Drunten im schmalen Tal der Kura zog sich die
kaukasische Hauptstadt mehr als acht Kilometer lang hin von dem Muschtaidpark
im Nordwesten noch hinaus über die schmale Pforte, die der Festungsberg mit
den Ruinen der alten persischen Zwingburg einerseits und die Höhe mit dem
Melech, dem grusischen Kaiserschloß, andrerseits der stark fallenden Kura offen
lassen. Deutlich unterschied sich die regelmüßig angelegte deutsche Stadt jenseits
der Kura am Bahnhof von den grünen Dächern und dem großen Gebäudekomplex
von der um das Generalgouvernement herum gruppierten Russenstadt auf dem
rechten Kuraufer. Diese geht am Eriwanplatz in die persisch-armenische Basarstadt
mit ihrem unübersichtlichen Gewirr von Straßen, Sträßchen und Sackgassen über.
Am Melech aber, durch die Maidan- und Metechbrücke mit dem Basar ver¬
bunden, beginnen die fast ebenso engen grusischen Quartiere, deren Häuser in
eintönig grauer Farbe dem Stadtteil wenig Ansehen geben, aber alle mit Balkons
geschmückt sind. Man würde übrigens fehlgehn, wenn man die Nationalitütenfrage
in Tiflis so einfach gelöst ansahe. Wie im ganzen Kaukasus, so verwischen sich auch
hier die Grenzen, und es entsteht bei der Russenstadt schon ein Durcheinander,
das wie in Konstantinopel einen Hauptreiz des Straßenlebens ausmacht.

Unser erster Ausgang führte uns in die orientalischen Stadtteile. Man
biegt vom Eriwanplatz in die Armjcmskibasarstraße ein und bahnt sich nun
bergauf bergab, an dunkeln Sackgasseneingüngen vorüber ziemlich mühsam seinen
Weg. Hier und da öffnet sich ein Loch, das sich bei näherm Zusehen als



486 Meter lang und durch einen französischen Ingenieur für 280000 Rubel erbaut.
Tiflis

Leichenzug im Geschwindschritt vor uns durch dieses Labyrinth bewegte. Der
Naturfreund bekommt in der vollzähligen Sammlung kaukasischer Bäume und
Pflanzen, die zum Teil schon in bunter Vlutenpracht prangten, viel Anregung
und Gelegenheit zu gründlicher Orientierung — die kaukasische Flora ist ebenso
verschieden wie die Bodengestaltung und das Klima des Landes. Andre Besucher
finden mehr Genugtuung in dem Beschauen der darüber liegenden Festungsruine
und in dem Blick vom Festungsberg auf die unter ihm liegende Stadt. Großartiger
noch ist das Panorama von der höchsten Höhe des das Davidskloster tragenden
Berges im Westen der Nussenstadt. Mühsam, steil und von dem Rest der Schnee¬
schmelze noch schlüpfrig war der Pfad, auf dem wir im Zickzack bis zu einer
Höhe von 670 Metern, 216 Meter über Tiflis, emporklettern mußten, da die
inzwischen eröffnete Drahtseilbahn*) nach einigen mißglückter Probefahrten noch
mehrerer Umbauten bedürfte. Zum Teil auf Viadukten mit wohl 40, oben sogar
60 Grad Steigung erbaut, führt sie in schnurgerader Richtung in ein einfaches
Restaurant auf der Höhe und ermöglicht nach wenig Minuten zu schauen, was
wir uns im Schweiße unsers Angesichts, angetan mit dem diesesmal recht un¬
bequemen Pelz, verdienen mußten. Wir wurden jedoch ganz besonders belohnt:
nochmals lud uns der zweigipflige Kasbek im goldroter Abendsonnenschein zum
Besuche, und glänzend lag das schneebedeckte Massiv des Großen Kaukasus in
langer Kette uns gegenüber. Drunten im schmalen Tal der Kura zog sich die
kaukasische Hauptstadt mehr als acht Kilometer lang hin von dem Muschtaidpark
im Nordwesten noch hinaus über die schmale Pforte, die der Festungsberg mit
den Ruinen der alten persischen Zwingburg einerseits und die Höhe mit dem
Melech, dem grusischen Kaiserschloß, andrerseits der stark fallenden Kura offen
lassen. Deutlich unterschied sich die regelmüßig angelegte deutsche Stadt jenseits
der Kura am Bahnhof von den grünen Dächern und dem großen Gebäudekomplex
von der um das Generalgouvernement herum gruppierten Russenstadt auf dem
rechten Kuraufer. Diese geht am Eriwanplatz in die persisch-armenische Basarstadt
mit ihrem unübersichtlichen Gewirr von Straßen, Sträßchen und Sackgassen über.
Am Melech aber, durch die Maidan- und Metechbrücke mit dem Basar ver¬
bunden, beginnen die fast ebenso engen grusischen Quartiere, deren Häuser in
eintönig grauer Farbe dem Stadtteil wenig Ansehen geben, aber alle mit Balkons
geschmückt sind. Man würde übrigens fehlgehn, wenn man die Nationalitütenfrage
in Tiflis so einfach gelöst ansahe. Wie im ganzen Kaukasus, so verwischen sich auch
hier die Grenzen, und es entsteht bei der Russenstadt schon ein Durcheinander,
das wie in Konstantinopel einen Hauptreiz des Straßenlebens ausmacht.

Unser erster Ausgang führte uns in die orientalischen Stadtteile. Man
biegt vom Eriwanplatz in die Armjcmskibasarstraße ein und bahnt sich nun
bergauf bergab, an dunkeln Sackgasseneingüngen vorüber ziemlich mühsam seinen
Weg. Hier und da öffnet sich ein Loch, das sich bei näherm Zusehen als



486 Meter lang und durch einen französischen Ingenieur für 280000 Rubel erbaut.
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[0164] Tiflis Leichenzug im Geschwindschritt vor uns durch dieses Labyrinth bewegte. Der Naturfreund bekommt in der vollzähligen Sammlung kaukasischer Bäume und Pflanzen, die zum Teil schon in bunter Vlutenpracht prangten, viel Anregung und Gelegenheit zu gründlicher Orientierung — die kaukasische Flora ist ebenso verschieden wie die Bodengestaltung und das Klima des Landes. Andre Besucher finden mehr Genugtuung in dem Beschauen der darüber liegenden Festungsruine und in dem Blick vom Festungsberg auf die unter ihm liegende Stadt. Großartiger noch ist das Panorama von der höchsten Höhe des das Davidskloster tragenden Berges im Westen der Nussenstadt. Mühsam, steil und von dem Rest der Schnee¬ schmelze noch schlüpfrig war der Pfad, auf dem wir im Zickzack bis zu einer Höhe von 670 Metern, 216 Meter über Tiflis, emporklettern mußten, da die inzwischen eröffnete Drahtseilbahn*) nach einigen mißglückter Probefahrten noch mehrerer Umbauten bedürfte. Zum Teil auf Viadukten mit wohl 40, oben sogar 60 Grad Steigung erbaut, führt sie in schnurgerader Richtung in ein einfaches Restaurant auf der Höhe und ermöglicht nach wenig Minuten zu schauen, was wir uns im Schweiße unsers Angesichts, angetan mit dem diesesmal recht un¬ bequemen Pelz, verdienen mußten. Wir wurden jedoch ganz besonders belohnt: nochmals lud uns der zweigipflige Kasbek im goldroter Abendsonnenschein zum Besuche, und glänzend lag das schneebedeckte Massiv des Großen Kaukasus in langer Kette uns gegenüber. Drunten im schmalen Tal der Kura zog sich die kaukasische Hauptstadt mehr als acht Kilometer lang hin von dem Muschtaidpark im Nordwesten noch hinaus über die schmale Pforte, die der Festungsberg mit den Ruinen der alten persischen Zwingburg einerseits und die Höhe mit dem Melech, dem grusischen Kaiserschloß, andrerseits der stark fallenden Kura offen lassen. Deutlich unterschied sich die regelmüßig angelegte deutsche Stadt jenseits der Kura am Bahnhof von den grünen Dächern und dem großen Gebäudekomplex von der um das Generalgouvernement herum gruppierten Russenstadt auf dem rechten Kuraufer. Diese geht am Eriwanplatz in die persisch-armenische Basarstadt mit ihrem unübersichtlichen Gewirr von Straßen, Sträßchen und Sackgassen über. Am Melech aber, durch die Maidan- und Metechbrücke mit dem Basar ver¬ bunden, beginnen die fast ebenso engen grusischen Quartiere, deren Häuser in eintönig grauer Farbe dem Stadtteil wenig Ansehen geben, aber alle mit Balkons geschmückt sind. Man würde übrigens fehlgehn, wenn man die Nationalitütenfrage in Tiflis so einfach gelöst ansahe. Wie im ganzen Kaukasus, so verwischen sich auch hier die Grenzen, und es entsteht bei der Russenstadt schon ein Durcheinander, das wie in Konstantinopel einen Hauptreiz des Straßenlebens ausmacht. Unser erster Ausgang führte uns in die orientalischen Stadtteile. Man biegt vom Eriwanplatz in die Armjcmskibasarstraße ein und bahnt sich nun bergauf bergab, an dunkeln Sackgasseneingüngen vorüber ziemlich mühsam seinen Weg. Hier und da öffnet sich ein Loch, das sich bei näherm Zusehen als 486 Meter lang und durch einen französischen Ingenieur für 280000 Rubel erbaut.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/164>, abgerufen am 23.07.2024.